Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschte Aufbruchstimmung in der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Staatsmacht war vorbei, die Kirche konnte und wollte wieder eine Rolle spielen in der Gesellschaft, auch als kritische Instanz gegenüber dem Staat. In der Tat hat sie sich inzwischen zu einer gewichtigen Stimme in Russland entwickelt. Laut Umfragewerten genießt die Russisch-Orthodoxe Kirche mehr Vertrauen in der Gesellschaft als die Presse, die Duma oder gar die Regierung von Dimitri Medwedew.
Das von Manchen erhoffte Gegengewicht zur Staatsmacht wurde sie allerdings nicht. Maxim Trudoljubow beschreibt auf InLiberty seine enttäuschten Hoffnungen.
Ich erinnere mich noch: Als ich Ende der 1980er Jahre an der Moskauer Architektur-Universität anfing zu studieren, war sie teilweise noch in den Heiligtümern des ehemaligen Mariä-Geburts-Klosters untergebracht. Im Schwesternflügel, eingeschossig und feucht, war das Studentenwohnheim. In der Kirche des Heiligen Nikolaus, am anderen Ende des Klostergeländes, besuchte ich Vorbereitungskurse – wir zeichneten Gipsplastiken ab.
Später erinnere ich mich, wie wir Erstsemestler (die meisten waren allerdings Philologen und keine Architekten) uns zu einer damals noch gesetzlich erforderlichen Zwanziger-Schar zusammenfanden: Wir füllten beim Exekutivkomitee irgendwelche Formulare aus und eröffneten dann eine Kirche, eine der ältesten Kirchen Moskaus – die Mariä-Geburts-Kirche in eben diesem Kloster.
Hätte es damals schon Soziale Netzwerke gegeben, wären sie sicherlich voll gewesen mit Nachrichten über Wiedereröffnungen von Kirchen, Streitereien mit der Regierung, mit Debatten über die Rückgabe enteigneter Kirchengüter sowie über die Umsetzung der Beschlüsse des Landeskonzils von 1917/1918.
Heute sehe ich in meinem Newsfeed haufenweise Beiträge von Menschen, die von einer Zeitung zur nächsten oder von einem Medienlager ins andere wechseln, sich permanent gegenseitig beschimpfen, aber sich dennoch als Gemeinschaft empfinden. Damals sah ich etwas ganz Ähnliches: Es wurde lebhaft und leidenschaftlich diskutiert, allerdings in der analogen Welt und zwar im kirchlichen Umfeld.
Luken, die in die Freiheit führen
Portale in eine andere Wirklichkeit gab es damals in Form von berühmten Kirchen mitten in der Stadt: Ohne großen Aufwand konnte jeder junge Mensch unbekanntes Terrain betreten und dort Luken finden, die über seine Grenzen hinausführen – aber auch über den Schulunterricht, über Teenagerkonflikte und über die starre, gut gefestigte Sowjetrealität hinaus. Das eröffnete unvergleichliche Freiheiten.
Schon fast peinlich ist es mir heute, aber ich war damals fest davon überzeugt, dass sich die Kirche gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion „auf die Seite des Volkes stellen“ würde. Das klingt heute so seltsam, dass ich mir diesen neophytischen Irrtum selbst nur schwer erklären kann.
Ich dachte zum Beispiel, dass sich Gemeinden entwickeln und starke, unabhängige Stimmen der Kirche erklingen würden. Dass eine Kraft entstehen würde, die die politischen Machthaber durch ihre Autorität zurechtweisen könnte, sollten diese bei Privatisierungen oder Kriegen Gewissen und Anstand verlieren. Die eintreten würde für die Erniedrigten und Beleidigten und die Strafgefangenen. Mit anderen Worten: Ich dachte, dass es jemanden geben würde, der dem Staat von oben auf die Finger schaut.
Aber nein, daraus wurde nichts. Schon bald wurde mir klar, dass ich zu viel über Polen und Chile gelesen hatte, wo zumindest ein Teil der einflussreichen kirchlichen Würdenträger gemeinsam mit dem Volk einen moralischen Widerstand gegen den wahnsinnig gewordenen Staat bildete, und zwar unabhängig von der Ideologie – in dem einen Fall war der Staat radikal links, im anderen radikal rechts.
Effektiver als der Staat
Als ich in sehr jungen Jahren in die Kirche kam, wurden der Glaube und die Möglichkeit des Gedankenaustauschs mit anderen Gläubigen meine Freiheit. Heute, 25 Jahre später, fühlt sich die Wiedereröffnung einer Kirche nicht mehr an, als würde man eine Kirche wiedereröffnen – die Freude fehlt.
Ebenfalls heute, 25 Jahre später, bietet die Kirche jungen Menschen eine Möglichkeit der Befreiung, allerdings nicht über die Eröffnung von Kirchen und das Gemeindeleben, sondern über den Protest.
Nach dem aufsehenerregenden Prozess gegen die jungen Frauen von Pussy Riot, die in der Kirche wild getanzt hatten, wurde eine neue Gesetzesgrundlage geschaffen, und langsam beginnt sie zu wirken.
Der Videoblogger Ruslan Sokolowski, der sich mehr als einmal Ausfälle gegen die Kirche erlaubt hatte, wurde im letzten Jahr des Extremismus und der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs von Pokemon Go hatte sich der 22-Jährige auf Pokemonjagd in eine der Kathedralen von Jekaterinburg begeben und es in einem Video festgehalten. Ein Lokaljournalist schrieb daraufhin einen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem er den Organen nahelegte, sich dieses Material anzusehen. Solokowski ist seit September [2016 – dek] in Untersuchungshaft und wartet auf die Entscheidung des Gerichts.
Im November kam es in Moskau zu Schau-Festnahmen von Teilnehmern einer Mahnwache zum Schutz des Torfjanka-Parks. Sie hatten dagegen protestiert, dass dort eine orthodoxe Kirche gebaut wird. Man drohte ihnen mit Strafverfolgung wegen Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und wegen der Verletzung religiöser Gefühle. Angestoßen wurden die Ermittlungen durch Anzeigen von Mitgliedern der orthodoxen Bewegung Vierzig mal vierzig.
Gerade läuft ein Prozess gegen einen Mann aus Stawropol, der beschuldigt wird, in einem Sozialen Netzwerk die religiösen Gefühle seiner Diskussionspartner verletzt zu haben.
Erst vor kurzem wurde ein Student aus Orenburg der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Wie die Ortsmedien berichten, habe der junge Mann mittlerweile „vor dem Kirchenvorsteher Buße getan“ (hier wurden offenbar die Instanzen vertauscht: man muss nun vor dem Kirchenvorsteher Buße tun und nicht vor Gott), habe sich bei den Christen im Netz entschuldigt und sei beim weltlichen Gericht mit einer Geldstrafe von 5000 Rubel [etwa 80 Euro – dek] davongekommen.
Ende letzten Jahres wurde der Programmierer und Yoga-Lehrer Dimitri Ugai der gesetzeswidrigen Missionstätigkeit (nach dem Jarowaja-Gesetz) angeklagt. Man verhaftete ihn letzten Oktober mitten in einem Vortrag, im Januar kam sein Prozess vor das Friedensgericht. Die nächste Verhandlung findet in wenigen Tagen statt.
Man ist geneigt, diese Vorgänge für eine organisierte Kampagne gegen Andersdenkende zu halten. Aber es scheint komplizierter zu sein. Die Geschichte mit Pussy Riot hätte auch eine Welle von Nachahmungen auf verschiedensten Ebenen nach sich ziehen können – so etwas kommt in Russland vor – aber bisher blieb eine Strafprozess-Flut aus.
Prozesse als Folge von Denunziationen
Eine klassische, „von oben“ organisierte Kampagne führen Moskaus Politmanager in diesem Fall wohl nicht. Die obengenannten Prozesse sind allesamt aus der Initiative von Bürgern hervorgegangen oder ganz einfach gesagt: Sie sind die Folge von Denunziationen. Im Fall Sokolowski, im Fall Krasnow, im Torfjanka-Prozess genauso wie in allen anderen Fällen wurden die Anzeigen auf Initiative einzelner Personen erstattet. Im Fall des verhafteten Yogis brachte der Denunziant, der angeblich selbst einmal Opfer einer exotischen Sekte geworden war, den Beamten den Text des Jarowaja-Gesetzes mit und erklärte ihnen sogar, wie sie weiter vorgehen sollen.
In der Tat arbeitet die Zivilgesellschaft in Fällen von beleidigten Gefühlen wesentlich effektiver als der Staat, und nicht nur dort: Die Beamten haben das Jarowaja-Gesetz noch nicht einmal richtig gelesen, während die Bürger es längst eingehend studiert haben. Diese Entwicklung könnte man auch einfach als Förderung von Denunziantentum bezeichnen oder man nennt es „horizontales Enforcement“.
Der Mensch ist ein freies und ein kompliziertes Wesen. Man weiß nie, in welche Richtung es ihn plötzlich zieht. Manchmal hat man den Eindruck, dass die offiziellen Mitarbeiter der kirchlichen Sphäre gar nicht mehr tun können, als den Menschen, allen Menschen, subtil Gründe an die Hand zu geben, richtig zu handeln, das Beste im Menschen zum Vorschein zu bringen. Menschen Gründe an die Hand zu geben, einander zu denunzieren, ist das genaue Gegenteil.
Aber was soll man machen? So will es nun mal die weise Politik, und sie ist immerhin besser als die Politik, alle ins Gefängnis zu werfen. Die Aufsicht über die Bürger wurde komplett an die Sozialen Netzwerke abgetreten, und zwar nicht nur in Fragen von religiösen Gefühlen. Wozu sollte man auch tausende Leute anstellen und dafür bezahlen, dass sie die Bürger überwachen, wenn man sich vollständig auf beinahe freiwillige Mitglieder von befreundeten Organisationen verlassen kann, die von befreundeten Fonds finanziert werden.
Wozu Gelder aus der Staatskasse aufwenden?
Totalitarismus ist ein kostspieliges Regime: Alles muss der Staat selbst erledigen. Moderne autoritäre Systeme, darunter auch Russland, sind viel klüger. Wozu sollte man etwas aus der Staatskasse bezahlen, wenn man es auch über Belohnung, Preise und Trophäen regeln kann. Menschen, die eine Polizei-Funktion erfüllen, müssen nicht im Dienst der Polizei oder der Kirche stehen. Es genügt, wenn sie Abgesandte oder Steuerpächter sind, sprich Menschen, die im Namen des Staates Steuern eintreiben.
Das Geniale an diesem Trick ist, dass der Staat noch so klein und sparsam sein kann, es gibt dennoch niemanden, der von oben auf ihn schauen könnte. Denn alle sind seine Pächter – keine gleichgestellten Partner, und schon gar keine Widersacher.
Selbst der potenziell am besten geeignete Kandidat für diese Rolle, die Kirche, kann sie nicht erfüllen. Wirklich seltsam, wie ich vor 25 Jahren denken konnte, dass nicht nur die Kirche, sondern auch die Kunst und die bürgerlichen Kräfte zutage treten und den Staat durch ihr Bestehen in die Schranken weisen würden. Dass unabhängige Gemeinden vom Sockel der Tradition und der Erfahrung des katastrophalen 20. Jahrhunderts auf den Staat blicken würden.
Aber wie sich herausgestellt hat, gibt es niemanden, der so von oben auf den Staat schauen könnte. Alle brauchen und wollen, dass er ihnen etwas zuteilt oder sie an die nächste Kreuzung stellt, damit sie dort Geld eintreiben.