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Verhütete Verhüterli

Man kann ohne Umschweife verraten, wie die Geschichte in dem kleinen Ort Bogoljubowo ausgegangen ist: Die Bewohner haben einen Sieg errungen. Ein großer Investor, den sie vertrieben haben, wollte dort im Hinterland von Moskau eigentlich knapp 200 Arbeitsplätze schaffen. Als bekannt wurde, was produziert werden soll, rief das orthodoxe Gläubige auf den Plan. Zu pikant schien das für ein Dorf, dessen Kloster Pilger aus dem ganzen Land anzieht und mit der Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche ein weltbekanntes Gotteshaus vor seinen Toren hat.

Für Kommersant-Dengi ist Alexej Bojarski nach Bogoljubowo gefahren, um den Tumult zu begleiten, den es darum gab – und der sogar in internationalen Medien Beachtung fand. Seiner Reportage stellte Bojarski voran: „Allerdings sind nicht so sehr die Proteste der Gläubigen interessant, sondern der Umstand an sich, dass der Unternehmer ebenso wie die lokale Politikerelite überhaupt in Dialog mit ihnen getreten sind.“

Quelle Kommersant-Dengi

Etwa 200 Kilometer östlich von Moskau, Oblast Wladimir, im Dorf Bogoljubowo. Laut Volkszählung von 2010 hat das Dorf rund 5000 Einwohner. Entlang der Lenin-Straße (wie es sich gehört, ist das die Hauptstraße) sind wohl sämtliche hiesige Sehenswürdigkeiten versammelt: das Bogoljubower Muttergottes-Geburtskloster und eine alte Ziegelfabrik; irgendwo dazwischen liegt das triste zweistöckige Gebäude der Dorfverwaltung. Ein einsamer Passant rutscht direkt vor meinen Augen aus und stürzt – wüst Mat fluchend – auf dem vereisten Gehweg hin. Kaum aufgestanden, blickt er zu den Kuppeln hoch und bekreuzigt sich.

Es heißt, das berühmte Kloster sei ein Anziehungsort für Pilger aus dem ganzen Land. Heute sind die Pilger allerdings vor dem Verwaltungsgebäude zu beobachten. Der Presseandrang ist wie bei einer Demo der Opposition: Minivans landesweiter und regionaler TV-Sender, Kameramänner, Korrespondenten mit Diktiergeräten, dazu ein hiesiger Videoblogger mit professionell zusammengekniffenem Auge und Selfiestick. Zum Gebäude strömt höchst unterschiedliches Publikum: graubärtige Männer, alte Frauen mit Wolltüchern, Nonnen in schwarzen Kutten, Frauen unbestimmten Alters mit einem Gesichtsausdruck von Erleuchtung.

Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0

„Treten Sie bitte durch, und Sie, Mütterchen, hier entlang, bitte.“ Eine Frau im Pullover, sie hat sich als Lokalabgeordnete Olessja Paschtschenko vorgestellt, lenkt den Menschenstrom, der in einen Sitzungssaal mit großem Tagungstisch drängt. „Meine Damen und Herren Journalisten, Bürger von Bogoljubowo, kommen Sie, kommen Sie!“

Am Tisch nehmen Vertreter der lokalen Regierungsbehörde Platz: der Leiter der Dorfverwaltung, die stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung, der Vorsitzende des kommunalen Abgeordnetenbeirats. Außerdem zwei Damen in Kleidern wie Anfang des vorigen Jahrhunderts: die eine, mit stilisiertem schwarzem Barrett und Bluse, erinnert an eine Lehrerin aus Filmen über die Revolution, die andere mit Hütchen und Tüllschleier an eine feine Großstadtdame aus der gleichen Epoche.

Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko führt einen jungen, erkahlenden Mann in gutem Anzug zum Platz des Vorsitzenden – es ist der Eigentümer des Unternehmens Bergus Pawel Spitschakow. Sitzen will der Geschäftsmann nicht und quetscht sich stattdessen zwischen die zwei Flaggen unter dem Doppeladler. Ein Lachen scheint er sich dabei nur schwer verkneifen zu können. Dorfbewohner und Presseleute verteilen sich vor dem Tisch. Eins zu eins wie bei einer Disziplinarverhandlung vor der Gewerkschaftsversammlung. Nur dass nicht Lenin milde von der Wand herabblickt, sondern Wladimir Putin aus den Tagen seiner ersten Amtszeit.

„Die Einwohner des Dorfes Bogoljubowo werden gebeten darzulegen, worauf sich die negative Einstellung zu dem Unternehmen gründet“, beginnt die Dienstälteste zu sprechen, Tatjana Sribnaja, stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung. „Das Unternehmen ist absolut harmlos und vom Gesundheitsministerium der Russischen Föderation genehmigt.“ Aus der Menge ertönt es laut: „Dann erzählen Sie mal, erzählen Sie den Leuten, was die an unserem heiligen Ort produzieren wollen!“

Und was will man hier wohl produzieren? Worum wird hier trotz Genehmigung durch das Gesundheitsministerium so ein Bohei gemacht? Um irgendetwas Radioaktives? „Kinderwindeln und Heftpflaster“, setzt der nun ernstere Geschäftsmann zum Bericht an und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ab 2018 ist außerdem die Produktion von Latexartikeln geplant, darunter Verhütungsmittel.“ „Lümmeltüten aus Bogoljubowo!“, johlt jemand hinter mir.

Eine Milliarde Kondome für die Heimat

Etwa 800 Meter vom Kloster entfernt steht eine alte Ziegelfabrik. Eine ehemalige, muss man mittlerweile sagen, denn vor ein paar Monaten haben die Eigentümer entschieden, das Unternehmen zu schließen und das Gelände samt Werkshallen zu verkaufen. 200 Menschen standen vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes – für eine Ortschaft mit nur 5000 Einwohnern eine ernste Sache. Aber wie sich bald herausstellte, will der neue Eigentümer nun etwa genauso viele Arbeitsplätze schaffen.

Roman Komow, Assistent von Investor Pawel Spitschakow, führt die Journalisten durch die Werkshallen, wo gerade die ehemaligen Anlagen abgebaut werden. Es stellt sich heraus, dass der Bergus-Besitzer quasi von hier ist: Ihm gehört das Unternehmen KIT (Kompanija innowazionnych technologiGesellschaft für innovative Technologien) in Wladimir, das Kopfhauben, Mundschutz, Überziehschuhe und Präservative herstellt. Laut Komow ist KIT der Marktführer bei Einwegmundschutz, sein Marktanteil liege bei 40 Prozent der gesamtrussischen Produktion. Der neue Standort sei notwendig für die Expansion des Unternehmens: In Bogoljubowo werde man Windeln der Marke Lelja herstellen, eine breite Palette an Heftpflastern, und außerdem werde die Produktion der Präservative Torex und Gladiator hierhin verlegt.

Ich für meinen Teil habe von einheimischen Kondomen lange nichts mehr gehört. In der Sowjetunion stellte man das „Gummi-Erzeugnis Nr. 2“ her (vor allem in der bekannten Fabrik in Bakowka), erst in den 1980er Jahren trat das Latex-Kondom an seine Stelle. Im Laufe der letzten 20 Jahre hat es mehrere Versuche gegeben, heimische Marken auf den Binnenmarkt zu bringen: Wanka-Wstanka [dt. etwa Stehaufmännchen], Gussarskije und so weiter. Hergestellt wurde die Ware allerdings in China und Thailand. Auf die Ladentische gelangten dann die Produkte der Serpuchower Fabrik Elastomer (Marke Reflex) und verschwanden auch wieder. Der einzig nennenswerte einheimische Hersteller ist heute das Gummiwerk in Armawir, das die Präservative der Marke Eros produziert.

Nun soll Bogoljubowo zum Zentrum der heimischen Kondomindustrie werden. Roman Komow sagt, Torex und Gladiator seien in Wladimir bisher quasi nur als Testreihe hergestellt worden; für den neuen Standort schaffe man Maschinen mit einer Produktionskraft von über 120 Millionen Stück pro Jahr an.

„Das genaue Volumen des Kondommarktes in Russland ist unbekannt, aber, nehmen wir einmal an, es sind etwa eine Milliarde Stück pro Jahr“, schätzt Komow. „So gut wie alles davon ist Importware aus Südostasien und Deutschland.“ Er sagt, Bergus könne, die Konkurrenz mal außen vor gelassen, leicht den kompletten Import auf dem russischen Markt ersetzen. Von hier aus, aus Bogoljubowo.

Anfang November sickerten diese Pläne zu den hiesigen religiösen Aktivisten durch. Ein kollektives Protestschreiben ging an Präsident Putin und Patriarch Kirill. Die Gemeindeglieder der Klosterkirche empörten sich über den „extremen Zynismus, an einem heiligen Ort mit dem Namen Bogoljubowo eine Fabrik zur Herstellung von Artikeln zu bauen, die sich gegen die Geburt von Kindern richten“.

Das Schreiben wurde in der Lokalpresse zitiert, Nachrichtenagenturen griffen es auf. Und nun also haben die regionalen Behörden zur Klärung der Situation ein Treffen der Einwohner mit dem Eigentümer des Unternehmens organisiert.

Mit Bibel und Unterschriftenlisten

„Sind Sie gläubig? Getauft? Können Sie uns Ihr Kreuz zeigen? Zu welcher Gemeinde gehören Sie?“, der Fragenhagel, der auf den Unternehmer Spitschakow niedergeht, erinnert an die Aufnahmeprozedur in die Reihen der KPdSU. Spitschakow antwortet, er sei tief gläubiger orthodoxer Christ. Aber nicht aktiv. „Empfangen Sie Abendmahl und Sakramente von unserer orthodoxen Kirche?“ Das Volk lässt nicht locker. Der Geschäftsmann gerät ins Stocken.

„Er hat es doch erklärt, Freunde: Er ist passiver Orthodoxer!“, ruft hinter mir laut der Videoblogger. „Ich bin nicht passiv“, verteidigt sich der Unternehmer, „der Glaube lebt für mich im Herzen ... “ Es nützt nichts, man gab Spitschakow gleich zu verstehen, dass ihn bereits die Herstellung von Kondomen an sich als Unorthodoxen charakterisiert.

Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant

Eine Frau mit einer Bibel in der Hand tritt vor. „Dieses Buch sagt uns ganz eindeutig, was das für eine Ware ist, die Sie da herstellen wollen ...“, sie schlägt eine markierte Stelle auf, „Kapitel 38, 1. Buch Mose … ‚Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er seinen Samen auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem Herrn missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben.‘“

So zeigt die versammelte Menge, dass die gegen die Kondomfabrik Protestierenden tiefschürfende Gründe für die Ablehnung jeglicher Verhütungsmittel haben. Gleich hier, auf dem Tisch, wird dann auch eine Unterschriftenliste für ein Abtreibungsverbot ausgelegt.

Man fragt sich: Wenn die Bürger sich dermaßen gekränkt fühlen, weil neben dem heiligen Ort eine Präservativ-Fabrik entstehen soll, warum dulden sie dann zum Beispiel die Apotheke gleich gegenüber vom Kloster, die diese frevelhaften fremdländischen Artikel in großer Auswahl anbietet?

Die Position der Verhütungsgegner wird deutlich von der Dame im antiquierten Barrett vertreten: Tatjana Fadejewa, eine ehemalige Bauingenieurin, vierfache Großmutter und Inhaberin einer Boutique für handgefertigte Mode nach Schnittmustern aus dem 19. Jahrhundert. Weil Bogoljubowo ein Hort der Heiligkeit für Gläubige sei, dürfe man ihrer Meinung nach nicht zulassen, dass der Name auf Artikeln wie Klopapier oder Kondomen geführt werde – laut Gesetz muss „Dorf Bogoljubowo“ als Herstellungsort auf der Verpackung genannt werden. Soweit ich verstehe, ist Fadejewa die Initiatorin jenes Protestschreibens, mit dem alles begann.

Wie viele Menschen haben diesen Brief nun unterzeichnet? Einmal heißt es, gerade mal fünf Leute, dann ist von zweihundert die Rede, einige andere sprechen gar von tausend. Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko sagt, ein Teil der Unterschriften stamme von Leuten, die hier als Moskauer Datschniki bezeichnet werden – das sind religiöse Aktivisten, die sich ein Haus im Bogoljubower Umland gebaut haben. Die Dame mit dem Tüllschleierhütchen ist so eine, vor ein paar Jahren ist sie aus Moskau hergezogen.

„Ich bin zu allen Wählern persönlich hingegangen“, berichtet Olessja Paschtschenko auf der Versammlung. „Die Menschen sind belogen worden, ihnen wurde gesagt, das Unternehmen wäre gefährlich. Andere hatten noch überhaupt nichts von der Fabrik gehört, und sagten, sie würden liebend gern dort arbeiten, als sie davon erfuhren. Auch ich wurde einmal mit diesen Unterschriftenlisten angesprochen: Eine war gegen die Fabrik und die andere für die Errichtung eines Stalin-Denkmals.“

Irgendwann nimmt der Dialog zwischen Volk und Wirtschaft eine konstruktive Wendung: Man schlägt Pawel Spitschakow vor, er solle seine Kondom-Produktion an einen anderen Standort verlegen, außerhalb von Bogoljubowo, und die Gemeindeglieder erklären sich bereit, bei der Suche nach einem neuen Ort zu helfen. Aber da zeigt sich, dass es keinen Weg zurück gibt: In das Projekt sind bereits rund 300 Millionen Rubel [umgerechnet rund 4,7 Millionen Euro - dek.] geflossen – in den Erwerb des Geländes, die Instandsetzung und den Umbau der Räume, den Kauf der Anlagen.

„Also“, sagt Tatjana Sribnaja und fasst vor der Versammlung zusammen: „Wir haben den Projektleiter angehört, wir haben ihre Gegenmeinung angehört. Und jetzt macht jeder mit seiner Arbeit weiter. Das Unternehmen auf dem Gebiet von Bogoljubowo wird realisiert.“

Das Kloster – mächtiger Akteur im Hintergrund?

Auf den ersten Blick ist diese ganze Geschichte um den Protest reine PR. Sogar Tatjana Fadejewas Boutique hat ihren Happen abbekommen. Und was die Firma Bergus angeht, war das eine gewaltige Werbeaktion für ihre Präservative – das ganze Land kennt sie nun. In Anbetracht dessen, dass Roman Komow früher Journalist war, bin ich mir fast sicher, dass wir es hier mit einer gut geplanten Operation zu tun haben. Aber als Pawel Spitschakow plötzlich aufhört zu lächeln, während er den gläubigen Aktivisten Rede und Antwort steht, wird mir klar, dass die Situation tatsächlich gar nicht so witzig ist. Zu wirr sind unsere Zeiten, um über die zu lachen, die sie noch wirrer machen.

Das Gesetz ist auf der Seite des Unternehmers: Die Eröffnung eines ökologisch unbedenklichen Betriebs auf selbsterworbenem Industriegelände kann ihm niemand verbieten. Öffentliche Anhörungen zu solchen Fragen sind nicht einmal vorgesehen. Warum also haben die Behörden dieses Treffen mit den Verhütungsgegnern organisiert?

Hinter den gläubigen Aktivisten steht schweigend das Kloster, das nicht so einfach gestrickt ist. Mein Eindruck ist, dass die lokalen Behörden sogar etwas Angst vor ihm haben. Wieso auch nicht, schließlich konzentriert sich hier besonders viel Macht und Geld. Das kommunale Budget hat nach Aussage von Beamten allerdings wenig davon, denn das Kloster führt keine Steuern ab, und die pilgernden Touristen geben alles auf dem Klostergelände aus, sogar ein Hotel gibt es dort.

Im 19. Jahrhundert war in Bogoljubowo in einem der Klostergebäude ein Krankenhaus eröffnet worden, das unter der Sowjetherrschaft natürlich an den Staat überging. Das Kloster kämpfte viele Jahre lang um die Rückgabe des Objekts. Schließlich, im Jahr 2013, wurde das Krankenhaus geschlossen und das Gebäude dem Kloster zurückgegeben; dort befindet sich jetzt besagtes Hotel für die Pilger. Und die Dorfbewohner sind praktisch ohne medizinische Versorgung geblieben. „Vielleicht fiel das mit der Politik der Krankenhauskürzungen zusammen, aber Fragen zum Verhältnis von Staat und Kirche stehen weiter im Raum“, sagt mir einer der Einwohner von Bogoljubowo.           

In historischen Dokumenten geistert die Information herum, die Ziegelfabrik habe einst auch einen gewissen Bezug zum Kloster gehabt. Die hier lebenden Menschen schließen nicht aus, dass das Kloster einen bequemen Zeitpunkt wittert, sich die Fabrik einzuverleiben.

„Und wenn unsere Gouverneurin Orlowa Sie persönlich darum bitten würde, sich einen anderen Standort zu suchen?“, fragt der Videoblogger den Geschäftsmann bissig. Eine Antwort bekommt er nicht, aber eines wird deutlich: Diese Möglichkeit ist gar nicht so wahnwitzig, wenn man bedenkt, dass sich Unternehmer auf offizielle Wortgefechte mit Kondomgegnern einlassen.    

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Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Im zaristischen Russland waren staatliche und geistliche Macht stark miteinander verflochten. So wurden der Herrschaftsanspruch und die Legitimität des Zaren direkt von Gott abgeleitet und der neue Zar entsprechend in festlichen Gottesdiensten in sein Amt eingeführt. Administrativ war die Kirche Teil des Staatsapparats, so wurden etwa die Personenstandsakten von der Kirche geführt. Diese Privilegierung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) – auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften im multireligiösen Zarenreich – ging dabei Hand in Hand mit zahlreichen Eingriffen in innere Angelegenheiten der ROK. Maßgebliche Kreise der ROK begrüßten daher die Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 und sahen darin die Chance für eine größere Autonomie ihrer Kirche.

In der Sowjetunion versuchten die kommunistischen Machthaber zunächst, „fortschrittliche“ Geistliche, die teils für Kirchenreformen stritten, teils auch sozialistischen Ideen anhingen, gegen „reaktionäre“ Geistliche auszuspielen, bevor der Terror in den 1930er Jahren gleichermaßen Anhänger dieser sogenannten „Erneuererbewegung“ wie auch der Patriarchatskirche traf. Trotz dieser katastrophalen Erfahrungen riefen unmittelbar nach dem deutschen Überfall die wenigen überlebenden und noch in Freiheit befindlichen kirchlichen Würdenträger zur Verteidigung des – sowjetischen – Vaterlandes auf und initiierten Spendensammlungen.

Im Herbst 1943 revanchierte sich Stalin mit einer Neuausrichtung der staatlichen Kirchenpolitik, wobei auch außenpolitische Überlegungen zur Neugestaltung Europas maßgeblich waren und der ROK, wie auch anderen Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion, eine Rolle als außenpolitischer Akteur zugedacht wurde. Dies bedeutete, dass nach den massiven Angriffen und Verfolgungen die ROK nun wiederum zu einem Instrument staatlicher Politik wurde und entsprechend gesteuert werden musste.

So wurde im Herbst 1943 – nach mehrjähriger Vakanz – die Wiederwahl eines Patriarchen forciert und zugleich ein staatlicher „Rat für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche“ eingerichtet, der als Vermittler der staatlichen Kirchenpolitik galt und zugleich eine Steuerungs- und Kontrollfunktion hatte. Anders als etwa in Polen oder der DDR bot die ROK aufgrund dieser spezifischen historischen Prägungen kein schützendes Dach für etwaige oppositionelle oder dissidentische Aktivitäten. Stattdessen bewegten sich christliche Andersdenkende eher in Strukturen jenseits der ROK.

Nach dem Ende der Sowjetunion erfuhr die ROK als Träger (ethnisch-) russischer Identität sowie moralischer Werte großen Zuspruch. Dem taten auch regelmäßig auftretende Skandale wenig Abbruch, die mit der zeitgleich stark wachsenden engen Verflechtung von Staat und Kirche einhergingen. So galt etwa der seit 2009 amtierende Patriarch Kirill (Gundjajew) in den 1990er Jahren als „Tabak-Metropolit“, der mit dem Verkauf zollfrei importierter Zigaretten zu Reichtum kam.1 Außerdem gehört es zum guten Ton, dass führende Politiker des Landes öffentlichkeitswirksam die Kirche aufsuchen und eigene Gottesdienste zur Amtseinführung des Präsidenten gefeiert werden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bietet in dieser Perspektive der Tradition des russischen Zarenreichs erneut eine nützliche Ideologie, die den Staat zusammenhält.

Vor diesem Hintergrund bewerten viele Beobachter die ukrainischen Bemühungen zu einer Loslösung von der ROK auch als eine Bedrohung für das geopolitische Selbstverständnis des Kreml. Denn mit der Einschränkung der geistlichen Deutungshoheit über die Ukraine wird auch der Anspruch des Kreml auf die eigene „Interessensphäre“ in dem Land zunehmend fraglicher.


1.Neue Zürcher Zeitung: Angekratztes Image. Patriarch Kyrill hat ein Problem
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)