Medien

„Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

Bei einem Propaganda-Konzert im Moskauer Lushniki-Stadion am 22. Februar 2023 erscheint ein 15-jähriges Mädchen auf der Bühne. Sie heißt Anja Naumenko und kommt aus dem ukrainischen Mariupol. Sie ringt sichtlich um Fassung und sagt schließlich in Richtung eines russischen Soldaten: „Danke an Onkel Juri, dass er mich und meine Schwester und hunderttausende Kinder aus Mariupol gerettet hat.“ Auf der Bühne steht auch ihre jüngere Schwester Karolina, die sich wegen des Stadionlärms die Ohren zuhält. 

Durch die Sozialen Medien stürmte sogleich eine Welle der Entrüstung und Fassungslosigkeit, das alles sei eine absolut zynische Instrumentalisierung leidgeprägter, traumatisierter Kinder – schließlich hatte die russische Armee Mariupol im vergangenen Jahr durch wochenlangen Beschuss weitgehend zerstört und dabei tausende Zivilisten getötet. Darunter auch die Mutter von Anja und Karolina, wie iStories später in einer Recherche feststellte.

„[Sie haben gesagt:] ,Wer braucht euch denn in der Ukraine? Wir bringen euch ins Heim, dort werdet ihr schon alles verstehen‘“, berichtet ein Junge, den Russland nach Angaben der ukrainischen NGO Save Ukraine aus dem teilbesetzten Gebiet Cherson entführt hatte und der nun mit 16 weiteren deportierten ukrainischen Kindern in die Heimat zurückkehren konnte. Ukrainische Behörden sprechen von aktuell über 19.000 Kindern, die Russland verschleppt haben soll.

Das Thema erhielt aktuell neue Aufmerksamkeit durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der sich nicht nur gegen Wladimir Putin richtet, sondern auch gegen Maria Lwowa-Belowa, die offizielle Beauftragte des Präsidenten für Kinderrechte in Russland. Der Strafgerichtshof sieht sie als mutmaßliche Kriegsverbrecherin, die für die Deportation ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Zu den Kriterien für einen Genozid an einer Volksgruppe zählt die UN-Völkermordkonvention von 1948 unter anderem die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Anna Ryshkowa und Regina Gimalowa haben sich intensiv mit dem Werdegang von Lwowa-Belowa befasst. Auf Verstka (Wjorstka) zeichnen sie das ausführliche Porträt einer Frau, die unter Putin eine erstaunliche Karriere hingelegt hat und das Image einer liebevollen Fürsprecherin des Kindeswohls pflegt.

Quelle Verstka

Am 27. Oktober 2021 traf sich Maria Lwowa-Belowa per Videocall mit Wladimir Putin. Am Vortag hatte sie ihr Amt als Beauftragte für die Rechte des Kindes angetreten, das zuvor ihre langjährige Freundin Anna Kusnezowa innehatte. Bei dem Treffen trug Lwowa-Belowa einen zartrosa Blazer mit einer Blumenbrosche – und begann ihre Rede mit der Bemerkung, dass sie sich bereits seit über 15 Jahren für die Rechte von Kindern einsetze. Da fragte Putin sie nach ihrem Privatleben:

„Wie viele Kinder haben Sie denn?“
„Neun, fünf leibliche und vier Pflegekinder, dazu noch die Vormundschaft für 13 Jugendliche mit Behinderung.“
„Wie schaffen Sie das nur alles? Ich meine, auch noch Ihr soziales Engagement.“
„So sind kinderreiche Mütter eben – Multitasking-Talente.“

Am 9. März fand ihr nächstes Gespräch statt. Da wütete bereits seit über zwei Wochen Krieg. Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich die neue Ombudsfrau um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“. Anfang März waren bereits über tausend Waisenkinder nach Russland verbracht worden. „Der Präsident hatte betont, dass jedes außer Landes gebrachte Kind die Chance haben muss, eine Familie zu finden“, schrieb Lwowa-Belowa damals auf Telegram.

Neun Monate nach Kriegsbeginn gibt sie zu, dass sie, kaum hatte sie ihr Amt angetreten, sofort „mittendrin“ war: „Die Spezialoperation begann, der Donbass, das alles … Ich schäme mich nicht für dieses Jahr, denn mein Team und ich haben nicht nur 100 Prozent, wir haben 150 Prozent gegeben.“

Zu diesem Zeitpunkt steht die Staatsbeamtin bereits auf sieben internationalen Sanktionslisten – wegen der Organisation illegaler Transporte von Minderjährigen aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland. 

1. Die Ernennung anstelle der Freundin

„Besserer Background, mehr Kinder“

Als Maria Lwowa-Belowa das Amt der Kinder-Ombudsfrau antrat, hatte sie es schon ins Präsidium des Generalrats von Einiges Russland geschafft, hatte bei den Wahlen für die Stadtduma von Pensa kandidiert und auf einem Senatorenposten gesessen. Ihre Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter.

Lwowa-Belowas Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter

„Als Anna Kusnezowa [im September 2021 in die Staatsduma] gewählt wurde, sollte sie eine Nachfolgerin vorschlagen“, sagt eine Quelle gegenüber Verstka. „Offenbar sollte es eine ganz ähnliche Person sein. Also nahmen sie Lwowa-Belowa.“

Ein weiterer Zeuge von Lwowa-Belowas Ernennung erzählt Verstka, dass ihre Kandidatur aktiv von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefördert wurde – im Vergleich zu Anna Kusnezowa habe sie „einen besseren Background und mehr Kinder“.

Lwowa-Belowa mit Patriarch Kirill im Inklusionszentrum Neue Ufer, Juni 2022 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

2. Der Weg zur Macht: Musik, Kirche und Wohltätigkeit

„Es ist nicht richtig, sein Leben nur den eigenen Kindern zu widmen“

Geboren und aufgewachsen ist die zukünftige Beamtin in Pensa. Als ausgebildete Orchesterdirigentin für Unterhaltungsmusik unterrichtete sie an Musikschulen und an der Hochschule für Kultur und Kunst Gitarre. 

Mit 19 Jahren heiratete Maria Pawel Kogelman, von Beruf Programmierer und außerdem Gemeindemitglied einer Kirche in Pensa. Er verliebte sich in seine zukünftige Ehefrau, als er sie im Chor singen sah. Pawel wünschte sich viele Kinder. Damit hatte er Lwowa-Belowas Herz sofort erobert. Denn wenn sie jemanden kennenlernte, der weniger als drei Kinder wollte, so ihre Worte, traf sie ihn kein zweites Mal.

Das erste Kind bekam das Paar 2005. Zwei Jahre später kam das zweite. 

Ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen

2008 erfuhr Maria von der Station für ungewollte Kinder im städtischen Kinderkrankenhaus. Damit begann ihre Karriere im NGO-Bereich. „Wir besuchten die Kleinen, badeten sie und lasen ihnen Märchen vor, stellten die eigenen Kinder hintan. Das klingt vielleicht hart, aber ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen. Eine Frau braucht auch andere Aufgaben“, sagte die Staatsbeamtin in einem Interview.

Aus dieser Wohltätigkeitsinitiative heraus entstand Lwowa-Belowas erste gemeinnützige Organisation: Blagowest (dt. Glockenton). Maria Lwowa-Belowa und Anna Kusnezowa kümmerten sich fortan gemeinsam mit ihren Gatten um die Resozialisierung von Waisenkindern. Doch die beiden zukünftigen Staatsbeamtinnen zerstritten sich, Kusnezowa verließ das Projekt, und der Verein wurde bald nach seiner Gründung wieder aufgelöst. Laut Lwowa-Belowa war das Zerwürfnis allerdings rein beruflich – bei einem von Kusnezowas Kindern wurde sie sogar Taufpatin. 

„Die beiden waren ganz normale Mädchen, nur ein wenig orthodox“, erinnert sich im Gespräch mit Verstka Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus (dt. Bürgervereinigung) in Pensa. „Nach diesem Streit scheint zwischen ihnen irgendeine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft.“

Es scheint irgeneine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft

2014 trat Kusnezowa der Allrussischen Volksfront bei und wurde bald Leiterin der Bewegung Materi Rossii (dt. die Mütter Russlands). Zur selben Zeit gründete Lwowa-Belowa in Pensa ihr erstes großes Projekt Kwartal Lui – ein Rehabilitationszentrum, in dem Menschen mit Behinderung, die im Kinderheim aufgewachsen sind, auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden und nicht in neuropsychiatrischen Internaten landen. Für dieses Projekt bekam Lwowa-Belowa 400.000 Rubel vom regionalen Arbeitsministerium.  

2016 wurde Anna Kusnezowa zur Beauftragten für die Rechte von Kindern ernannt. Von da an ging Lwowa-Belowas Karriere genau wie die staatliche Finanzierung ihrer Projekte steil nach oben. Lwowa-Belowa eröffnete weitere Reha-Zentren – größere und teurere.
      
Ihr neues Projekt Dom Veroniki (dt. Veronikas Haus, ein Pensionat für junge Menschen mit schwerer Behinderung) wurde mit rund 27 Millionen Rubel gefördert – von der Regierung der Oblast Pensa, dem Fonds des bevollmächtigten Vertreters im Föderationskreis Wolga und der Stiftung des Präsidenten. In der Folge ließ Lwowa-Belowa ein ganzes Viertel für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bauen – Art-Pomestje Nowyje berega (dt. Kreativ-Dorf Neue Ufer).  

Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte

Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte. 2016 wurde sie von der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Orden dritten Ranges des Heiligen Apostelgleichen Großfürsten Wladimir ausgezeichnet. 2017 wurde sie Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Und bei den Präsidentschaftswahlen 2018 war sie Vertrauensperson von Wladimir Putin. 

Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich Maria Lwowa-Belowa um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“ / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0Im November 2019 fand Lwowa-Belowa ihren Platz im Präsidium des Generalrats von Einiges Russland. Gleichzeitig beendete ihr Mann Pawel Kogelman seine Karriere als Programmierer und wurde Priester. Lwowa-Belowa befürchtete, sich nun einschränken zu müssen. Aber sie musste, wie sie sagt, nur „ein paar Miniröcke wegwerfen“. In weiterer Folge wurde Pawel Vorsteher der Kirche, die im Art-Pomestje Nowyje berega gebaut wurde.

Bald übernahm Lwowa-Belowa das Amt der Senatorin im Föderationsrat der Oblast Pensa und gleichzeitig die Vormundschaft für weitere acht Jugendliche mit intellektuell-kognitiver Beeinträchtigung.  

3. Politik: Kompromisse

„Schweigen oder Zustimmen“

Lwowa-Belowa hatte wiederholt betont, dass sie die Waisenkinder vor einer Unterbringung in neuropsychiatrischen Internaten bewahren möchte. Die aktive Kampagne eines gemeinnützigen Vereins gegen den Bau geschlossener Anstalten unterstützte sie jedoch öffentlich nicht. Sie ignorierte auch einen Brief an Putin, den 115 Vertreter von NGOs unterzeichnet hatten, die Menschen mit Behinderung unterstützen.

Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor

„Je näher Mascha und Anja der Partei standen, desto mehr unterstützten sie die Agenda der Regierung oder hielten den Mund“, bemerkt Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus. „Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor.“

Im Juni 2021 machte die Wohltäterin ihren Abschluss für den Nachwuchskader des Präsidenten. Das Diplom überreichte ihr der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko. Im Oktober ernannte Putin sie zur Beauftragten für die Rechte des Kindes. Im selben Jahr übernahm die Staatsbeamtin die Vormundschaft für fünf weitere Heimkinder, die nach Ablauf der Jahre im Kinderheim nicht arbeitsfähig waren.

Lwowa-Belowa erzählt, sie habe als Kind keinen besonderen Berufswunsch gehabt, aber immer gewusst, dass sie Mutter werden will. Als sie eine Familie hatte, habe sie begriffen, dass es für Kinder besonders wichtig sei, die Wärme der Eltern zu spüren, und sie lieber „mit Umarmungen“ als „mit intensiven Gesprächen“ erzogen.

Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen

Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen. Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder“ umarmt. Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder” umarmt / Foto © kremlin.ru  unter CC BY-SA 4.0

4. Mit dem Krieg kommt der Karriereaufschwung

„Wir wollen die bürokratischen Hindernisse beseitigen, damit die Kinder eine normale Kindheit haben“   

Schon in den ersten Kriegstagen wurden aus den okkupierten Regionen der Ukraine Hunderte von Kindern nach Russland „evakuiert“. Die meisten von ihnen wurden in Auffanglagern in Feriendörfern und Kinderheimen untergebracht.
Am 11. März letzten Jahres gab Lwowa-Belowa erstmals zu verstehen, dass ukrainische Waisenkinder in russischen Familien untergebracht werden sollen. Sie erklärte, Putin unterstütze dieses Vorhaben bedingungslos und habe sie angewiesen, „im Interesse der Kinder zu handeln“. 

Verstka hat festgestellt, dass die Russen im Jahr 2022 im Suchfeld von Yandex 30.824 mal „Kind aus Donbass aufnehmen“ eingegeben haben. Rund die Hälfte dieser Suchanfragen – über 13.000 – stammen aus dem März und April. Zum Vergleich: Im Februar interessierten sich die User nur 218 mal für dieses Thema, und im gesamten Jahr 2021 belief sich die Anzahl solcher Suchanfragen auf null.

Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?

Lwowa-Belowa zufolge gab es tatsächlich sehr viele Anfragen. Für alle, die ein Kind aus den besetzten Regionen aufnehmen wollten, erstellte Lwowa-Belowa eine spezielle Anleitung.
„Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?“, lautete Lwowa-Belowas Reaktion auf das Interesse der Familien.   
 
Die Ombudsfrau unterstützte öffentlich die Propaganda-These von der „Rettung der Kinder aus dem Donbass“. Während andere Beamte vor allem von der Bedrohung durch Nazis sprachen, erging sich Lwowa-Belowa vorwiegend im Lob der russischen Familien. Nach ihrer Interpretation befinden sich die unter den Beschüssen leidenden Kinder „an der Grenze zwischen Finsternis und Licht“, und die Russen können ihnen „Schutz“ bieten und sie „mit Fürsorge und Liebe wärmen“. Mehrfach hat Lwowa-Belowa festgestellt, dass sich die vom Krieg traumatisierten Kinder in den russischen Familien „zum Besseren“ verändern würden: „Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Kinder werden sogar äußerlich ihren [Pflege-]Eltern ähnlich.“

Von den „evakuierten“ Kindern berichtet die Ombudsfrau in ihrem Telegram-Kanal. Zum Beispiel vom kleinen Wanja aus der Volksrepublik Donezk, der im Bildungszentrum Leader in der Oblast Woronesh untergebracht ist. Jetzt sei Wanja „genau wie die Einheimischen“ und antworte nach einem Monat in Russland auf die Frage, woher er sei: „Aus Bobrow.“ Ein anderes Beispiel ist Bogdan aus Donezk, der ebenfalls in die Oblast Woronesh „evakuiert“ wurde. Die Ombudsfrau unterstreicht: Jetzt ist Bogdan in Sicherheit, schleift auf der Werkbank seine Basteleien und verspricht, beim Aufbau seiner Heimatstadt zu helfen.     

Offiziell können russische Familien erst seit Ende Mai 2022 ukrainische Pflegekinder aufnehmen, seit Putin einen Erlass über ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft für Kinder „aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk und aus der Ukraine“ unterzeichnet hat. Doch Lwowa-Belowa war auch davor schon mit den „Volksrepubliken“ im Gespräch, um ukrainische Waisenkinder möglichst schnell in russische Familien zu bringen. Die ersten 27 Kinder kamen schon im April unter „vorübergehende Obsorge“ in die Oblast Moskau.

Lwowa-Belowa begleitete die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks

Bei der „Evakuierung“ aus den okkupierten Gebieten in die Russische Föderation begleitete Lwowa-Belowa die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks. 

Bis Oktober 2022 waren allein offiziellen Angaben zufolge mehr als 380 Kinder aus Donezk und Luhansk in russische Familien vermittelt worden. Wie viele Kinder aus der Ukraine insgesamt in Kinderheimen auf neue Pflegeeltern warten, ist unbekannt, aber Journalisten stoßen immer wieder auf solche Fälle.

Auf ihrer Dienstreise in die russisch besetzten Donbass-Gebiete im Juli 2022 trifft Lwowa-Belowa den Chef der „Donezker Volksrepublik“ Denis Puschilin / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0So erfuhr Verstka im Januar 2023 von mindestens 14 Kleinkindern aus Cherson, die sich im annektierten Simferopol im Kinderheim Jolotschka aufhielten. Diese Einrichtung machte 2020 wegen des grausamen Umgangs mit den Schützlingen als „Kinderkonzentrationslager“ Schlagzeilen. Im Februar gelangte der Fernsehsender Doshd in den Besitz einer Korrespondenz mit regionalen Vormundschaftsbehörden, aus der hervorging, dass im August des Vorjahres 400 Waisenkinder auf 24 Waisenhäuser verteilt worden waren. Nach Angaben der Journalisten wurden nur 36 von ihnen später in Familien untergebracht.

Lwowa-Belowa behauptet, ihre Mitarbeiter würden nicht nur daran arbeiten, ukrainische Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln, sondern sie auch mit Angehörigen der eigenen Familie zusammenführen. Als Beispiel führt die Ombudsfrau allerdings immer nur denselben Fall an: Ein Vater, der bei der ukrainischen Armee gedient haben soll, habe nach der „Filtration“ seine Kinder aus Russland zurück nach Hause geholt.

„Wir sind sicher nicht daran interessiert, [die Kinder] ihren Eltern wegzunehmen und in irgendwelche russischen Familien zu stecken“, beteuerte die Politikerin.

Verschleppungen von Waisenkindern können als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht

Menschenrechtsaktivisten haben Lwowa-Belowas Mitwirkung an der Ausfuhr von Kindern in das Gebiet des Aggressorstaates wiederholt als Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnet. Einem Bericht des in den USA ansässigen Newlines Institute for Strategy and Policy und des kanadischen Raoul Wallenberg Centre for Human Rights zufolge können Verschleppungen von Waisenkindern als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht.

Lwowa-Belowa reagiert auf die Kritik der internationalen Gemeinschaft mit Ironie. Im Juni, als die Ombudsfrau erstmals auf einer britischen Sanktionsliste auftauchte, veröffentlichte sie auf ihrem Telegram-Kanal einen scherzhaften Post: „Wir Russen halten als Familien und in Organisationen zusammen – und jetzt eben auch auf Sanktionslisten.“

5. Familie: Adoptivsohn aus Mariupol

„Sie ist der wundervollste Mensch“

Im August erklärte Lwowa-Belowa, sie habe selbst ein ukrainisches Kind adoptiert – den 15-jährigen Filipp aus Mariupol. Der Teenager hatte sich seit Mai in Russland aufgehalten: Er war zusammen mit 30 weiteren Kindern aus Mariupol in das Sanatorium Poljana in Odinzowo [in der Nähe von Moskau] gebracht worden.

Im Herbst brachte der TV-Sender Zargrad eine Reportage über Filipp mit dem Titel Das ist mein Kind. Darin erzählt der Junge, er habe vor dem Krieg bei Pflegeeltern in Mariupol gelebt, aber die hätten ihn nach Ausbruch des Krieges zurückgelassen. Man habe ihn daraufhin nach Russland ins Sanatorium Poljana gebracht, wo er zunächst sehr traurig gewesen sei. Aber das habe sich schlagartig geändert, als Lwowa-Belowa das Sanatorium besuchte:

Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie

„Auf einmal kam Mascha [Koseform von Maria – dek] herein, das werde ich nie vergessen“, erinnert sich Filipp im Gespräch mit dem Reporter von Zargrad. „Sie ist der wundervollste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe. Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie.“

In einem der Videos von diesem Besuch in Poljana sieht man Lwowa-Belowa, wie sie zu einem jungen Mädchen ins Zimmer kommt, sich zu ihr aufs Bett setzt und sagt: „Ich bin für alle Kinder unseres Landes verantwortlich. Und solange ihr hier seid, bin ich auch für euch verantwortlich.“ Das Mädchen umklammert ihr angezogenes Bein mit den Armen, während Maria Lwowa-Belowa ihr die Hand auf das Knie legt.

Die Ombudsfrau geht bei ihren Treffen immer maximal nah an die Kinder heran. Sie setzt sich im Kleid mit untergeschlagenen Beinen auf Spielteppiche, nimmt Vorschulkinder auf den Arm, nimmt sie auf den Schoß, verteilt tröstende Umarmungen und Küsse. Bei Fernsehinterviews bittet sie die Journalisten, einfach Mascha zu sagen, während ihre Mitarbeiter sie „MA“ nennen – eine Abkürzung für Maria Alexejewna.Bei ihren Treffen geht die Ombudsfrau immer maximal nah an die Kinder heran / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0Kurz vor dem Jahrestag der russischen Invasion, am 16. Februar 2023, traf sich Lwowa-Belowa mit Putin, um die Ergebnisse ihrer Arbeit zu besprechen. Sie sagte, sie wisse jetzt selbst, wie es sei, „Adoptivmutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein“, weil sie den 15-jährigen Filipp aus Mariupol bei sich aufgenommen habe.

„Dank Ihnen“, fügte die Kinderbeauftragte hinzu.

6. Kinder der Ukraine: „Integration“

„Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“

Im Juli 2022 besuchte Maria Lwowa-Belowa Kinder, die im zerstörten Mariupol geblieben waren und erzählte ihnen, dass auch bei ihr zu Hause jetzt ein „kleiner Teil“ dieser Stadt leben würde. Bei dem gemeinsamen Foto riefen die Kinder anstatt „Cheese“ laut „Mariupol – Stadt der Zukunft“ in die Kamera.

„Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“, sagte Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten

Nach ihrem Besuch beschloss die Staatsbeamtin, den Kindern aus dem Donbass „das Gefühl von einem friedlichen Leben“ zurückzugeben, und veranstaltete zu diesem Zweck zwischen Juni 2022 und März 2023 sechs Feriencamps im Süden Russlands und im Umland von Moskau. Lwowa-Belowa empfing die Kinder persönlich mit Karawai und einer Bühnenshow in russischen Trachten.

„Wir begrüßen euch so, weil ihr jetzt zu uns gehört“, sagte die Ombudsfrau zu den Jugendlichen.

In der Praxis kehren von diesen Lagern nicht alle Kinder nach Hause zurück

In diesen Feriencamps sollten die ukrainischen Jugendlichen im Rahmen eines Integrationsprogramms eine „psychologische Rehabilitation“ durchlaufen. Danach sollten sie nach Hause zurückkehren – in die, wie Lwowa-Belowa es nennt, „besonders stark beschossenen Gebiete“. Ihrer Ansicht nach würden die zwei Wochen im Lager nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern helfen: Die Kinder würden bei ihrer Rückkehr in die Heimatstadt ihren Familien eine „Ladung Zuversicht“ mitbringen, dass Russland sie „nicht im Stich lässt“. Allerdings kehren von diesen Lagern in der Praxis nicht alle Kinder nach Hause zurück.

Anfang März 2023 hielten sich im Süden Russlands und auf der Krim nach Lwowa-Belowas eigener Aussage noch 89 Kinder in den „verlängerten Ferien“ auf. Niemand würde gegen seinen Willen dort festgehalten, beteuerte die Politikerin. Das Problem sei die kritische Lage an der Front und der Umstand, dass die Eltern die Kinder nicht selbst abholen könnten, erklärte Lwowa-Belowa. Um welche Lager es sich konkret handelt, sagte die Ombudsfrau nicht.

Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden

„Es sind Kinder aus den Oblasten Cherson und Saporishshja“, sagt ein Informant, der mit der Situation vertraut ist. „Sie können nur zurück, wenn die Eltern sie abholen. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Männer durch die Filtrationsmaßnahmen gar nicht reingelassen werden oder nicht rauskommen. Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten, der Fürsorge übergeben und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden.“Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA-4.0In die Feriencamps werden außerdem recht merkwürdige Gäste eingeladen, wie zum Beispiel die Fernsehmoderatorin Xenja Borodina, die den Kindern erzählt, „wie man zu einem Leader der öffentlichen Meinung zu aktuellen Themen wird“, oder die Bloggerin TatarkaFM, die sich auf ihrem YouTube-Kanal darüber auslässt, ob Selensky „high“ und die Ukraine souverän sei.

7. Kinder Russlands: Propaganda

„Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“

Maria Lwowa-Belowa kümmert sich nicht nur um das Schicksal von ukrainischen Kindern, sondern auch um die Erziehung der russischen Schüler – vor allem um die „patriotische“. Im Mai lud die Politikerin Jugendliche aus 82 russischen Regionen nach Moskau ein, damit sie ihre Projekte zum Thema Mobbing, zur Beziehung der Schüler untereinander und über glückliche Kindheit vorstellen konnten.

Zu dem Forum waren, wie Verstka von den Teilnehmerinnen weiß, auch einige Jugendliche aus der sogenannten DNR (Donezker Volksrepublik) eingeladen – darunter die Zehntklässlerin Polina Tschitschkan aus Horliwka.

Lwowa-Belowa veröffentlichte ein Foto der jungen Frau auf ihrem Telegram-Kanal mit dem Kommentar, die russischen Schüler würden P. „von den schrecklichen Ereignissen ablenken“.

Maria Shidkowa und Alina Molodzowa, zwei Schülerinnen aus Tula, interpretierten den Aufruf auf ihre Weise und machten Polina zum Gesicht des Projekts Die Wahrheit der Kinder des Donbass. Sie veröffentlichten ein Video, in dem das Mädchen aus der „DNR“ vor der russischen und der Flagge der „DNR“ steht und gemeinsam mit anderen Schülern aus dem Donbass einen Text über das Leben unter Beschuss vorträgt.

Verstka fragte Maria Shidkowa nach ihrem Eindruck von Treffen mit Lwowa-Belowa. Sie antwortete, die offene Art der Staatsbeamtin und ihre Liebe zu den Kindern habe sie sehr beeindruckt, und sie bezeichnete sie als Vorbild für die Jugend.

„Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“, sagte die Schülerin. „Maria Alexejewna hat mir gezeigt, dass man Menschen helfen kann und es nicht schwer ist, das zu tun.“ Auf die Frage nach dem Sinn der Kampfhandlungen und dem Schicksal der Kinder, die Opfer in diesem Krieg geworden sind, wusste die junge Frau keine Antwort und fügte hinzu, dass sie „politisch ungebildet“ sei.

Zum nächsten Schülertreffen – ein landesweites Forum der Kinder- und Jugendorganisation Bewegung der Ersten unter der Schirmherrschaft von [dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung] Sergej Kirijenko – nahm Lwowa-Belowa ihren Adoptivsohn aus Mariupol mit. Der Teenager betrat die Bühne in einem mit Messern, Rosen, Adlern, Stacheldraht und Matrjoschka-Puppen bedruckten Kapuzenpulli.

Auch Polina Tschitschkan, die Schülerin aus Horliwka, nahm an diesem Forum teil. Gegenüber dem Fernsehsender Rossija-1 äußerte die junge Frau, sie würde ein „Zusammenwachsen der Nation und der neuen Gebiete“ beobachten. Wieder zurück in Horliwka nahm die Schülerin ein Video auf, in dem sie Gleichaltrigen von der Mission der „Bewegung“ erzählte: „Zu Russland halten“, „Mensch sein“, „Zusammen sein“, „in Bewegung sein“ und „Erster sein“.

Im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern

„Solche Organisationen erinnern sehr an die entsprechende Jugendbewegung im nationalsozialistischen Deutschland: Auch dort verbrachten die Kinder die meiste Zeit mit Sport, Musik und anderen unpolitischen Aktivitäten, aber in entscheidenden Momenten, unterstützten sie den Staat und die Armee“, erklärt Daniil Ken, Schulpsychologe und Leiter der Allianz der Lehrer, gegenüber Verstka. „Natürlich denkt Putin nicht so weit, die Erstklässler in ihren Feldmützen später mal zu seinen Soldaten zu machen. Aber im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern, bei dem ihre Eltern entscheiden müssen: Entweder sie wehren sich und setzen sich einer Gefahr aus, oder sie vereinbaren es irgendwie mit ihrem Gewissen und nehmen es in Kauf.“
 

Lwowa-Belowa trifft Putin im Kreml, März 2022. / Foto © Mikhail Klimentyev/ITAR-TASS/imago-images

Im März 2023 unterstützte Lwowa-Belowa das Adoptionsverbot von russischen Kindern durch Eltern aus „nicht freundschaftlich gesinnten“ Ländern.

„Die Politik von ‚Cancel Russia‘ macht es sehr wahrscheinlich, dass russische Kinder im Ausland schikaniert und aufgrund ihrer Nationalität gedemütigt werden“, sagte die Ombudsfrau.

Zur Stärkung der „internationalen Zusammenarbeit“ schlug die Staatsbeamtin vor, dieses Jahr Kindern in Afrika zu helfen. Und wie eine wahre Gläubige erbat sie dafür einen „Segen“ – allerdings nicht von einem Priester in der Kirche, sondern von Putin im Kreml.

Verstka hat seine Fragen an das Büro von Lwowa-Belowa gerichtet. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Materials lag der Redaktion keine Antwort vor. 

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Seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren es aber überwiegend die Kriegsversehrten, die insbesondere nach den beiden Weltkriegen ins Zentrum sozialstaatlicher Bemühungen rückten. Allerdings änderte sich der Umgang mit Behinderung in der Nachkriegszeit: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Modernisierung, die zu sozialistischer Staatsideologie wurden, musste jeder am Aufbau einer Gesellschaft ohne „Probleme und Defekte“ teilnehmen. Wer nicht dazu beitrug, sollte auch keine Wohlfahrt empfangen.

Die vom Psychologen Lew Wygotzki (1886–1934) in den späten 1920er Jahren entwickelte Lehre der „Defektologie“, die Behinderung als soziale Falschverortung aufgrund physischer und psychischer Schädigungen verstand, wurde zur dominanten pädagogischen und sozialpolitischen Doktrin. Demnach sollten Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit in Anstalten separiert werden. Das führte zu einer Marginalisierung und Stigmatisierung dieser Menschen und ihrer Familien. Bis in die 1970er Jahre hinein, als sich die russische Allgemeinbezeichnung invalid (ursprünglich nur für Kriegsversehrte benutzt) etablierte, verortete man behinderte Menschen auch nur in der Kategorie der Arbeitsunfähigkeit.

Bei der Ausübung staatlicher Wohlfahrtsaufgaben für Menschen mit Behinderung waren damals, und sind heute noch immer, große, landesweite Verbände maßgeblich, die soziale Dienstleistungen erbringen und geschützte Arbeitsbereiche unterhalten. Als nichtstaatliche Organisationen (NGO) registriert, existieren sie in allen Regionen und Städten, haben es aber aufgrund ihrer finanziellen und institutionellen Abhängigkeit vom Staat schwer, an dessen Wohlfahrts- und Sozialpolitik Kritik zu üben.

Graswurzelinitiativen

Mit dem Ende der Sowjetunion brach staatliche soziale Sicherung, die vor allem über den Arbeitsplatz organisiert wurde, für weite Teile der Bevölkerung weg. Das entstandene äußerst prekäre Vakuum versuchten nichtstaatliche Graswurzelinitiativen, vor allem Selbsthilfegruppen, zu füllen, um elementare Bedürfnisse behinderter Menschen zu sichern. Akteure internationaler Entwicklungszusammenarbeit sorgten in den 1990er Jahren für Know-How und für dringend benötigte materielle sowie finanzielle Ressourcen. Diese NGO-Akteure aus Westeuropa und den USA erweiterten nachhaltig den Möglichkeitshorizont ihrer russischen Partner durch Erfahrungsreisen ins Ausland und eine Vielzahl von Seminaren und Publikationen.

Dieser internationale Austausch ermöglichte auch eine Fokusverschiebung unter russischen Menschen mit Behinderung und ihren Unterstützern hin zur Notwendigkeit gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und der Realisierung von bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Rechten.

Das wurde Mitte der 1990er Jahre auch von der Politik aufgegriffen, in gesetzlichen Regelungen festgeschrieben und in staatlichen Förderprogrammen verbreitet. Russland hat sogar die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und formal ratifiziert. Allerdings stellt die tatsächliche Umsetzung ein großes und langwieriges Problem dar. Es fehlt nicht nur an formalen Realisierungsmechanismen und Anti-Diskriminierungsregeln auf lokaler Ebene, da föderale Gesetze oft lokalen normativen Akten widersprechen. Es fehlt oft auch an Verständnis und Einsicht von unkontrollierten Beamten, die vorhandenen Regelungen tatsächlich anzuwenden. Daher hat sich an der schwachen und marginalisierten sozial-ökonomischen Position von Menschen mit Behinderungen in Russland nur wenig geändert.

In- versus Exklusion

Praktisch in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen sind Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mit hohen Barrieren gegen ihre Teilhabe konfrontiert. Wenn Behinderung während der Schwangerschaft festgestellt wird, raten Ärzte Schwangeren oft zu Abtreibungen oder nach der Geburt zur Abgabe des Kindes in staatliche Heime. Die Heime werden in der Gesellschaft immer noch als einzig adäquate Lösung für das „Problem“ Behinderung angesehen. Obwohl ein langsamer Abbau der Heime läuft, sind Fälle von Vernächlässigung, Gewalt und Freiheitsberaubung in den immer noch weitläufig existierenden Einrichtungen verbreitet.1

Besserung geht oft von nichtstaatlichen Initiativgruppen und Organisationen aus, die Tagesbetreuung für bedürftige Kinder oder ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderungen aufbauen. Doch all diese Bemühungen sind nicht systematisch, sondern beschränkt auf lokale Initiativen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung hängt davon ab, wo sie in Russland leben und ob es dort Engagierte gibt, die sich für ihre Belange einsetzen.

Marginalisierte gesellschaftliche Stellung

Wenn sich Eltern dafür entscheiden, ihr Kind in der Familie zu behalten, sehen sie sich oft größten Schwierigkeiten ausgesetzt. Integrative Kindergärten oder Schulen sind auch in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg eine Ausnahme. Auch der Arbeitsmarkt hält so gut wie keine Mechanismen zur Integration bereit, abgesehen von Strafzahlungen in moderater Höhe für die Nichteinhaltung von ohnehin geringen Behindertenquoten. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen können in der Regel nur in geschützten, aber auch sehr begrenzten Werkstätten in den großen Behindertenverbänden arbeiten. Es gibt zwar staatsunabhängige Programme zur speziellen Arbeitsplatzschulung in Zusammenarbeit mit großen, meist internationalen Firmen. Diese existieren jedoch wiederum nur in den großen Metropolen.

Zudem ist generell der öffentliche Raum nicht barrierefrei. Ganz im Gegenteil: Fahrstühle, Rampen, Blindenschrift, Tonsignale etc. fehlen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Behörden. Erst als in der Vergangenheit Betroffene erfolgreich gerichtlich, wieder mit Hilfe von NGOs, gegen verwehrten Einstieg oder das Fehlen von Rollstuhleignung geklagt haben, sind nun die meisten Fluglinien und die Russische Eisenbahn auf besonderen Bedarf eingestellt.

Negative Einstellungen

Die marginalisierte gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Behinderung geht einher mit den deutlich negativen Einstellungen vieler Russen ihnen gegenüber. In der Sowjetunion wurde die soziale Distanz zementiert durch die ideologisch bedingten Label des Defekts und der Leistungsunfähigkeit. Auch heute sind negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung immer noch weit verbreitet und behindern buchstäblich die gesellschaftliche Integration. Obwohl viele Russen dieser im Allgemeinen positiv gegenüber stehen, zeigen sich in konkreten sozialen Situationen Distanz und Abwehr.

Diese Situation zu ändern ist eines der wichtigsten Anliegen von Behindertenaktivisten im heutigen Russland. Dabei ist es im Vergleich zu ihren Partnern in anderen europäischen Ländern meist kontraproduktiv, sich auf den globalen Menschenrechtsdiskurs zu beziehen, da dieser institutionell als auch kulturell nur sehr schwach in der russischen Gesellschaft verankert ist. Auch Demonstrationen und Proteste im öffentlichen Raum scheinen kein guter Weg, gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Daher konzentrieren sich die Aktivitäten von NGOs besonders auf den kulturellen Bereich, zum Beispiel mit Filmfestivals und Fotografie, und auf den Wandel von zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Beispiel mit Freundschaftsprogrammen und journalistischen Arbeiten, um in aufklärerischer Manier den Umgang mit beeinträchtigten Menschen zu normalisieren.2

Doch Fortschritte in der sozialen Integration der behinderten Menschen hängen stark von den jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Umständen ab. Die aufklärerischen und inklusiven Aktivitäten russischer Behindertenaktivisten sind momentan äußerst eingeschränkt. Kritik an staatlicher Sozialpolitik und ihrer Integrationsleistung ist mit hohem Risiko für den Aktivitätsspielraum der Engagierten verbunden. Das hängt vor allem mit der restriktiven Beziehung des russischen Staates gegenüber Menschenrechtsorganisationen und gegenüber internationaler Kooperation im zivilgesellschaftlichen Bereich zusammen. Auch die NGOs, die keiner politischen Tätigkeit nachgehen, gehen das Risiko ein, aufgrund ausländischer Finanzierung und staatskritischen Aktivitäten zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt zu werden.

Der staatliche Fokus auf die Förderung von nichtstaatlichen sozialen Dienstleistungen drückt Menschen mit Behinderung wieder in eine Situation, in der ihre physischen und geistigen Abweichungen im Vordergrund stehen, und nicht die Ausweitung ihrer Teilhabe am „normalen“ gesellschaftlichen Leben. Stichworte wie Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sind daher nicht im gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung zu finden. Einer tatsächlichen sozialen Integration steht eben auch das nicht-demokratische gesellschaftliche Regime in Russland entgegen, das kulturelle, politische, und soziale Ausgrenzungsmechanismen reproduziert.


1. So gibt es immer wieder Fälle, in denen behinderte Menschen an Betten gefesselt, geschlagen, eingesperrt oder sozial komplett ignoriert werden.
2. Vorbildlich scheint in diesem Zusammenhang das Medien-Projekt Takie dela, das einerseits die Leser auf soziale Probleme aufmerksam macht, andererseits Geld für die Förderung der gemeinnützigen Einrichtungen sammelt. Wie aber das Medium selbst, so gehört auch die Bereitschaft, sich finanziell und tatkräftig einzusetzen, zu einer gesellschaftlichen Nische.

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

 

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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