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Kino #11: Das Asthenische Syndrom

Das asthenische Syndrom ist eine Krankheit. Der gleichnamige Film von Kira Muratowa aber ist eine Diagnose, eine katastrophale Diagnose, die Muratowa der späten Sowjetgesellschaft stellt. Der Film aus dem Jahr 1989 wurde zum letzten verbotenen Film in der UdSSR.

Der Stein des Anstoßes war in erster Linie eine Szene, in der eine Frau im Metro-Waggon nachdenklich über einen Streit monologisiert. Dabei benutzt die elegante Frau die drastischsten Flüche, die das Russische kennt.1 In der U-Bahn fragt sich die Frau nun, warum das eigentlich alles? Alles sei doch so schön.
Die Sprache des Mat war vorher noch nie auf der Leinwand zu hören gewesen, dennoch kann man davon ausgehen, dass der Zensurbehörde der Film als Ganzes unheimlich war.

Quelle dekoder

Die Handlung im Asthenischen Syndrom ist von Beziehungslosigkeit, wenn nicht von Brutalität im Umgang miteinander geprägt. Immer wieder mischen sich clownesque Momente unter die Beschimpfungen und Grobheiten und lassen den Sinnverlust noch absoluter erscheinen. Ende der 1980er Jahre war die sowjetische Gesellschaft weitgehend atomisiert, und im öffentlichen Raum herrschte eine feindselige Umgangsart. Die offene Gewalt, die wir im Film auch zu sehen bekommen, wird erst mit den 1990er Jahren Realität. Muratowa selbst sagte einmal über Das asthenische Syndrom, der Film sei ein Portrait des Zustandes der Menschheit.2 Und doch ist der Film, der mehrere dokumentarische Szenen enthält, auch Spiegelbild seines spezifischen Entstehungskontextes. Muratowa liefert mit dem Epos ihre brachiale Antwort auf die zerfallene Gesellschaft der späten Sowjetunion.

Eine Kopie des Films konnte aus dem Land geschmuggelt werden und der Film erlebte im Jahr 1990 seine Premiere auf der Berlinale. Dort wurde er mit einem Silbernen Bären, dem großen Preis der Jury, ausgezeichnet. In der Sowjetunion wurden Muratowa umso mehr Vorwürfe gemacht. Nach langen Diskussionen und Verhandlungen durfte der Film schließlich sechs Monate später in den eingeschränkten Vertrieb aufgenommen werden. Das bedeutete, dass Vorführungen auf kleine Kino-Clubs beschränkt waren und sie eingebettet sein sollten in Vorträge von Soziologen oder Filmkritikern.3 1991 dann bekam der Film den Nika zugesprochen.

Individuelles Leid als Leiden der Gesellschaft

Für Das asthenische Syndrom kombiniert Muratowa zwei Drehbücher zu einem Film. Der erste, schwarzweiß gedrehte Teil des Films zeigt eine Frau, Natalja, nach dem Tod ihres Ehemanns. Dem Schmerz über den Verlust begegnet Natalja mit Ausbrüchen verbaler und körperlicher Gewalt. Die Ärztin beschimpft Freunde, Kollegen und greift mehrfach Passanten auf der Straße an. Sie nimmt sich einen Betrunkenen mit nach Hause ins Bett, nur um die ausgemergelte nackte Gestalt kurz darauf laut schreiend aus ihrer Wohnung zu jagen.Collage-Sequenzen, spektakelhafte Szenen und exaltierte Figuren / Fotos © Odesskaja Kinostudija

Der Hauptteil des Films, in Farbe, zeigt lose Episoden um den Lehrer Nikolaj. Dieser begegnet uns zum ersten Mal im Kinosaal, in dem der Film über Natalja als Film im Film, vorgeführt worden ist. Ein Moderator und die Darstellerin von Natalja versuchen ein Publikumsgespräch zu führen. Die Zuschauer, so der Moderator, hätten jetzt die Möglichkeit sich mit dem „echten Kino” auseinanderzusetzen, von Regisseuren wie „German, Sokurow, Muratowa”. Doch das Publikum drängt ungeduldig nach draußen, wobei es zu Handgreiflichkeiten unter den Zuschauern kommt. Nataljas individuelles Leid und ihre Aggressionen werden im zweiten Teil des Films auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Als Bindeglied dient der Affekt. Es ist, als würde Muratowa uns sagen wollen: Das menschliche Leben ist eine Tragödie und das zeigt sich bereits darin, dass es schreckliche Unglücke wie den Tod gibt.

Das asthenische Syndrom ist der bis dahin unkonventionellste Film Muratowas. Auch wenn Muratowa schon in ihren vorangegangenen Filmen zunehmend die Handlung fragmentiert und das Verhalten ihrer Figuren verkünstelt, so wird eine durchgängige Geschichte nun komplett aufgekündigt. Anstelle von Verdichtung, Entwicklung und einem Spannungsbogen steht eine Art epischer Realismus. Dieser wird von dokumentarischen Einsprengseln unterstützt. Darunter eine erschütternde Szene verwaister Hunde in einem Hundezwinger, die Schimpftirade einer Frau über die Wohnungsnot, und der wahnsinnige Monolog eines Insassen der Irrenanstalt.4 Dabei baut die Struktur des Films oftmals auf einer Montage von kontrastierenden Erregungen oder Affekten auf. Das Fehlen dramaturgischer Bögen und ursächlicher Zusammenhänge spiegelt die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Zusammenhalts wider.„Warum das eigentlich alles? Alles ist doch so schön."

Kann Kunst die Welt retten?

Während sich die meisten Figuren anschreien und prügeln, leidet die Hauptfigur Nikolaj unter dem asthenischen Syndrom: chronischer Schwäche und Müdigkeit. Die scheinen ihn immer dann zu befallen, wenn die Umstände ihn überfordern – was oft der Fall ist. Das gesamte Umfeld Nikolajs scheint dem Wahn verfallen, und als Nikolaj in einer der letzten Szenen in der Irrenanstalt landet, lässt sich kein wesentlicher Unterschied zwischen den Insassen und den Menschen draußen registrieren.

Dass auch die Kunst nicht in der Lage ist, die Menschheit zum Besseren zu erziehen, lässt uns Muratowa gleich mehrfach wissen. Über der Kinoleinwand am Beginn des zweiten Teils hängt ein Spruchband mit dem legendären Lenin-Zitat „Von allen Kunstformen ist das Kino für uns die wichtigste“. In krassem Kontrast zu dem Stellenwert, den der Film für die Bolschewiki hatte, beschweren sich die ins Foyer strömenden Zuschauer über das anstrengende Kunstkino: „Amüsieren will ich mich”, sagt ein dicker Mann zu seiner verträumt blickenden Ehefrau.

Muratowa war die bedeutendste weibliche Regisseurin der Sowjetunion. Nach Abschluss der Moskauer Filmhochschule WGIK realisiert die 1934 in Bessarabien geborene Muratowa ihre Filme fast ausnahmslos am Odessaer Filmstudio in der Ukraine. Ihr Werk nimmt seinen Anfang in den 1960er Jahren, als das liberale Tauwetter gerade zu Ende geht. Fortwährende Probleme mit der Zensur, sowie mehrere Arbeitsverbote prägen Muratowas Werdegang in der Sowjetunion. Mit dem Asthenischen Syndrom findet Muratowa zu der spektakelhaften Filmsprache, mit der sie heute in Verbindung gebracht wird. Eine aufreizende Farbgestaltung, eine Vorliebe für ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen seither ihre Filme. Ausgedehnte Collagen-Sequenzen und aus der Narration herausgelöste Präsentationen der Figuren kennzeichnen Muratowas Filme

Absage an das menschliche Subjekt

Das asthenische Syndrom durchzieht ein tief greifendes Misstrauen gegenüber der Idee eines rationalen menschlichen Subjekts, dem sich selbst gewissen Ich-Bewusstsein. Während des Schulunterrichts kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Nikolaj und seinem Schüler Iwnikow. In der Szene darauf quälen zwei junge Frauen auf der Straße einen geistig Behinderten, Iwnikow eilt dem behinderten Mann zur Hilfe, doch kurz darauf jagt und schlägt er die Frauen brutal. Die nächste Szene zeigt einen Vater und seine jugendliche Tochter, die sich nach anfänglich liebevollem Umgang auf einmal einen heftigen körperlichen Kampf liefern. Die Brutalität geht, ähnlich wie im Falle Iwnikows, der dem behinderten Mischa helfen wollte, von einem Menschen aus, der gerade noch Gutes tat. Diese Figuren zeigen uns auf, wie unberechenbar, wie instabil menschliche Identität ist.

Subjektkritischer Blick auf den Menschen, seine Masken und RollenMuratowa reiht sich mit diesem subjektkritischen Blick auf den Menschen, seine Masken und Rollen ein in die postmodern geprägte russische Kunst der 1990er Jahre, oder besser: nimmt sie vorweg. Mit der Entstehung der Sowjetgesellschaft wurde das autonome bürgerliche Subjekt der Aufklärung ausgelöscht. Doch das neue sowjetische Subjekt, der sozialistische „Neue Mensch” blieb ein ideologisches Dogma, eine Fiktion, über die man am Küchentisch lachte. Denn die Realität in der Sowjetunion war davon bestimmt, dass Staatsideologie und Alltagserfahrung weit auseinander klafften und das Leben von Absurditäten und Sinnlosigkeiten durchsetzt war. Die Menschen in der Sowjetunion waren also noch lange vor der Postmoderne in der postmodernen Haltung geübt. Sie nannten das Stjob, eine Verhöhnung jeglichen Glaubens.

Man war sich bewusst, dass man in einer Konstruktion lebte, und somit befand man sich schon im Herzen der Postmoderne. Die Epoche der Postmoderne wurde im post-sowjetischen Raum also wie eine gute alte Bekannte begrüßt und in künstlerische Strategien integriert.

„In meiner Kindheit, in meiner frühen Jugend dachte ich, dass wenn alle Menschen Lew Nikolajewitsch Tolstoi lesen, dann werden ausnahmslos alle alles, alles verstehen und gute, kluge Menschen werden.”5 Mit diesem Satz wenden sich am Anfang des Asthenischen Syndroms drei alte Frauen direkt an die Zuschauer. Die drei halten sich wie kleine Mädchen bei den Händen, eine hat ein dickes Tolstoi-Buch im Arm. Die Zuschauer ahnen, dass es sich bei dem dissonanten Chor der Alten um Verhöhnung, um Stjob handeln muss. Denn wer alles über die brutale Wirklichkeit versteht, fällt in den albtraumhaften Schlaf des Asthenischen Syndroms.

Text: Isa Willinger
Veröffentlicht am 29.11.2017


https://www.youtube.com/watch?v=CZYJW2q2KAI

https://www.youtube.com/watch?v=ZoOjiYdNc88


1.Im Original: „Хуй тебе в жопу, я ему говорю, а он мне говорит, хуй тебе, а я ему отвечаю, что, ёб твою мать, я ебала твою маму, твоего папу, твоего бабушку, твоего дедушку ... проститутка, сволочь, гадина, там еще как-то, а я ему говорю, а он мне говорит, сама сволочь... я ебал твою бабушку, я ебал твою дедушку [...] .” Im Deutschen etwa: „Fick dich in den Arsch, sag ich zu ihm und er sagt zu mir fick dich und ich zu ihm ... ich hab deine Mutter gevögelt, deinen Vater, deine Oma, deinen Opa, ... und er sagt zu mir, selber Mistvieh, ich hab deine Oma gevögelt, deinen Opa [...] .“ 
2.Taubman, Jane (2005): The Filmmakers’ Companion: Kira Muratova, New York, S. 45
3.Vasil’evna, Inna (2004): Novejšaja istorija otečestvennogo kino. 1986—2000. Kino i kontekst, Sankt Peterburg.
4.Willinger, Isa (2013): Kira Muratova. Kino und Subversion, Konstanz
5.Im Original: „В детстве, в ранней юности я думала, что если всем людям прочесть Льва Николаевича Толстого, и все-все всё-всё поймут и станут добрыми и умными.”
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Andrej Tarkowski

Andrej Tarkowski (4. April 1932 – 29. Dezember 1986) kommt aus der jungen 1960er/1970er-Generation sowjetischer Filmemacher und wurde mit seiner eigenen poetischen Bildsprache zu einem der bedeutendsten Autorenfilmer des 20. Jahrhunderts.

Als Künstler vor allem auf seine Autonomie bedacht, litt er unter dem sowjetischen Ansatz der Kunst als Staatspädagogik, bangte oft um den nächsten Auftrag. Tarkowski war trotzdem kein Dissident. In gewisser Weise wurde er zum Weltenwandler zwischen Ost und West, geborgen nur im Nirgendwo seiner Filme. Die erfreuen sich bis heute einer treuen Zuschauerschaft. 

Seine Bilder operieren zwischen Schein und Sein – Regisseur Andrej Tarkowski (1932–1986) / Foto © Festival de Cine Africano/flickr.com

Zwar erreichten Filme aus dem kapitalistischen Ausland nur in kleiner Zahl die sowjetischen Kinos, die Studenten an der führenden staatlichen Filmhochschule VGIK aber konnten sich zur Tauwetterperiode mit künstlerischen Strömungen und Moden aus dem Westen vertraut machen. So sieht man in Tarkowskis studentischen Arbeiten aus den 1950er Jahren auch deutliche Einflüsse des amerikanischen film noir (Ubizy, dt. Die Mörder, 1956) sowie des französischen Kinos (Sewodnja uwolnenija ne budet, dt. Heute gibt es keinen Feierabend, 19571). Vor allem aber zeigte sich seine Lust am Experiment. Etwas, wozu ihn sein Dozent – der bekannte Dokumentarfilm-Regisseur Michail Romm – ausdrücklich ermutigte.

Die Abschlussarbeit, Katok i skripka (dt. Die Straßenwalze und die Geige, 1961) stach künstlerisch schon hervor, auch wenn die Themenstellung noch sehr dem Zeitgeist verhaftet war, nämlich dem Verhältnis von (körperlicher) Arbeit zur Kunst – was in einem Land, das sich als das Vaterland aller Werktätigen verstand, ideologisch besetzt war. Die Kritik jedoch hatte ihn schon als „echten“ Tarkowski gewertet.2

Tarkowski als auteur des poetischen Films

Seine Bilder, eine geradezu surreale Ästhetik, die zwischen Sein und Schein operiert und Reminiszenzen erweckt – sie sind es, die Tarkowskis Filme in ihrer Gesamtheit für viele Cineasten schließlich einzigartig machen werden. Sei es bei Stalker (1979) in einer postapokalyptisch anmutenden Zone, bei Solaris (1972) auf einer Raumstation oder bei Nostalghia (1983) in einer Landschaft greifbar werdender Heimatlosigkeit. Es sind Bildkompositionen, wie sie seinerzeit nur die Natur des Zelluloids hervorbringen konnte.

Oft wird von ihrer „Wirkmächtigkeit“ gesprochen. Tarkowski selbst erklärte seine Filme zu Versuchen, seine eigene Wahrnehmung zu Bildern werden zu lassen. Sein assoziatives Spiel mit ihnen nannte er „Poesie“4 und stellte sie – in der Tradition der Romantiker – der Wissenschaft gegenüber. Dieses „Leben als Traum“, wie es der schwedische Regisseur Ingmar Bergman umschwärmte, ist charakteristisch für Tarkowskis Schaffen. Gleichzeitig suchte er immer das freie Spiel mit Bedeutungen und Lesarten. 

Spätestens mit dem Meisterwerk Andrej Rubljow (1966) hatte Tarkowski als auteur eine Handschrift entwickelt, und er war dabei, seine eigene Gattung zu schaffen: den poetischen Film.

Andrej Rubljow und der Eklat in Cannes

Gemeinsam mit Filmemacher und Freund Andrej Kontschalowski hatte er die Handlung entworfen und das Drehbuch geschrieben. Die beiden Andrejs stellen einen dritten Andrej in den Mittelpunkt, Andrej Rubljow, einen Mönch aus dem späten 14., frühen 15. Jahrhundert, über den es nur wenige historisch gesicherte Nachrichten gibt, der aber als Ikonenmaler stilbildend geworden ist und sich hoher Verehrung erfreut, auch als Heiliger.

Gezeigt wird Rubljow als ein Künstler, der den Menschen nicht mit Gott drohen will, der politischen Macht skeptisch gegenübersteht und in eine Krise gerät, aus der er erst herausfindet, als er sieht, mit welchem Mut sich ein junger Bursche ohne jede Vorerfahrung daran macht, eine Glocke zu gießen.

Der in schwarzweiß gedrehte Film endet mit einem farbigen Kaleidoskop von Ikonenpartien, die, mit einer an geistliche Gesänge erinnernden Musik unterlegt, den Zuschauer zur Meditation einlädt.

Als der gut dreieinhalb Stunden dauernde Film 1966 fertig war, hatte die Zensur einiges auszusetzen. Vor allem manche als brutal angesehene Szenen mussten herausgeschnitten werden, wodurch das Zeitbild nicht ganz so negativ erschien. Kritiker warfen Tarkowski vor, die Geschichte nicht richtig dargestellt zu haben. Das Publikum konnte dies aber nicht nachprüfen, da der Film zunächst unter Verschluss gehalten wurde.

Über Umwege wurde er 1968 in Cannes zu den Filmfestspielen nominiert, dann aber wegen angeblicher „künstlerischer Mängel“5 zurückgezogen. Erst 1969 konnte er dort – außer Konkurrenz – gezeigt werden und erhielt gleich den Kritiker-Preis, die erste von insgesamt neun Auszeichnungen. Bei den Offiziellen im Filmbetrieb der Sowjetunion rief diese nie ganz geklärte Geschichte mit der Nominierung6 in Cannes einige Verstimmung hervor, Cineasten in Ost und West aber waren begeistert.

Eigensinn und Rätselhaftigkeit

Auf Stanley Kubricks Welterfolg 2001 – A space Odyssey (2001- Odyssee im Weltraum, 1968) erwartete man in der Sowjetunion eine angemessene Antwort von Tarkowski und bedachte ihn mit dem Auftrag. Tarkowski verfilmte dazu die Erzählung Solaris von Stanisław Lem, und es wurde eine ganz eigene Interpretation. Der 1972 fertiggestellte Film hatte mit der Vorlage fast nur noch den Titel gemeinsam. Tarkowski verzichtete auf alle spektakulären technischen Details und schuf ein Drama um Schuld, individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis. 

War schon in Andrej Rubljow der Zuschauer gefordert zu mutmaßen, wie die Episoden der Handlung zusammenhängen, so nimmt in Solaris die für den reifen Tarkowski typische Rätselhaftigkeit noch deutlich zu. Einzelne Objekte, die sich einer symbolischen Eindeutigkeit entziehen, tauchen in vielen Filmen auf, als gehörten sie zu einer eigenen hermetischen Tarkowski-Welt: Holzhäuser, Tiere oder die Elemente, wie Wasser in Form von Regen, Seen und Flüssen, Erde, Luft, Feuer ... Tarkowski arbeitete zudem gern mit den gleichen Schauspielern und tauschte die Kameraleute nicht ständig aus. Eduard Artemjew schrieb ihm für drei Filme die zum Teil experimentelle Musik – für Tarkowski eine „privilegierte Klangsprache“ für eine „Symbiose mit den Bildern“.7

Tarkowski zwischen Ost und West

In seinem Schaffensdrang hatte er sich jedoch Zeit seines Lebens der sowjetischen Bürokratie zu erwehren, wurde bei Auftragsvergaben immer wieder ignoriert.8 Geldsorgen zwangen ihn, kommerzielle Drehbucharbeiten und Vorträge in der Provinz anzunehmen.9 Auch sorgte der sowjetische Filmverleih dafür, dass Sowjetbürger seine Filme in den Kinos nur schwer zu sehen bekamen. 

Bei all den Querelen: Es ist keineswegs so, dass Tarkowski etwas Dissidentisches in dem sah, was er tat und wie er seine Sujets verfilmte. Lust am Widerspruch auf der einen und eine eher diffuse Religiosität mit Hang zu Esoterik auf der anderen Seite machten ihn ebenso aus wie der tiefe Wunsch, seiner eigenen Kunstvorstellung zu folgen und trotzdem in der Heimat bleiben zu können. Was ihm nicht gelang. 

Um dem Korsett des sowjetischen Filmbetriebs zu entweichen, nahm er 1981 schließlich einen Auftrag in Italien an, obwohl ihm klar war, dass er seine Familie in der Sowjetunion zurücklassen musste. Der sehr persönliche Film Serkalo (dt. Der Spiegel, 1975) und die Sinnsuche von Stalker hatten ihn zuvor erneut dem Vorwurf ausgesetzt, unverständliche Filme zu drehen. Dabei traf etwa Serkalo durchaus den Nerv der Zuschauer in der Sowjetunion: Erzählt wird eine Kindheit in den Jahren der Stalinschen Herrschaft, jedoch so, dass sich viele in Situationen und Konstellationen erkannten. Der Spiegel wird hier Symbol und Metapher des Selbsterkennens in der Erinnerung. 

Als Vertreter der Sowjetunion Tarkowski bedrängten, er solle doch endlich aus Italien zurückkommen, beantragte er Asyl. Nur kurz nach Fertigstellung seines letzten Films Offret (dt. Opfer, 1986) starb er am 29. Dezember 1986 an Krebs, seine Familie ließ man noch zu ihm reisen. Beigesetzt wurde er in Paris.

„Ja, sein Grab ist nicht bei uns (und er ist daran schuldlos).“10



1.Franz, Norbert P. (2016): Filmographie, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico: Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 21
2.Maja Turovskaja nennt ihre Monographie in Anlehnung an Fellinis Film Otto e mezzo (1963): 7 i ½ fil‘my Andreja Tarkovskogo, – (dt. Die siebeneinhalb Filme des Andrej Tarkovskij) Moskau, 1991 – Katok i skripka ist als Kurzfilm der „halbe“.
3.Franz, Norbert P. (2016): Tarkovskijs Weg zum Klassiker, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico: Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 34
4.„Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. Dies ist für mich der richtige Weg filmischer Poesie. Denn das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.“, aus: Tarkowski, Andrej (1984): Die versiegelte Zeit, Berlin, S. 70
5.von Keitz, Ursula (2012): Andrej Tarkowskij: Andrej Rubljow (1966), in: Kiening, Chr. (Hrsg.): Mittelalter im Film, S. 298
6.Die Sowjets hatten den Film offenbar bereits (aus Versehen) an einen französischen Verleih verkauft, der ihn in Cannes bereitstellen konnte, vgl. ebd. Und: „Although screened at 4 a. m. on the festival’s last day, it was nevertheless awarded the International Critics’ Prize. Soviet authorities were infuriated; Leonid Brezhnev reportedly demanded a private screening and walked out mid-film“, in: Hoberman, James Lewis (1999): Andrei Rublev
7. Franz, Norbert P. (2016): Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Andrej Tarkovskij – Klassiker, classic, классик, classico. Beiträge des Ersten Internationalen Tarkovskij-Symposiums in Potsdam, September 2014, 2 Bde., Potsdam, S. 16
8.vgl. Franz, Norbert  P. (2016): Vom Werden und Selbstverständnis des Klassikers, in: ebd., S. 29
9.Schlegel, Hans-Joachim (2012): Zwischen Hier und Dort, in: Tarkovskij, Andrej A./Schlegel, Hans-Joachim/Schirmer, Lothar:  Andrej Tarkovskij: Leben und Werk: Schriften, Filme, Stills, Schirmer/Mosel, S. 8
10.Notizen von Alexander Sokurov zum Tod von Tarkovskij, in: ebd., S. 27

 

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Andrej Swjaginzew

Er war ein Laie, dessen erster Film 2003 mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig ausgezeichnet wurde. Heute zählt er zu den wichtigsten Regisseuren Russlands. Sein Werk Neljubow (Loveless) war für den Oscar nominiert. Eva Binder über den ungewöhnlichen Filmemacher Andrej Swjaginzew.

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Sergej Bondartschuk

Sergej Bondartschuk (1925–1994) war ein bedeutender sowjetischer und russischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. Bereits mit 32 Jahren wurde er als jüngster Schauspieler überhaupt als Volkskünstler der UdSSR ausgezeichnet. Sein Regiedebüt Ein Menschenschicksal (1959) gilt heute als Klassiker des sowjetischen Kinos. Im Westen wurde er vor allem durch die Verfilmung des Romans Krieg und Frieden (1967) von Lew Tolstoi bekannt, in der er auch eine der Hauptrollen übernahm. Der Film gehört zu den erfolgreichsten sowjetischen Filmen und hatte auch international großen Erfolg. 1969 erhielt er den Golden Globe und den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Weitere bedeutende Regiearbeiten Bondartschuks sind unter anderem Waterloo (1970), Boris Godunow (1986) und der Mehrteiler Der stille Don (1994).

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)