„Ich heiße Alexander Gorbunow, und ich bin der Autor des Telegram-Kanals Stalingulag.“ Mit diesen Worten outete sich Anfang Mai der Betreiber des populärsten Kreml-kritischen Telegram-Kanals Russlands in einem Interview mit BBC Russian Service. Schon 2017 meinte der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, dass der Autor von Stalingulag der wichtigste politische Kommentator des Landes sei, derzeit hat der Kanal auf Twitter über eine Million Follower, auf Telegram über 377.000 Abonnenten.
Lange rätselte man in Russland über die Identität des anonymen Autors. Im Sommer 2018 lieferte das Investigativmedium RBC Hinweise darauf, dass der 26-jährige Alexander Gorbunow aus Machatschkala derjenige sein muss: Der 2013 gegründete Twitter-Account @StalinGulag hieß nämlich zuvor @algorbunov.
Vermutlich aufgrund dieses Anhaltspunktes bekamen die Eltern des Bloggers Ende April Besuch von der Polizei. Sie gaben vor, wegen „Telefonterrors“ zu fahnden: Irgendjemand soll aus der Wohnung der Eltern eine telefonische Bombendrohung abgesetzt haben.
„Wie erfinderisch, früher konnten die einem einfach Drogen unterjubeln“, witzelte Stalingulag einen Tag später, noch anonym. Doch kurze Zeit später entschied sich Gorbunow, seine Identität zu lüften und die Öffentlichkeit zu suchen: Er outete sich zunächst auf BBC und später auf The Bell – auch, um seine Familie zu schützen.
Seine Aktivität auf Social Media, so erzählte er der BBC, habe er eher aus Langeweile begonnen, und Politik habe ihn schon immer interessiert. Russland sei für ein Leben im Rollstuhl überhaupt nicht geeignet, so der Blogger, der spinale Muskelatrophie hat. Computer und Internet seien die einzige Möglichkeit mitzubekommen, was in der Welt passiert.
Gorbunows Heraustreten aus der Anonymität erregte große Aufmerksamkeit, auch im Ausland. Gorbunow hat inzwischen einen neuen Telegram-Kanal gegründet. @Stalin_gulag_narodny versteht sich als Aggregator unterschiedlicher Meinungsposts.
Die Biografie des in Moskau lebenden Bloggers hat etwas Inspirierendes, meint das Onlinemedium The Bell. Das Medien-Start-up hat entschieden, das Interview mit Gorbunow in Form eines Monologs zu veröffentlichen – in dem er auch erklärt, warum Anonymität in Russland überlebensnotwendig ist und weshalb er seine dennoch aufgab.
https://www.youtube.com/watch?v=yMk1Rj9iVx8
Stalingulag war nur ein Twitter-Blog, um meine Gedanken zu äußern. Ich wollte nicht, dass er groß und viel gelesen wird. Ich habe nie Werbung geschaltet oder mit irgendwem kooperiert. Die erste gegenseitige PR habe ich gemacht, als ich auf Telegram 200.000 Follower hatte. Inzwischen kostet ein Post ab 150.000 [Rubel – ca. 2100 Euro, dek], je nach Format und Anzahl der Links.
Dabei war die Werbung immer kommerziell, nicht politisch. Telegram-Kanäle verdienen sonst vor allem mit bezahlten Polit-Posts. Aber solche Anfragen blocke ich ab. Fast täglich bekomme ich Angebote, meinen Kanal zu verkaufen. Aber ich werde nicht verkaufen. Ich habe nie auch nur ansatzweise mit irgendjemandem darüber gesprochen.
Meine Posts entstehen spontan. Ich blättere in Newstickern und sozialen Netzwerken und schreibe, wenn mich etwas bewegt. Jetzt wirft man mir fünf Jahre alte Tweets vor, die angeblich regierungsfreundlich waren. Aber das stimmt so nicht.
Ich könnte alles löschen. Sagen, dass es Fake ist. Aber das werde ich nicht machen. Stalingulag ist ein Teil von mir, warum sollte ich den löschen? Irgendwo habe ich vielleicht jemanden getrollt, falsche Schlüsse gezogen, war zu emotional – aber das war alles ich.
Irgendwo habe ich vielleicht jemanden getrollt, falsche Schlüsse gezogen, war zu emotional – aber das war alles ich
Ich bin in Machatschkala aufgewachsen und erhielt Hausunterricht, von einer ganz normalen Schule. Ich weiß nicht, wie es heute mit dem Hausunterricht läuft, aber damals lief alles so schlecht, dass die Lehrer manchmal nur fünf oder sechs Mal im Schuljahr bei mir waren. Sie kamen und sagten: „Hier hast du fünf Absätze zum Lesen, wenn ich wiederkomme, machst du mir eine Nacherzählung.“ Lernen und Unterricht oblag meinen Eltern, und im Grunde mir selbst.
Meine Mutter war ständig mit mir beim Arzt, bei Spezialisten in verschiedenen Städten und konnte nicht arbeiten, mein Vater war Bauleiter und Alleinverdiener in der Familie. Sie bauten eine Start- und Landebahn in Kaspijsk, einen Flughafen in Dagestan, Krankenhäuser.
Nachdem vor einer Woche die Polizei bei meinen Eltern aufgetaucht war, bekamen auch meine Cousins jeweils gegen ein Uhr nachts Besuch. Sie fragten sie ausschließlich nach mir: Wo ich sei, was ich tun und in welcher Beziehung ich zu ihnen stehen würde. Sie stellten ihre Fragen und gingen wieder. Meine Cousins sagten, sie wüssten von nichts.
Ungefähr in der siebten Klasse wurde mir klar, dass ich selbst Geld verdienen muss
Ungefähr in der siebten Klasse wurde mir klar, dass ich selbst Geld verdienen muss, weil es hinten und vorne nicht reichte. Eines Tages kam eine Bekannte vorbei und bot meinen Eltern einen Vitaminkomplex für mich an. Meine Eltern waren nicht sehr begeistert, aber ich begann sie nach ihrem Job auszufragen. Sie sagte, ich würde das auch können, da begann ich Handel zu treiben. Ausschließlich über Bekannte.
Ich versuchte es auch mit Kaltakquise, aber ohne Erfolg. Wenn ich jemanden auf der Straße ansprach, kramte der in der Hosentasche und hielt mir Kleingeld hin. Ich verdiente im Schnitt 100 bis 200 Dollar im Monat. Für Machatschkala war das richtig viel Geld. Staatsbeamte verdienten weniger. Bald konnte ich mir sogar Spontankäufe leisten – angesagte Klamotten, Café-Besuche.
In der achten Klasse ließ ich das langsam bleiben und konzentrierte mich auf Zielgruppenwerbung, begann Websites zu erstellen. Mit ungefähr fünfzehn sah ich eine Online-Werbung für einen Poker Room, so wurde das Pokern zu meiner neuen Einnahmequelle.
Studieren wollte ich nicht unbedingt
Studieren wollte ich nicht unbedingt. Um ehrlich zu sein, habe ich nie gerne gelernt und nie verstanden, was es mir nützen soll, wenn ich stattdessen auch im Internet surfen oder Counter-Strike spielen kann. Das Interesse an Büchern, an Geschichte und so weiter kam erst viel später. Damals hatte ich genug Geld, ich war selbständig und zufrieden mit der Situation. Aber meine Eltern mit ihrer alten sowjetischen Denke sagten: „Wie willst du denn leben ohne Hochschulabschluss? Das ist doch peinlich, alle haben einen, und du nicht?“ oder „Du machst da unseriöses Zeug, und morgen verlässt dich Fortuna, und dann stehst du mit leeren Händen da.“
Also schrieb ich mich an der Uni in Machatschkala ein, am Institut für Wirtschaft und Recht und habe Jura studiert. Das ist eine kleine Uni, vor allem dafür bekannt, dass Ramsan Kadyrow dort studiert hat. Es war nicht schwer, dort angenommen zu werden. Ich hätte eigentlich auch überall anders studieren können, meine Noten waren ganz gut.
Ich dachte sogar daran, nach Moskau zu gehen. Ich rief an der Higher School of Economics an, aber man sagte mir, dass die Einrichtung nicht für Menschen mit Behinderung geeignet sei und ich nur einzelne Vorlesungen besuchen könne. Ich telefonierte dann noch ein Dutzend weiterer Hochschulen ab und merkte, dass es für mich nirgendwo möglich wäre, regelmäßig Seminare zu besuchen.
Was macht es dann für einen Unterschied, wo man studiert? In Machatschkala fuhr ich nur zu den Prüfungen zur Uni. Damit ich sie ablegen konnte, kamen die Dozenten extra ins Dekanat im Erdgeschoss.
Nach meinem Abschluss begann ich, nach Moskau zu fahren, erst für drei, dann für sechs Monate. Das war ein schleichender Umzug.
Ich beschäftige zwei Fahrer. Das ist eine Notwendigkeit
Am ersten jeden Monats bezahle ich 400.000 Rubel [ca. 5500 Euro – dek] – die Miete, zwei Fahrer und eine Haushaltshilfe. Ich habe zwei Fahrer, weil es ziemlich schwer ist, eine Anzeige für eine Personalagentur zu formulieren: „Ich suche jemanden, der mir beim Treppensteigen und Überwinden von Türschwellen hilft.“ So einen Beruf gibt es nicht. Also beschäftige ich zwei Fahrer. Das ist eine Notwendigkeit. Plus die Ausgaben für Essen, Freizeit, Benzin und so weiter.
Heute besteht mein Arbeitsplatz aus Notebook und Smartphone – Steve Jobs sei Dank. Es gab Zeiten, da arbeitete ich am Computer mit mehreren großen Bildschirmen. Aber mit der Zeit kam ich hinter die Erfolgsformel: „Weniger ist mehr.“
Ende der elften Klasse habe ich damit angefangen, mich mit dem Wertpapierhandel zu beschäftigen. Im Prinzip haben Poker und die Börse viel gemeinsam, weil man in beiden Fällen mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet. Das Einzige, was du kontrollieren kannst, ist dein Risiko. Das ist die einzige Konstante.
Das Einzige, was du kontrollieren kannst, ist dein Risiko. Das ist die einzige Konstante
Zunächst habe ich auf dem US-Markt mit Aktien gehandelt. Beim ersten Mal habe ich 1000 Dollar investiert. Und sie glorreich in den Sand gesetzt. Beim zweiten Mal verlor ich nicht mehr, aber bis ich dort war, wo ich heute stehe, war es ein langer Weg. Eine schmerzhafte Suche nach der eigenen Strategie.
Ich hatte die Idee, einen Fonds zu gründen – eine Infrastruktur, um nicht mit Privatvermögen zu handeln, sondern Handelskapital anzuhäufen und Investoren anzulocken. Ich beriet mich mit Fachleuten auf dem Gebiet, aber dann erschien der Artikel bei RBC, und man sagte mir, ich bräuchte es gar nicht erst zu versuchen.
Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt bei meinen Eltern aufgetaucht sind
Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt bei meinen Eltern aufgetaucht sind. Ich habe nichts Außergewöhnliches geschrieben, Verkaufsanfragen gab es vorher auch keine. Vielleicht ist der Kanal zu groß geworden und die Zeit einfach reif. Vielleicht hat es mit den neuen Gesetzen zu tun, die die Redefreiheit im Internet einschränken.
Ich vermute, es ist zwecklos, das Vorgehen dieser Leute rational erklären zu wollen. Wenn man lange in seiner Blase lebt und nur die Informationen bekommt, die man hören will, entsteht ein verzerrtes Bild von der Realität. Wer weiß, was sie da durch ihre Lupe auf dem Bildschirm gesehen haben. Vielleicht ist irgendein Beamter oder General zufällig auf einen Screenshot mit dem Wort „Dachschaden“ gestoßen, das ich öfter mal benutze, und hat sich empört: „Wer ist das? Spinnt der? Sofort finden!“ Ich habe jedenfalls keine Ahnung, was passiert ist und warum.
Die Leute laden mich nach Berlin, Paris, Kasachstan, in die Ukraine ein
Aber mein plötzlicher Ruhm hat mir wieder einmal gezeigt, dass da draußen viel mehr gute als schlechte Menschen sind. Ich bekomme täglich Hunderte von Nachrichten aus dem ganzen Land. Ich versuche, jedem zu antworten. Die Leute bieten mir an, bei Ihnen auf der Datscha zu wohnen oder mir 300 Rubel [etwa 4 Euro – dek] zu überweisen, laden mich nach Berlin, Paris, Kasachstan, in die Ukraine ein und so weiter. Das ist schön und berührt mich. Der Kanal hat jetzt noch mal 40.000 Follower mehr.
Andererseits gibt es auf Twitter auch eine Menge Hass und Nachrichten wie: „Du bist geliefert, pass gut auf, Genosse Major hält eine Flasche für dich bereit“ und andere Bullenspäße. Das ist ok. Jeder hat das Recht mich zu hassen und sogar zu beleidigen.
Nicht okay sind die Leute, die ein Video mit den persönlichen Daten meiner Cousins und deren minderjährigen Kindern und Privatadressen auf YouTube hochgeladen haben. Das ist niederträchtig.
Was hat meine Familie damit zu tun? Ich rede mit ihnen nicht mal über Politik. Meine Cousins wussten nix von Stalingulag, bis die Polizei bei ihnen vor der Tür stand (von dem RBC-Artikel haben sie nichts mitbekommen). Sie riefen bei mir an und fragten: „Was hast du denn wirklich gemacht?“, weil ihnen klar war, dass die Geschichte mit dem Telefonterror Schwachsinn ist. Erst da habe ich ihnen von dem Kanal erzählt. Sie lesen ihn seit einer knappen Woche. Sagen, dass er ihnen gefällt. Vielleicht wollen sie mich auch nur unterstützen. Genau deswegen wollte ich anonym bleiben – wegen meiner Familie.
Die Anonymität ist eine Möglichkeit sich zu verstecken, aber zu sagen, was man denkt
Anonymität erwächst aus der Ausweglosigkeit. Sie entsteht, wenn es keine andere Wahl gibt. Telegram-Kanäle entwickeln sich nur in Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt. In den USA gibt es keine Kanäle mit hunderttausenden Followern, in Russland schon – weil die Presse sich heute nicht das erlauben kann, was sich anonyme Kanäle erlauben. Die Menschen können ihre Meinung nirgendwo äußern. Die Anonymität ist für sie eine Möglichkeit sich zwar zu verstecken, aber wenigstens zu sagen, was sie denken.
In einem Land gegen die Anonymität zu sein, in dem es kein faires Gericht gibt und die Menschen wegen Likes, Reposts und Fotos eingesperrt werden, ist absurd. Ich werde mich nie für Entanonymisierung aussprechen, egal, ob ich mit der Position des Autors einverstanden bin oder nicht, ganz besonders, wenn er niemandem schadet.
Gegen Anonymität zu sein, wenn Menschen wegen Likes, Reposts und Fotos eingesperrt werden, ist absurd
Im Moment verstehe ich überhaupt nicht, was passiert oder wie es weitergeht. Anonyme User schreiben mir: „Warte die Feiertage ab, dann wirst du sehen, wer die Befragungen angeordnet hat, wir leben doch im Land der Handsteuerung, irgendwer hatte ein Interesse daran.“
Naja, wer auch immer dahinter steckt, der kann sich jetzt zurücklehnen. Aber vielleicht hat er auch ganz andere Sorgen. Noch ist nichts vorbei, irgendwas wird kommen.