Die islamisch geprägte Teilrepublik Tschetschenien gilt auch in der Literatur oft als Russlands „Anderer“. So anders strukturiert als der Rest Russlands, meint dagegen der Soziologe Denis Sokolow, sei sie aber nicht. Nur geschehe hier „alles unverhüllt“: „Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um“, sagt er im Interview mit Rosbalt.
Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren die Menschenrechtslage in Tschetschenien schon seit langem. Im Jahresbericht von 2017 etwa ist von öffentlichem Druck auf Behörden und Justiz genauso die Rede wie von Schikanen, denen Menschenrechtsverteidiger immer wieder ausgesetzt sind. Amnesty nennt auch den Fall des kritischen, unabhängigen Journalisten Shalaudi Gerijew, der wegen des Besitzes von 167 Gramm Marihuana zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Im Prozess hatte er angegeben, dass sein „Geständnis“ nach Folter erzwungen worden war.
Der Fall ist nicht der einzige seiner Art: Erst am 9. Januar 2018 wurde der bekannte Menschenrechtler Ojub Titijew, Leiter des Memorial-Büros in Grosny, festgenommen wegen angeblichen Besitzes von 180 Gramm Marihuana, das man während einer Autokontrolle bei ihm gefunden haben will. Prominente Vertreter internationaler Menschenrechtsorganisationen haben sich für Titijew ausgesprochen und sind von seiner Unschuld überzeugt.
Das Portal Meduza nimmt ein weiteres Phänomen in den Fokus: Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig? Meduza über eine erniedrigende Praxis und eine Gesellschaft, in der viele den Ehrverlust mehr fürchteten als den Tod.
Am 18. Dezember 2015 strahlte der tschetschenische staatliche Fernsehsender Grosny folgenden Bericht aus: Das Oberhaupt der Republik Ramsan Kadyrow trifft die tschetschenische Bürgerin Aischat Inajewa. Inajewa sitzt ganz am Rand einer Couch, starrt auf den Boden und hat offenbar große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Die Frau ist so niedergeschlagen, dass Kadyrow sie nicht zum Reden bringen kann und sich an ihren Mann wendet: „Magomet, bei Allah, bring deine Frau dazu, mir Fragen zu stellen!“ Inajewa sagt so gut wie nichts, sie entschuldigt und rechtfertigt sich nur.
Kurz vor dem Treffen war auf WhatsApp (die App gehört zu den wichtigsten inoffiziellen Medien in Tschetschenien) eine Audiobotschaft von Aischat Inajewa aufgetaucht, die an einem Rehabilitationszentrum arbeitet. Darin beschwert sie sich über die Nebenkosten-Vorauszahlungen, die von Mietern verlangt werden. Inajewa verweist auf die Armut der einfachen Tschetschenen, kritisiert Kadyrow für seine „Angeberei“ und dafür, dass er mit kostspieligen Geschenken um sich werfe.
Beim Treffen mit dem Oberhaupt der Republik nimmt Inajewa ihre Worte zurück und beteuert, sie sei „vermutlich nicht ganz bei Verstand“ gewesen. Zuvor wurde Inajewa schon bei einer Bürgerversammlung in ihrem Heimatbezirk, dem Nadteretschenski Rajon, öffentlich verurteilt.
Zwei Tage nach dem Beitrag über Aischat Inajewa tauchte im Internet ein Entschuldigungsvideo des Bloggers Adam Dikajew auf. In dem Video läuft er ohne Hosen auf einem Laufband, erklärt, er sei ein Nichts, und singt das Lied Mein bester Freund – das ist Präsident Putin.
Eine Woche zuvor hatte der Blogger Kadyrow dafür kritisiert, dass er am Jahrestag des Tschetschenienkrieges auf Instagram ein Video gepostet hat, das ihn beim Training auf dem Laufband zeigt, während im Hintergrund das besagte Lied läuft.
Neues Genre
Die Entschuldigungen von Aischat Inajewa und Adam Dikajew von 2015 waren wohl die ersten einem breiten Publikum bekannten Beispiele dieses Genres, das in Wirklichkeit bereits einige Jahre zuvor entstanden ist. Es gibt keinen strengen Kanon, allerdings ein paar gemeinsame Merkmale: Der Mensch im Bild wirkt erniedrigt – und es sieht nicht so aus, als könnte er seine Teilnahme am Videodreh verweigern.
Igor Kaljapin, Leiter der NGO Komitee zur Verhinderung von Folter, hat viele Jahre in Tschetschenien gearbeitet. Er zweifelt nicht daran, dass die Menschen in den Entschuldigungsvideos schlichtweg keine Wahl hatten. „Ich denke, dass er [Adam Dikajew] mit massiven Mitteln zu dieser ‚Entschuldigung‘ genötigt wurde, denn in der Tschetschenischen Republik wirkt das extrem erniedrigend – ohne Hose auf dem Laufband.“
Kaljapin zufolge verschwinden die Menschen oft für einige Tage, bevor sie sich entschuldigen. So war es auch im Fall der Journalisten Riswan Ibragimow und Abubakar Didijew. Sie verschwanden in der Nacht zum 1. April 2016 und tauchten einige Tage später wieder auf bei einem TV-Treffen von Ramsan Kadyrow mit tschetschenischen Historikern und Schriftstellern. In der Sendung des Staatssenders Grosny stehen Ibragimow und Didijew mit verängstigten Gesichtern im Hintergrund und hören zu, wie die anderen Teilnehmer ihre Bücher kritisieren. Am Ende entschuldigen sie sich nicht einfach nur in die Kamera, sondern sprechen einem Priester die Worte eines Bußgebets nach. Ein paar Monate später werden die Bücher von Ibragimow und Didijew von einem Gericht für extremistisch befunden. Vor Gericht sagte Ibragimow aus, er habe nach der Verhaftung vier Tage in der regionalen Abteilung für innere Angelegenheiten des Oktjabrski Rajon von Grosny verbracht, wo er mit Stromschlägen gefoltert worden sei.
Jeder Unzufriedene gilt als maskierter Feind
Seitdem gab es in den Medien ein paar Dutzend solcher öffentlichen Entschuldigungen. Der Großteil von ihnen richtete sich an Ramsan Kadyrow persönlich oder an die tschetschenische Regierung. Laut Tatjana Lokschina und vielen anderen Experten war es Kadyrow, der diese Standards setzte, die nun auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus Anwendung finden.
Anhand der Beiträge des Staatssenders Grosny aus dem letzten Jahr zeigt sich, dass es gar nicht notwendig ist, direkte Kritik an der Regierung zu üben, um zum Protagonisten einer erniedrigenden TV-Reportage zu werden. Es genügt, sich zu beschweren oder öffentlich um Hilfe zu bitten oder in irgendeiner Form anzudeuten, dass die Regierung der Republik nicht effektiv arbeite.
„Die Menschen in Tschetschenien sollen glücklich sein und ihren Herrscher loben, wie man Kadyrow in den letzten Jahren üblicherweise nennt“, erklärt Kaljapin. „Jeder Mensch, der mit irgendwas unzufrieden ist, ist ein maskierter Feind. Er muss enttarnt und zu einer Entschuldigung gezwungen werden.“
Laut Kaljapin, werden solche „Feinde“, die es wagen, offizielle Beschwerdebriefe gegen Silowiki und Beamte bei der Staatsanwaltschaft oder dem Ermittlungskomitee einzureichen, mit besonderer Härte verfolgt.
Als Beispiel führt er den Fall von Ramasan Dshelaldinow aus dem Dorf Kechni an. Dieser hatte eine Videobotschaft an Putin aufgenommen, in der er sich über Korruption beschwert. Danach wurde sein Haus in Brand gesetzt, er selbst wurde mit einem Verweis auf das Schicksal der ermordeten Brüder Jamadajew und Boris Nemzows zur Ausreise aus Tschetschenien gezwungen.
Weibliche Angehörige dieses Tschetschenen mit der Videobotschaft an Putin berichten, sie seien nachts aus dem Haus gezerrt worden, man habe ihnen gedroht, sie in eine Schlucht zu werfen und habe direkt über ihren Köpfen Schüsse abgefeuert.
Diejenigen, die sich in Sozialen Netzwerken über ihr Alltagsleben beschweren, werden nicht ganz so hart verfolgt, sie werden zu Protagonisten in erniedrigenden Reportagen auf Grosny. Meduza hat etwa zwei Dutzend solcher TV-Berichte analysiert. Sie alle folgen einem ähnlichen Schema und sollen immer dieselbe simple Botschaft vermitteln: sich im Internet zu beschweren ist schlecht und eine Schande.
Der Aufbau einer typischen Reportage dieses Genres sieht in etwa so aus:
1. Der Macher der Reportage berichtet, dass in Sozialen Netzwerken oder über WhatsApp ein Video/eine Beschwerde verbreitet wird – es folgt ein Screenshot oder ein Ausschnitt aus dem Video.
2. Auf Anweisung des Oberhaupts der Republik wird eine besondere Kommission gebildet, um die Sache zu klären – für gewöhnlich mit hochrangigen Personen: Ministern, Kreisvorsitzenden und so weiter. In seltenen Fällen sogar Kadyrow selbst.
3. Es stellt sich heraus, dass der Verfasser der Beschwerde oder der Macher des Skandal-Videos selbst an allem Schuld ist. Seine Motive können folgendermaßen ausfallen:
– Er wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er falsche Gerüchte und Tratsch verbreitet.
– Er wollte sich auf fremde Kosten bereichern und seine Wohnsituation verbessern.
4. Angehörige des Protagonisten und andere Interviewpartner erklären, es sei alles in Ordnung und seine Anschuldigungen seien frei erfunden.
5. Die Kommissionsmitglieder entrüsten sich darüber, dass Menschen Falschmeldungen verbreiteten, während in der Republik so viel für die allgemeine Sicherheit/das Gesundheitswesen/die Unterstützung der Armen/das Wohlbefinden junger Mütter getan werde. Sie beklagen, dass derlei falsche Anschuldigungen die Regierungsorgane davon abbrächten, jenen zu helfen, die es wirklich brauchen.
6. Der Protagonist der Reportage erkennt an, dass er im Unrecht war, er entschuldigt sich oder steht einfach nur beschämt da.
7. Der Macher der Reportage beendet den Beitrag mit der Moral: Man darf keine Gerüchte und Tratsch verbreiten und sich nicht auf fremde Kosten bereichern.
Keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Ehrverlust
Die tschetschenische Gesellschaft basiere auf dem Prinzip der Ehre, nicht nur der eigenen, sondern auch der Familienehre, erklärt die Projektdirektorin der NGO International Crisis Group Jekaterina Sokirjanskaja. „Wenn du beleidigt wurdest und deine Familie nicht angemessen reagieren konnte, leiden alle Verwandten darunter – deine Schwestern werden nicht heiraten, deine Brüder werden es schwer haben, einen Job zu finden, die ganze Familie wird einen Statusverlust erleiden“, erklärt die Expertin.
Genau dieser Umstand macht ihr zufolge die Praxis der öffentlichen Entschuldigung zu einer so effektiven Methode der Kontrolle über die Gesellschaft – sogar effektiver als Todesdrohungen, denn die Tschetschenen haben keine Angst vor dem Tod. Eine andere sehr effektive Methode ist, auf die Verwandten Druck auszuüben. Denn jeder Mensch kommt besser zurecht mit der Bedrohung der eigenen Sicherheit als der seiner Angehörigen.
Sokirjanskaja vermutet (wie auch die Leiterin des Moskauer Büros von Human Rights Watch Tatjana Lokschina), man könne die Ursprünge des Genres tschetschenischer Zwangs-Entschuldigungen in einer ähnlichen in dieser Region weit verbreiteten Praxis suchen: wenn Verwandte von Kämpfern dazu gezwungen werden, sich von ihren Familienmitgliedern loszusagen und sie somit aus dem gesellschaftlichen Leben zu streichen.
Über die Grenzen Tschetscheniens hinaus
Anfang 2016 verbreitete sich das Format der öffentlichen Entschuldigung auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Konstantin Sentschenko, ein Abgeordneter des Stadtrats von Krasnojarsk, reagierte auf beleidigende Aussagen des tschetschenischen Regierungsoberhaupts gegen die russische Opposition damit, dass er ihn auf Facebook „eine Schande für Russland“ nannte, die „alles, was nur ging, diskreditiert“ habe.
Einige Tage später veröffentlichte Kadyrow ein Video auf Instagram, worin der Abgeordnete für seine Worte um Vergebung bittet: Er habe sich „nach persönlichen Gesprächen mit Vertretern des tschetschenischen Volkes“ dazu entschlossen. Als Verhandlungsführer fungierte damals Buwaissar Saitijew, dreifacher Olympiasieger im Freistilringen und Ehrenbürger der Stadt Krasnojarsk.
Vor laufender Kamera verprügelt
Später versicherte Sentschenko, er habe nicht mit einer Veröffentlichung des Videos gerechnet, und die Entschuldigung habe er im Rahmen eines privaten Gesprächs erbracht. Der Abgeordnete sagte, er sei nicht direkt bedroht worden, es habe aber Anspielungen auf mögliche Unannehmlichkeiten gegeben.
Seit Anfang 2016 tauchten vermehrt Videos auf, in denen sich die Menschen nicht bei Ramsan Kadyrow, sondern bei Ramasan Abdulatipow, dem damaligen Oberhaupt der Republik Dagestan, entschuldigen müssen. In einem schlagen Unbekannte vor laufender Kamera auf einen Menschen ein und fordern eine Entschuldigung.
Entschuldigungen werden aber nicht nur vor den Oberhäuptern der Republiken fällig. Mittlerweile kann jeder jeden zur Entschuldigung zwingen, wie der Fall von Oleg Tereschenko zeigt. Der Student der RANCHiGS wurde von seinen Kommilitonen dazu gezwungen, sich für Kommentare bei VKontakte zu entschuldigen, die sie als beleidigend empfunden hatten. Gibt man bei Sozialen Netzwerken „zur Entschuldigung gezwungen“ ins Suchfeld ein, stößt man auf zahlreiche ähnliche Videos.
Verwandte als „Mittäter“
Die tschetschenische Regierung hat mehr als einmal erklärt, dass für terroristische Straftaten die Angehörigen der Verdächtigen zur Rechenschaft gezogen werden: Mehr als einmal wurden die Häuser von Familien niedergebrannt und die Menschen gezwungen, die Republik zu verlassen. Laut Jekaterina Sokirjanskaja zählt die Regierung diese Verwandten als „Mittäter“, obwohl man bestens weiß, dass die Verwandten in den meisten Fällen überhaupt keine Ahnung haben, dass ihre Kinder in den Einfluss von Terrororganisationen geraten sind.
Die Menschenrechtlerin Tatjana Lokschina ist überzeugt, dass gerade die tschetschenische Praxis der öffentlichen Entschuldigung die Standards für alle anderen gesetzt habe. Laut Lokschina nimmt die Zahl der öffentlichen Entschuldigungen zu, weil die föderale Regierung in Moskau nichts gegen die tschetschenischen Fälle unternimmt, selbst wenn Bewohner anderer Regionen betroffen sind.