Medien

Schuld und Sühne à la Kadyrow

Die islamisch geprägte Teilrepublik Tschetschenien gilt auch in der Literatur oft als Russlands „Anderer“. So anders strukturiert als der Rest Russlands, meint dagegen der Soziologe Denis Sokolow, sei sie aber nicht. Nur geschehe hier „alles unverhüllt“: „Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um“, sagt er im Interview mit Rosbalt.

Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren die Menschenrechtslage in Tschetschenien schon seit langem. Im Jahresbericht von 2017 etwa ist von öffentlichem Druck auf Behörden und Justiz genauso die Rede wie von Schikanen, denen Menschenrechtsverteidiger immer wieder ausgesetzt sind. Amnesty nennt auch den Fall des kritischen, unabhängigen Journalisten Shalaudi Gerijew, der wegen des Besitzes von 167 Gramm Marihuana zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Im Prozess hatte er angegeben, dass sein „Geständnis“ nach Folter erzwungen worden war.

Der Fall ist nicht der einzige seiner Art: Erst am 9. Januar 2018 wurde der bekannte Menschenrechtler Ojub Titijew, Leiter des Memorial-Büros in Grosny, festgenommen wegen angeblichen Besitzes von 180 Gramm Marihuana, das man während einer Autokontrolle bei ihm gefunden haben will. Prominente Vertreter internationaler Menschenrechtsorganisationen haben sich für Titijew ausgesprochen und sind von seiner Unschuld überzeugt.

Das Portal Meduza nimmt ein weiteres Phänomen in den Fokus: Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig? Meduza über eine erniedrigende Praxis und eine Gesellschaft, in der viele den Ehrverlust mehr fürchteten als den Tod.

Quelle Meduza

Am 18. Dezember 2015 strahlte der tschetschenische staatliche Fernsehsender Grosny folgenden Bericht aus: Das Oberhaupt der Republik Ramsan Kadyrow trifft die tschetschenische Bürgerin Aischat Inajewa. Inajewa sitzt ganz am Rand einer Couch, starrt auf den Boden und hat offenbar große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Die Frau ist so niedergeschlagen, dass Kadyrow sie nicht zum Reden bringen kann und sich an ihren Mann wendet: „Magomet, bei Allah, bring deine Frau dazu, mir Fragen zu stellen!“ Inajewa sagt so gut wie nichts, sie entschuldigt und rechtfertigt sich nur.

Kurz vor dem Treffen war auf WhatsApp (die App gehört zu den wichtigsten inoffiziellen Medien in Tschetschenien) eine Audiobotschaft von Aischat Inajewa aufgetaucht, die an einem Rehabilitationszentrum arbeitet. Darin beschwert sie sich über die Nebenkosten-Vorauszahlungen, die von Mietern verlangt werden. Inajewa verweist auf die Armut der einfachen Tschetschenen, kritisiert Kadyrow für seine „Angeberei“ und dafür, dass er mit kostspieligen Geschenken um sich werfe.

Beim Treffen mit dem Oberhaupt der Republik nimmt Inajewa ihre Worte zurück und beteuert, sie sei „vermutlich nicht ganz bei Verstand“ gewesen. Zuvor wurde Inajewa schon bei einer Bürgerversammlung in ihrem Heimatbezirk, dem Nadteretschenski Rajon, öffentlich verurteilt.

Zwei Tage nach dem Beitrag über Aischat Inajewa tauchte im Internet ein Entschuldigungsvideo des Bloggers Adam Dikajew auf. In dem Video läuft er ohne Hosen auf einem Laufband, erklärt, er sei ein Nichts, und singt das Lied Mein bester Freund – das ist Präsident Putin.
Eine Woche zuvor hatte der Blogger Kadyrow dafür kritisiert, dass er am Jahrestag des Tschetschenienkrieges auf Instagram ein Video gepostet hat, das ihn beim Training auf dem Laufband zeigt, während im Hintergrund das besagte Lied läuft.

Neues Genre

Die Entschuldigungen von Aischat Inajewa und Adam Dikajew von 2015 waren wohl die ersten einem breiten Publikum bekannten Beispiele dieses Genres, das in Wirklichkeit bereits einige Jahre zuvor entstanden ist. Es gibt keinen strengen Kanon, allerdings ein paar gemeinsame Merkmale: Der Mensch im Bild wirkt erniedrigt – und es sieht nicht so aus, als könnte er seine Teilnahme am Videodreh verweigern.

Igor Kaljapin, Leiter der NGO Komitee zur Verhinderung von Folter, hat viele Jahre in Tschetschenien gearbeitet. Er zweifelt nicht daran, dass die Menschen in den Entschuldigungsvideos schlichtweg keine Wahl hatten. „Ich denke, dass er [Adam Dikajew] mit massiven Mitteln zu dieser ‚Entschuldigung‘ genötigt wurde, denn in der Tschetschenischen Republik wirkt das extrem erniedrigend – ohne Hose auf dem Laufband.“

Kaljapin zufolge verschwinden die Menschen oft für einige Tage, bevor sie sich entschuldigen. So war es auch im Fall der Journalisten Riswan Ibragimow und Abubakar Didijew. Sie verschwanden in der Nacht zum 1. April 2016 und tauchten einige Tage später wieder auf bei einem TV-Treffen von Ramsan Kadyrow mit tschetschenischen Historikern und Schriftstellern. In der Sendung des Staatssenders Grosny stehen Ibragimow und Didijew mit verängstigten Gesichtern im Hintergrund und hören zu, wie die anderen Teilnehmer ihre Bücher kritisieren. Am Ende entschuldigen sie sich nicht einfach nur in die Kamera, sondern sprechen einem Priester die Worte eines Bußgebets nach. Ein paar Monate später werden die Bücher von Ibragimow und Didijew von einem Gericht für extremistisch befunden. Vor Gericht sagte Ibragimow aus, er habe nach der Verhaftung vier Tage in der regionalen Abteilung für innere Angelegenheiten des Oktjabrski Rajon von Grosny verbracht, wo er mit Stromschlägen gefoltert worden sei.

Jeder Unzufriedene gilt als maskierter Feind

Seitdem gab es in den Medien ein paar Dutzend solcher öffentlichen Entschuldigungen. Der Großteil von ihnen richtete sich an Ramsan Kadyrow persönlich oder an die tschetschenische Regierung. Laut Tatjana Lokschina und vielen anderen Experten war es Kadyrow, der diese Standards setzte, die nun auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus Anwendung finden.

Anhand der Beiträge des Staatssenders Grosny aus dem letzten Jahr zeigt sich, dass es gar nicht notwendig ist, direkte Kritik an der Regierung zu üben, um zum Protagonisten einer erniedrigenden TV-Reportage zu werden. Es genügt, sich zu beschweren oder öffentlich um Hilfe zu bitten oder in irgendeiner Form anzudeuten, dass die Regierung der Republik nicht effektiv arbeite.

„Die Menschen in Tschetschenien sollen glücklich sein und ihren Herrscher loben, wie man Kadyrow in den letzten Jahren üblicherweise nennt“, erklärt Kaljapin. „Jeder Mensch, der mit irgendwas unzufrieden ist, ist ein maskierter Feind. Er muss enttarnt und zu einer Entschuldigung gezwungen werden.“

Laut Kaljapin, werden solche „Feinde“, die es wagen, offizielle Beschwerdebriefe gegen Silowiki und Beamte bei der Staatsanwaltschaft oder dem Ermittlungskomitee einzureichen, mit besonderer Härte verfolgt.

Als Beispiel führt er den Fall von Ramasan Dshelaldinow aus dem Dorf Kechni an. Dieser hatte eine Videobotschaft an Putin aufgenommen, in der er sich über Korruption beschwert. Danach wurde sein Haus in Brand gesetzt, er selbst wurde mit einem Verweis auf das Schicksal der ermordeten Brüder Jamadajew und Boris Nemzows zur Ausreise aus Tschetschenien gezwungen.

Weibliche Angehörige dieses Tschetschenen mit der Videobotschaft an Putin berichten, sie seien nachts aus dem Haus gezerrt worden, man habe ihnen gedroht, sie in eine Schlucht zu werfen und habe direkt über ihren Köpfen Schüsse abgefeuert.

Diejenigen, die sich in Sozialen Netzwerken über ihr Alltagsleben beschweren, werden nicht ganz so hart verfolgt, sie werden zu Protagonisten in erniedrigenden Reportagen auf Grosny. Meduza hat etwa zwei Dutzend solcher TV-Berichte analysiert. Sie alle folgen einem ähnlichen Schema und sollen immer dieselbe simple Botschaft vermitteln: sich im Internet zu beschweren ist schlecht und eine Schande.

Der Aufbau einer typischen Reportage dieses Genres sieht in etwa so aus:

1. Der Macher der Reportage berichtet, dass in Sozialen Netzwerken oder über WhatsApp ein Video/eine Beschwerde verbreitet wird – es folgt ein Screenshot oder ein Ausschnitt aus dem Video.

2. Auf Anweisung des Oberhaupts der Republik wird eine besondere Kommission gebildet, um die Sache zu klären – für gewöhnlich mit hochrangigen Personen: Ministern, Kreisvorsitzenden und so weiter. In seltenen Fällen sogar Kadyrow selbst.

3. Es stellt sich heraus, dass der Verfasser der Beschwerde oder der Macher des Skandal-Videos selbst an allem Schuld ist. Seine Motive können folgendermaßen ausfallen:

– Er wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er falsche Gerüchte und Tratsch verbreitet.

– Er wollte sich auf fremde Kosten bereichern und seine Wohnsituation verbessern.

4. Angehörige des Protagonisten und andere Interviewpartner erklären, es sei alles in Ordnung und seine Anschuldigungen seien frei erfunden.

5. Die Kommissionsmitglieder entrüsten sich darüber, dass Menschen Falschmeldungen verbreiteten, während in der Republik so viel für die allgemeine Sicherheit/das Gesundheitswesen/die Unterstützung der Armen/das Wohlbefinden junger Mütter getan werde. Sie beklagen, dass derlei falsche Anschuldigungen die Regierungsorgane davon abbrächten, jenen zu helfen, die es wirklich brauchen.

6. Der Protagonist der Reportage erkennt an, dass er im Unrecht war, er entschuldigt sich oder steht einfach nur beschämt da.

7. Der Macher der Reportage beendet den Beitrag mit der Moral: Man darf keine Gerüchte und Tratsch verbreiten und sich nicht auf fremde Kosten bereichern.

Keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Ehrverlust

Die tschetschenische Gesellschaft basiere auf dem Prinzip der Ehre, nicht nur der eigenen, sondern auch der Familienehre, erklärt die Projektdirektorin der NGO International Crisis Group Jekaterina Sokirjanskaja. „Wenn du beleidigt wurdest und deine Familie nicht angemessen reagieren konnte, leiden alle Verwandten darunter – deine Schwestern werden nicht heiraten, deine Brüder werden es schwer haben, einen Job zu finden, die ganze Familie wird einen Statusverlust erleiden“, erklärt die Expertin.

Genau dieser Umstand macht ihr zufolge die Praxis der öffentlichen Entschuldigung zu einer so effektiven Methode der Kontrolle über die Gesellschaft – sogar effektiver als Todesdrohungen, denn die Tschetschenen haben keine Angst vor dem Tod. Eine andere sehr effektive Methode ist, auf die Verwandten Druck auszuüben. Denn jeder Mensch kommt besser zurecht mit der Bedrohung der eigenen Sicherheit als der seiner Angehörigen.

Sokirjanskaja vermutet (wie auch die Leiterin des Moskauer Büros von Human Rights Watch Tatjana Lokschina), man könne die Ursprünge des Genres tschetschenischer Zwangs-Entschuldigungen in einer ähnlichen in dieser Region weit verbreiteten Praxis suchen: wenn Verwandte von Kämpfern dazu gezwungen werden, sich von ihren Familienmitgliedern loszusagen und sie somit aus dem gesellschaftlichen Leben zu streichen.

Über die Grenzen Tschetscheniens hinaus

Anfang 2016 verbreitete sich das Format der öffentlichen Entschuldigung auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Konstantin Sentschenko, ein Abgeordneter des Stadtrats von Krasnojarsk, reagierte auf beleidigende Aussagen des tschetschenischen Regierungsoberhaupts gegen die russische Opposition damit, dass er ihn auf Facebook „eine Schande für Russland“ nannte, die „alles, was nur ging, diskreditiert“ habe.

Einige Tage später veröffentlichte Kadyrow ein Video auf Instagram, worin der Abgeordnete für seine Worte um Vergebung bittet: Er habe sich „nach persönlichen Gesprächen mit Vertretern des tschetschenischen Volkes“ dazu entschlossen. Als Verhandlungsführer fungierte damals Buwaissar Saitijew, dreifacher Olympiasieger im Freistilringen und Ehrenbürger der Stadt Krasnojarsk.

Vor laufender Kamera verprügelt

Später versicherte Sentschenko, er habe nicht mit einer Veröffentlichung des Videos gerechnet, und die Entschuldigung habe er im Rahmen eines privaten Gesprächs erbracht. Der Abgeordnete sagte, er sei nicht direkt bedroht worden, es habe aber Anspielungen auf mögliche Unannehmlichkeiten gegeben.

Seit Anfang 2016 tauchten vermehrt Videos auf, in denen sich die Menschen nicht bei Ramsan Kadyrow, sondern bei Ramasan Abdulatipow, dem damaligen Oberhaupt der Republik Dagestan, entschuldigen müssen. In einem schlagen Unbekannte vor laufender Kamera auf einen Menschen ein und fordern eine Entschuldigung.

 

Entschuldigungen werden aber nicht nur vor den Oberhäuptern der Republiken fällig. Mittlerweile kann jeder jeden zur Entschuldigung zwingen, wie der Fall von Oleg Tereschenko zeigt. Der Student der RANCHiGS wurde von seinen Kommilitonen dazu gezwungen, sich für Kommentare bei VKontakte zu entschuldigen, die sie als beleidigend empfunden hatten. Gibt man bei Sozialen Netzwerken „zur Entschuldigung gezwungen“ ins Suchfeld ein, stößt man auf zahlreiche ähnliche Videos.

Verwandte als „Mittäter“

Die tschetschenische Regierung hat mehr als einmal erklärt, dass für terroristische Straftaten die Angehörigen der Verdächtigen zur Rechenschaft gezogen werden: Mehr als einmal wurden die Häuser von Familien niedergebrannt und die Menschen gezwungen, die Republik zu verlassen. Laut Jekaterina Sokirjanskaja zählt die Regierung diese Verwandten als „Mittäter“, obwohl man bestens weiß, dass die Verwandten in den meisten Fällen überhaupt keine Ahnung haben, dass ihre Kinder in den Einfluss von Terrororganisationen geraten sind.

Die Menschenrechtlerin Tatjana Lokschina ist überzeugt, dass gerade die tschetschenische Praxis der öffentlichen Entschuldigung die Standards für alle anderen gesetzt habe. Laut Lokschina nimmt die Zahl der öffentlichen Entschuldigungen zu, weil die föderale Regierung in Moskau nichts gegen die tschetschenischen Fälle unternimmt, selbst wenn Bewohner anderer Regionen betroffen sind.

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Die Geiselnahme von Beslan

Die Geiselnahme im nordossetischen Beslan ist der wohl grausamste Terroranschlag, der im Zuge des Tschetschenienkonfliktes verübt wurde. Die Ereignisse in der Schule Nr. 1 hielten die russische Bevölkerung die ersten drei Septembertage 2004 in Atem. Sie stehen für die Entgrenzung terroristischer Taktiken sowie für die Brutalität dieses Krieges. Viele Fragen sind bis heute umgeben von Unwissenheit und Schweigen.

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Lieder auf den Leader

Kinder in Uniform trällern, dass sie „Onkel Wowa“ in die letzte Schlacht folgen würden. Mit der populären Losung Krim nasch besingen sie die Angliederung der Halbinsel an Russland, auch die Formel Alaska gehört zu uns bleibt nicht unerwähnt. Mittendrin die Duma-Abgeordnete Anna Kuwytschko. Nachdem das Musikvideo im November 2017 viral gegangen war, brachte diese Lobeshymne auf Putin der Abgeordneten letzten Endes allerdings mehr Kritik als Lob ein, auch in staatsnahen Medien. Selbst der nicht gerade als Putin-kritisch bekannte Moderator Anton Stepanenko sparte im staatsnahen Kanal Rossija 24 nicht mit Spitzen gegen Kuwytschko. Seine Sendung beendete er mit einem historischen Vergleich: Zu Sowjetzeiten, so Stepanenko, mussten Musiker ihr Repertoire erst von den Zensurbehörden absegnen lassen. Mit Glasnost wurde die Zensur aufgehoben. Heute, so der Moderator, könne man in Anbetracht mancher Werke sagen, dass das ein Fehler gewesen ist.



„Onkel Putin, wir sind mit dir“ – Kinder in Uniform beteuern singend, dass sie Putin in die letzte Schlacht folgen würden


Damit verdeutlichte Stepanenko tatsächlich einen wesentlichen Unterschied: Während die Propaganda in der Sowjetunion monopolisiert war und nicht genehmigte Beifallsbezeugungen aller Art üblicherweise gemaßregelt wurden, hat sich im modernen Russland eine ganze Gattung der Loblieder auf Putin etabliert, die staatlicherseits offenbar keinen Einschränkungen unterliegt.

Imidshmeiking

Imidshmeiking (engl. image making) beziehungsweise Piar (PR) des Präsidenten – so wird in Russland die von oben gesteuerte Polit-PR bezeichnet, die die Beliebtheit Putins steigern soll. Die intransparente Stiftung für effektive Politik soll dabei eine wichtige Rolle spielen1, Verteidigungsminister Sergej Schoigu soll dazu angeblich schon genauso wertvolle Tipps beigetragen haben wie der sogenannte „Kreml-Chefideologe“ Wladislaw Surkow. Beispiele gibt es viele, und sie sind hinlänglich bekannt: Putin als Judoka, der seine Gegner aufs Kreuz legt, als Reiter, der die Weiten Russlands erkundet, als Steuermann, der Schiffe, Flugzeuge, Mähdrescher und Rennautos lenkt. Antike Amphoren holt er vom Meeresgrund, als Musiker berührt er die Herzen, als Tierfreund spielt er mit dem Niedlichkeitsfaktor und als Federball-Spieler mit Dimitri Medwedew.

Unabhängig von staatlich orchestrierter Polit-PR ist in Russland schon seit Jahren ein Imidshmeiking zu beobachten, das „aus dem Volk“ kommt. Seien es die Tausende2 poetischer Lobeshymnen auf stihi.ru oder die Elogen einiger Hobbyliteraten – die Gattung ist reich an Beispielen. Die Klickzahlen sind unbekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die ursprünglichste Form der Lyrik – das Lied – den größten Resonanzraum findet.

Einen wie Putin

In der Hitparade solcher Loblieder besetzt die Girlband Pojuschtschije Wmeste (dt. etwa die gemeinsam Singenden) einen prominenten Platz: 2002 gegründet, gab die „Agitbrigade“3 sogleich das Lied Takowo kak Putin (dt. Einen wie Putin) zum Besten. Eigentlich ironisch angelegt, entwickelte sich der Gassenhauer zu einem Grundstein des Putin-Bildes, das manche Wissenschaftler als Personenkult beschreiben.4 Besungen werden Putins Stärke und seine Alkoholabstinenz. Diese Eigenschaften korrespondieren mit einer Umfrage aus dem Jahr 2012, der zufolge 39 Prozent der Befragten von allen Eigenschaften Putins vor allem seine Tatkraft und 35 Prozent seine Gesundheit schätzten.5 26 Prozent der Befragten war das Fehlen von schlechten Eigenschaften wichtig: Da Putin laut seiner oft vorgebrachten Bekundung nur wenig trinke, hebe er sich mit seiner Abstinenz von seinem Vorgänger Jelzin ab6 und biete mit seinem Lebenswandel ein gutes Vorbild für russische Männer.

Dies war auch die wichtigste Botschaft von Pojuschtschije Wmeste, deren Bandname viele an Iduschtschije Wmeste (dt. etwa die zusammen Gehenden) erinnerte – eine mitunter als Putin-Jugend kritisierte Jugendorganisation. Nach dem großen Hit, der auch auf Englisch vertont wurde, verschrieb sich die Band vor allem der patriotischen Propaganda und besang Meinen Abgeordneten (russ. Moi Deputat), Unsere Stadt (russ. Nasch Gorod) und die Siegesparade (russ. Parad Pobedy). Erfolg, gemessen in YouTube-Klicks, war der Girlgroup allerdings nur mit ihrem Loblied auf Putin beschieden.


„Takowo kak Putin“ – eines der erfolgreichsten Loblieder auf den Präsidenten


Geblendet und verzaubert

Mit ähnlich vielen YouTube-Klicks kam 2015 die bis dahin weitgehend unbekannte Sängerin Maschani zu Ruhm. Ihr Lied heißt schlicht Mein Putin (russ. Moi Putin), sie trägt es im Video in verschiedenen Garderoben vor: in einem Kleid, das wie die russische Trikolore aussieht, und in einem, das an die Flagge der Ukraine erinnert. Es bleibt verborgen, was die Sängerin mit ihrer Kleider-Allegorie ausdrücken will – vor allem, weil sie in dem Lied auch die Angliederung der Krim besingt:

Du provozierst und holst die Krim zurück
Und in der Folge
– frei von allen Fesseln –
wirst du die [Sowjet-]Union wiederbeleben
Und ich?
Geblendet und verzaubert,
kann ich dich nicht vergessen

 

 

„Geblendet und verzaubert, kann ich dich nicht vergessen“ – Sängerin Maschani singt über „ihren Putin“

Timati und die Galeeren

Der Mainstream-Rapper Timati geht 2015 mit seinem Homie Sascha Tschest andere Wege: Düstere Beats werden hier berappt mit den Worten Mein bester Freund, das ist Präsident Putin – diesem Song zufolge ein „cooler Superheld“: 

Alle Mädchen verlieren den Kopf
Mein bester Freund ist noch nicht verheiratet
Arbeitet ohne Pause
Von Montag bis Samstag


 

Rapper Timati nennt Putin einen „coolen Superhelden“

Hier geht es dem Duo um den in staatsnahen Medien oft thematisierten Arbeitseifer des nationalen Leaders. Er habe seit 2000 „wie ein Sklave auf Galeeren geschuftet“, sagte Putin selbst im Jahr 2008. Auch Ljudmila Putina schlug 2013 in dieselbe Kerbe, als sie meinte: „Unsere Ehe ist deshalb zu Ende, weil wir uns praktisch nie sehen. Wladimir Wladimirowitsch ist völlig in seine Arbeit vertieft.“7

Putins Kalender auf kremlin.ru/trips ist tatsächlich nahezu lückenlos, laut manchen Beobachtern vermittelt er damit gezielt den Eindruck „eines Staatspräsidenten, der ohne Unterlass, ,rund um die Uhr‘ im Einsatz ist, sich bei der Ausübung seines Amtes nicht schont und damit das vertraute Bild vom guten Herrscher evoziert, der sogar noch nachts arbeitet, während sein Volk schläft.“8

Alles Propaganda?

Die meisten Loblieder stellen Putin als rastlosen und fürsorglichen Superhelden dar. Ist das Putin-Lied deshalb gleich so etwas wie (Graswurzel-)Propaganda? Also eine Art (bottom-up-)Legitimationsstrategie für das sogenannte System Putin? Vielleicht – wahrscheinlicher sind es jedoch bloß Versuche, mit einem populären Thema öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und damit auch als Trittbrettfahrer Berühmtheit zu erlangen.

Mit Blick auf die vielen YouTube-Klicks scheint ein solches Kalkül tatsächlich aufzugehen. Doch sind zustimmende Kommentare eher selten, es überwiegen Kritik und Ironie.

Schmählieder

Kritik und Ironie kennzeichnen auch die vielfältigen Schmählieder über Putin. Die Tradition der massentauglichen Politsatire in Russland geht auf die Breshnew-Zeit zurück, schon damals hat sie ganz spezifische und teilweise sehr subtile Zugänge gefunden, um die Wlast zu kritisieren.

Nicht ganz so subtil, vielmehr galgenhumorig, reiht sich die Band Rabfak in die Gattung der Schmählieder ein. Entstanden ist der Song im Vorfeld der Dumawahl 2011 und war bei den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung populär. Er heißt schlicht Unsere Klapse (stimmt für Putin). Mit der Klapse ist Russland gemeint, das Lied stellt die Frage:

Wer hat dem Volk Gazprom und Lukoil geklaut?
Keine Antwort. Und für dich eine Spritze in den Arsch.

Die Spritze dürfte eine Reminiszenz an die sowjetische Strafpsychiatrie sein, der Humor des Liedes ist derb und drastisch, die Wortwahl Mat-durchsetzt.


 

Das Schmählied „Unsere Klapse (stimmt für Putin)“ war unter Anhängern der Bolotnaja-Bewegung populär

Auch Wasja Oblomow kommt in seinem Schmählied von 2011 nicht ohne Schimpfsprache aus. Bleib locker, Bro heißt das Stück übersetzt, es ist noch einige Monate vor den Bolotnaja-Protesten entstanden. Hier resümiert der lyrische Putin seine positiven Eigenschaften: seine Stärke, seine Alkoholabstinenz, seinen Arbeitseifer. Auch, dass er Terroristen „im Scheißhaus kaltgemacht“ habe, bleibt nicht unerwähnt, genauso wie Putins Judoka-Coolness. In der ersten Strophe des Liedes sagt der lyrische Putin, dass er „für immer [an die Macht – dek] gekommen“ sei, in der letzten heißt es:

Meine guten Taten werdet ihr nie vergessen!
Was auch passiert, euch muss klar sein, dass ihr zu mir kommen müsst, wenn ihr Probleme habt.
I’m back in the USSR, оh yeah!


 

„Back in the USSR“ unterstellt Wasja Oblomow in seinem Lied von 2011

1.vgl. Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker, Bianka (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 336
2.republic.ru: V poiskach akyna: Obraz Vladimira Putina v narodnoj poėzii 
3.Eigenbezeichnung des Band-Managers, vgl. peoples.ru: Pojuščie vmeste 
4. Robert Henschel (2015): Sounds of Power: Music and the Personality Cults of Putin and Chávez
5.vgl. romir (2012): Neotvratimaja neotrazimost’ und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin: Der sprachliche Hintergrund, S. 30
6.vgl. Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: Osteuropa, 62. Jg., 5/2012,  S. 47-67, hier S. 53
7.zitiert nach: Moskowski Komsomolez: Ljudmila Putina: Vladimir Vladimirovič polnost’ju pogružen v rabotu
8.Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker, Bianka  (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 339
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