Den Moskauer Ökonomen und Publizisten Wladislaw Inosemzew treibt die Frage um, wie Putin sein Machtsystem in Russland habe aufbauen können. War es wirklich ein Bruch mit der laufenden Demokratisierung des Landes? In einem meinungsstarken Essay für das unabhängige Webmagazin snob stellt er die Schuldfrage und schaut genauer auf die 1990er Jahre.
Immer, wenn sich in Russland oder jenseits seiner Grenzen Verfechter demokratischer und liberaler Ansichten versammeln, drehen sich die Diskussionen um eine der ewigen russischen Fragen: „Was tun?“. Viele Jahre schon findet sich darauf leider keine Antwort. Es gelingt nicht, den „Nerv“ der Sorgen in der Gesellschaft zu treffen, attraktive Losungen zu formulieren und in den eigenen Reihen die Anstrengungen zu koordinieren.
Eine der Folgen ist, dass das Land mit jedem Jahr tiefer in Selbstisolation und Ignoranz abgeleitet und von Militarismus und imperialem Denken durchdrungen wird. Gleichzeitig richtet sich die Aufmerksamkeit demokratischer Politiker nur ganz selten auf die in Russland nicht weniger traditionelle Frage „Wer ist schuld?“ Der Grund hierfür ist meiner Ansicht nach offensichtlich: Die Antwort gilt seit langem als bekannt. Schuld ist natürlich Wladimir Putin und die „verbrecherische Clique“, die sich das Land unter den Nagel gerissen und die Bevölkerung zu fernsehenden Zombies gemacht haben und alles und jeden mit schmutzigen Öldollars kaufen.
Diese Erklärung lässt jedoch einen wichtigen Umstand außer Acht: Das Russland, das sich Putin mittlerweile praktisch zu seinem persönlichen Eigentum gemacht hat, wurde keiner demokratischen Regierung „abgerungen“. Der jetzige Präsident wurde seinerzeit von Boris Jelzin, dem Vater des neuen Russland, „an der Hand“ in den Kreml geführt. Mitstreiter der neuen Regierung waren die Oligarchen, die durch das Marktchaos und die geschickt organisierte Privatisierung der 1990er Jahre am meisten Geld gemacht hatten. Ideologe dieser Politik war damals der Chefliberale Anatoli Tschubais.
Die unbeschränkte Macht, die Putin über den Staat gewann, wurde durch die von Sergej Schachraj und Viktor Scheinis ausgearbeitete „demokratischste Verfassung“ gestützt. Der „nationale Anführer“ selbst wurde als leitender Verwaltungsmitarbeiter im Team des unbestechlichen Volkstribuns Anatoli Sobtschak geprägt, einer der anerkannten Führungspersönlichkeiten der demokratischen Bewegung in der UdSSR. Insofern haben die sich heutzutage über das Leben beklagenden Veteranen des „freien Russland“ Wladimir Putin nicht nur einfach „übersehen“ – sie haben ihn großgezogen und ihm das volle Instrumentarium uneingeschränkter Macht in die Hand gegeben.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Demokraten in Russland in den 1990er Jahren eine Lage geschaffen hatten, die ihren Verbleib an der Macht wahrlich unmöglich machte: Zunächst hatten sie Wirtschaftsreformen auf eine Art gestartet, dass die Wirtschaft fast um ein Drittel einbrach und die Hälfte der Bevölkerung sich unterhalb der Armutsgrenze wiederfand. Dann hatten sie beschlossen, die Beziehung zum rechtmäßig gewählten Parlament mit militärischen Mitteln zu regeln. Der nächste Markstein war die himmelschreiend ungeschickte Verwaltung der Staatsfinanzen, die zum Crash und der Rubelentwertung von 1998 führte. Der letzte Tropfen schließlich war die unmotivierte Ablösung der Regierung Primakow, der kompetentesten Regierung, die das postsowjetische Russland hatte – diktiert allein von der Logik eines Kampfes um Macht und Finanzströme.
Mit anderen Worten: Ich glaube, dass der Machtantritt von Wladimir Putin und die nachfolgende Errichtung eines korporativen, autoritären Regimes im Land keineswegs Zufall ist. Die Ursprünge des Putinismus liegen in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik des neuen Russland, und zwar von seiner Gründung an – und die Demokraten von heute können allein sich selbst die Schuld für ihre Lage geben.
Auf dem Gebiet der Wirtschaft sollte die Aufmerksamkeit zunächst dem zukommen, was als wichtigstes Verdienst des Regimes der 1990er Jahre gilt: der Privatisierung. Indem sie Großunternehmen praktisch für Groschenbeträge in private Hände gab, festigte die Regierung auf Jahre hinaus ein System im Land, in dem die hausgemachten Oligarchen einen Vorrang gegenüber allen neuen Akteuren erhielten.
Schicksalhafte Ereignisse im Jahr 1993
In der Folge waren im Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Erdölraffinerie und eine Zementfabrik gebaut worden; in Metallurgie und Maschinenbau war kein einziges neues Unternehmen entstanden. Selbst die Öl- und Gasförderung war auf dem früheren Niveau stehengeblieben. In China, wo der Staat die großen Unternehmen nicht privatisiert, sondern die Kontrolle über sie behalten hat und dabei eigenen und ausländischen Investoren erlaubte, neue Kapazitäten aufzubauen, arbeiten vier der hundert finanzstärksten Unternehmen überwiegend mit Infrastruktur von vor 1989. In Russland sind es 74. Das begründet auch die fehlende Nachfrage nach neuen Technologien und die „Rohstoffabhängigkeit“.
Im Grunde haben die Demokraten der 1990er Jahren die Initiative russischer und westlicher Investoren nicht dazu genutzt, die Entwicklung voranzubringen: Das Privatunternehmertum wurde zum Instrument einer sozialen, nicht einer volkswirtschaftlichen Transformation. So wurde der gesellschaftliche Reichtum neu verteilt, für dessen Vermehrung aber nicht gesorgt (Letzteres geschah erst in den 2000er Jahren aufgrund der gestiegenen Ölpreise). Im Unterschied zu Russland ist China durch die Reformen, deren zentrales Element in Anreizen zur Schaffung neuer Kapazitäten bestand, zu einer weltweit führenden Volkswirtschaft aufgestiegen. Russland blieb hingegen ein Land, in dem Reichtum vor allem aus einer Umverteilung der Aktiva entsteht (und da der wichtigste Hebel hierfür die Macht ist, war der Einzug des Putinschen Herrschaftsstils somit vorbestimmt).
Zweitens haben sich die russischen Demokraten der 1990er Jahre als gar nicht ganz so demokratisch erwiesen. Nachdem sie bei den ersten freien Wahlen – noch zu sowjetischen Zeiten – gesiegt hatten, taten sie alles Mögliche, um ihre Machtpositionen zu sichern. Einer der kritischen Punkte in diesem Zusammenhang waren die Ereignisse des Jahres 1993. Hier sei einerseits an den lokalen Bürgerkrieg erinnert, ebenso an den Beginn unumkehrbarer Veränderungen im System der Sicherheitsbehörden, die durch die Entlassung von Walentin Stepankow eingeläutet wurden, des einzigen unabhängigen Generalstaatsanwalts der neuesten russischen Geschichte. Andererseits sei auf die Wahlen von 1996 verwiesen: Nur durch eine totale Konsolidierung der politischen und Finanzeliten gelang es, Jelzin im zweiten Wahlgang zu einem Sieg zu verhelfen. Und zwar vor dem Hintergrund einer Reihe deklarativer Schritte – sei es der Vertrag mit den Separatisten in Tschetschenien, der Bildung des Unionsstaates aus Russland und Belarus oder die Palast-Intrige, bei der General Alexander Lebed ins Spiel kam.
Meiner Ansicht nach waren es gerade die Jahre 1993 bis 1996, in denen das „Wüten der Demokratie“ in Russland seinen Abschluss fand: Zum einen wurde eine „superpräsidentielle“ Verfassung angenommen, die dem Staatsoberhaupt praktisch außerordentliche Vollmachten verlieh; die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Verfassungsgericht wurde beseitigt, und es bildete sich eine geschlossene Bürokratie- und Finanzoligarchie heraus, die für den Erhalt des bestehenden Regimes arbeitete. Zum anderen wurde der Akzent der politischen und ideologischen Rhetorik verschoben, von Freiheitswerten in Richtung einer „fehlenden Alternative“ (praktisch analog zur heutigen „Stabilität“), mit Betonung von Souveränität und der Macht des Staates und der Suche nach einer „nationalen Idee“.
Russland hat das Imperiale nicht abgeschüttelt
In jenen Jahren hörte Russland auf, als eine der Zukunft zugewandte Nation wahrgenommen zu werden und ließ die Symbole des vorrevolutionären Imperiums wieder aufleben (Christ-Erlöser-Kathedrale, Bestattung der sterblichen Überreste der Familie des letzten Herrschers im Zarenreich). Es zahlte sogar einen Teil der Schulden der zarischen Regierung zurück. Nach dieser ersten Erfahrung war der Übergang zu einer Apologie des Sowjetischen für Wladimir Putin nicht mehr schwer – schließlich wurde das Ideal da schon nicht mehr in der Zukunft gesucht.
Ich betone noch einmal: Die Alternativlosigkeit der Staatsmacht, die Bereitschaft, mit Gewalt gegen Opponenten vorzugehen, das Verschmelzen von Geld und Bürokratie sowie eine Apologie der Vergangenheit – all diese äußerst wichtigen Grundlagen des Putinschen Regierungsstils waren bereits in den „demokratischsten“ Jahren der neuesten Geschichte Russlands wenn nicht ausgefeilt, so doch angelegt.
Drittens war es durch die „Demokratisierung“ Russlands mit dessen „imperialem“ Anfang keineswegs vorbei. Obwohl die UdSSR zerfallen ist, hat die Russische Föderation de facto nur die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt. Die „gelenkte Instabilität“, die jetzt gegenüber der Ukraine angewandt wird, wurde in Bezug auf viele postsowjetische Länder getestet. Russland war direkt an dem Konflikt in Moldau beteiligt, bei dem „Transnistrien“ entstand; es hat offen den Separatismus in Georgien – auch den adscharischen – gefördert und hat Abchasien und Südossetien direkt unterstützt. Der berühmte Anruf Boris Jelzins bei Eduard Schewardnadse nach dem Attentat vom 9. Februar wies unzweideutig darauf hin, dass Russland auf alle geopolitisch bedeutsamen Entscheidungen im postsowjetischen Raum Einfluss nehmen wollte. Die Annexion der Krim wäre nicht möglich gewesen, wenn die politische Elite in Russland der Bevölkerung nicht schon seit 1994 das Gefühl vermittelt hätte, die Halbinsel sei durch falsche und rechtswidrige Entscheidungen ein Teil der Ukraine geworden.
Einen besonderen Platz auf der Tagesordnung jener Zeit nahm natürlich Tschetschenien ein. Der Krieg dort wurde getreu der Losung von der Einheit des Landes geführt und ließ in vielfacher Hinsicht das Bedürfnis nach einer „harten Hand“ entstehen (während doch zugleich eine Gewährung der Unabhängigkeit Tschetscheniens sicherlich die Kräfte gestärkt hätte, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Russland anstrebten und nicht einen starken Staat; erinnern wir uns, dass Boris Nemzow zu den wichtigsten Befürwortern einer Beendigung des Krieges zählte; formal war die Unabhängigkeit ja schon zu Sowjetzeiten verkündet worden).
Der Kern der Sache steht fest: Russland hat während der demokratischen Regierungsjahre das Imperiale der Vergangenheit nicht abgeschüttelt und kaum etwas für den Aufbau einer Gesellschaft europäischen Typs geschafft.
Viertens, und auch das ist zu betonen, ist in Russland die Idee von einer Integration mit dem Westen (die Schaffung des berühmten „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“) recht schnell „verwelkt“, die in den letzten Jahren der Regierungszeit von Michail Gorbatschow praktisch in den Rang einer Staatsideologie erhoben worden war. Die Regierung hat nicht versucht, einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union (die formal seit Januar 1992 besteht) oder zur NATO zu stellen. Das 1994 abgeschlossene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und den Europäischen Gemeinschaften hatte grundsätzlich keinen Hinweis enthalten, dass der Wandel in Russland zu dessen Integration in die EU führen könnte. Analysiert man aufmerksam die Auftritte der russischen Führung in den 1990er Jahren, so zeigt sich, dass von 1993 bis 1996 die Ideen von „Zusammenarbeit“ und „Partnerschaft“ an die Stelle eines Konzepts der „Einbeziehung“ in die westliche Welt trat. Das entsprach dem Verständnis der Elite, die den Wert der Souveränität Russlands als äußerst wichtige Grundlage für ihre politische und wirtschaftliche Dominanz über das Land betrachtete.
Wer bringt die Zukunft des Landes?
Ohne den Leser überfrachten zu wollen, möchte ich nun einige Schlussfolgerungen ziehen: Ich gehe davon aus, dass die Russische Föderation nur über einen sehr kurzen Zeitraum die Chance hatte, im Land eine verantwortungsbewusste politische Klasse zu schaffen – ab dem Moment, als (noch im Rahmen der Sowjetunion) eine demokratische russische Regierung agierte, bis Ende 1993. Eine Klasse, die sich an europäischen Werten und europäischer Praxis orientiert, sei es an der Gewaltenteilung oder der Trennung von Bürokratie und Oligarchie. Von 1993 bis 1997 wurde der Regierung bewusst, dass sie sich von überzeugten Demokraten befreien und praktisch um jeden Preis Bedingungen für einen Machterhalt schaffen müsse (es ist bezeichnend, dass sich dieses Bewusstsein am schärfsten, ja fast schmerzhaftesten bei jenen entwickelte, die einen der äußerst wenigen Fälle miterlebten, bei denen ein Lokalfürst die Macht auf demokratische Weise verlor: mit der Niederlage Anatoli Sobtschaks bei den Gouverneurswahlen 1996).
1997 bis 1998 entstanden dann die Grundelemente einer neuen Staatsideologie: Man begann, die Bevölkerung als Stimmvieh wahrzunehmen, das beim Wählen alles Mögliche nutzt, nur nicht den Verstand; das Oligarchat verwuchs mit der Bürokratie; das Bestreben, Elemente eines Ideals in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft zu suchen, und danach, dass sich „Russland von den Knien erhebt“, und sei es nur in der eigenen Phantasie. In der Grundanlage war schon alles da, einer neuen Führungsgeneration blieb es vorbehalten, diese Ideologie ein- und umzusetzen.
Was sie dann auch getan hat. Und genau das ist der Grund, warum ich – so sehr ich Putin und seine Politik in manchen Augenblicken kritisieren möchte – eine große Abneigung gegenüber den Versuchen vieler russischer Analytiker hege, die ihn als Verbrecher bezeichnen oder behaupten, er habe den Bruch in der Entwicklungsrichtung des modernen Russland zu verantworten. Wladimir Putin hat vielmehr jene Tendenzen aufgegriffen und verstärkt, die eifrig und gekonnt von den gleichen Leuten geschaffen wurden, denen dann Ende 1999 bewusst wurde, dass zur Umsetzung ihres Modells „einer wie Putin“ gebraucht werde.
Im gleichen Maße, wie in der sowjetischen Geschichte die Ära Stalin und die Ära Lenin durch Tausende historischer, ideologischer und praktischer Fäden miteinander verbunden sind, besteht in der Geschichte Russlands eine unüberwindbare Verknüpfung der Jelzin-Ära mit der Ära Putin.
Und das führt mich zum letzten Gedanken, mit dem ich schließen möchte, und der, da bin ich mir sicher, geteilte Reaktionen hervorrufen wird: Politiker und Aktivisten, die in den 1990er Jahren auf russländischer Erde „heilig erstrahlten“ und heute versuchen, sich als Oppositionelle in Szene zu setzen, verdienen wohl kaum die wie auch immer geartete Unterstützung derjenigen, die Russland in Zukunft als freien europäischen Rechtsstaat zu sehen hoffen. Die Art, in der sie in den 1990er Jahren „gewütet“ haben und dabei die organisatorischen und mentalen Grundlagen des Putinismus schufen, wie auch die Art, wie sie das Land der heutigen Führung in die Hand gaben, nimmt ihnen jede ethische Berechtigung zu einer Rückkehr an die Macht.
Das neue Russland wird man ohne jene bauen, die es in den 1990er oder 2000er Jahren regiert haben. Das wird allerdings, so belegen es Beispiele, bei denen autoritäre Regime demontiert wurden, Jahrzehnte dauern – aber es bedeutet auch, dass die in den 1990er Jahren entwickelten und in den 2000er Jahren erprobten Herrschaftsprinzipien nicht auf ewig Bestand haben werden.