Mitte April hat Wladimir Putin den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin zum Leiter des Moskauer Thinktanks CSR ernannt. Damit stieg einer der schärfsten Kritiker der derzeitigen russischen Wirtschaftspolitik zum Berater des Kreml auf.
Der Politologe Michail Komin sieht auf slon.ru die Chancen für einen Machtwechsel in Russland genau bei sogenannten Systemliberalen wie Kudrin: Nah genug an den etablierten Machtstrukturen, aber weit genug entfernt von direkter politischer Einflussnahme bildeten sie eine Art „inneren Gegenpol“ zur derzeitigen Politik der Kremlspitze. Anders als die eigentliche, nicht-systemische Opposition ließen sie dem Kreml genügend Verhandlungsspielraum, um sich auf einen Machtwechsel einzulassen, der die derzeitige Nomenklatura nicht komplett desavouiert.
Der Begriff „Sislib“ oder „Systemliberaler“ existiert im russischen politischen Diskurs seit den späten 90er Jahren. Mit seiner Hilfe lässt sich das russische politische System, das sich nach Boris Jelzins Abgang und in den ersten Jahren der Präsidentschaft Wladimir Putins herausbildete, ziemlich treffend beschreiben. Damals kämpften zwei Clans um den Einfluss im Land: Der Clan der Silowiki, denen auch Putin entstammt und die Gruppe der „progressiven Nomenklatura“, die im Wirtschaftsblock der Regierung führende Positionen innehatte – zuvor hatte sie nach dem Zerfall der UdSSR schmerzhafte, aber notwendige liberale Reformen durchgeführt.
„Effiziente Manager” statt „Stützen des Regimes”
Nachdem diese Gruppe der wirtschaftsliberal ausgerichteten Ökonomen zunächst auch in die neue Putin-Administration berufen worden waren, setzten sie ihre Reformtätigkeit fort. Aber ihr Einfluss auf die politische Agenda nahm zusehends ab. Sie wandelten sich von vollwertigen „Stützen des Regimes“ zu „effizienten Managern“ für die Lösung konkreter Aufgaben.
Zum größten Eklat im Zusammenhang mit den eingebüßten Befugnissen des wirtschaftsliberalen Blocks kam es im Jahr 2011. Damals trat Alexej Kudrin von seinem Amt als Finanzminister zurück: Er war mit der Entscheidung des Kreises um Medwedew nicht einverstanden, die Rüstungsausgaben erneut zu erhöhen, worunter alle anderen Bereiche zu leiden hätten.
Doch auch nach diesem Vorfall verblieben einige liberale Ökonomen in Leitungspositionen. Sie versuchten, die Entscheidungen des Kreml indirekt zu beeinflussen oder die Elite in den schwierigsten Wirtschaftsfragen zu beraten. Wegen ihrer Bemühungen um Einflussnahme und um größtmögliche Nähe zur herrschenden Elite nennt man sie denn auch Systemliberale.
Kein so ganz richtiger Liberaler
Natürlich ist Sislib ein abwertender Begriff, er gibt zu verstehen, dass ein Systemliberaler kein so ganz richtiger Liberaler ist, sondern ein spezieller. Am häufigsten hört man den Begriff aus dem Mund von Politikern und Wirtschaftsexperten, die sich außerhalb des Systems befinden. Sie kritisieren die Sisliby für ihre Kompromissbereitschaft, dafür, dass sie sich faktisch in den Dienst einer autoritären Regierung stellen. Dass sie dabei helfen würden, einzelne wirtschaftliche Missstände zu beheben. Dadurch würden sie die Politik als Ganzes nicht verändern, dem Regime aber zu einem Mindestmaß an notwendiger Effizienz verhelfen und auf diese Weise zum Fortbestand des autoritären Modells beitragen.
Die Spardose des Kreml
Diese Kritik kann man allein deswegen schwerlich als unbegründet abtun, weil das russische Sozial- und Militärbudget, das in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren stark aufgeblasen wurde, vor allem vom Nationalen Wohlstandsfonds lebt. Den hatte Alexej Kudrin vorsorglich eingerichtet.
Würde der Kreml heute nicht über diese Spardose verfügen, hätten sich seine imperialen Ambitionen schon lange totgelaufen. Es wäre außerdem nicht möglich, unbeliebte sozialpolitische Entscheidungen auf die Zeit nach den Wahlen hinauszuschieben. Beides hätte die Chancen der demokratischen Opposition in der aktuellen Wahlperiode erhöhen können.
Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, ist derselbe Alexej Kudrin trotz all dem bereit, dem Regime erneut unter die Arme zu greifen: Er hat für den Kreml eine neue Wirtschaftsstragie erarbeitet, um die Systemkrise zu überwinden.
Nach den Ereignissen auf der Krim, dem Krieg im Südosten der Ukraine, nach der erschreckenden Zunahme von Propaganda, dem bis heute nicht geklärten Mord an Boris Nemzow, nach der Veröffentlichung der Panama Papers und einer allgemein immer unangemesseneren und aggressiveren Kreml-Politik könnte man sich schon fragen: Wie und warum soll man überhaupt noch mit der Regierung zusammenarbeiten? Diese Frage wird Alexej Kudrin von den Liberalen unvermeidlich gestellt werden, wenn er seine Arbeit im Zentrum für strategische Entwicklung aufnimmt und ein neues Wirtschaftsprogramm für Putin vorlegt.
Garant für den Wechsel
Lässt man die Emotionen einmal beiseite, bringt eine solche Zusammenarbeit von Liberalen und Regierung zwei wichtige positive Konsequenzen mit sich:
Erstens senkt die Beratung der Regierung durch vernünftige Ökonomen unweigerlich den Grad des Wahnsinns der Kreml-Politik. Sie verhindert, dass Entscheidungen von Leuten gefällt werden, die einen katastrophalen Einfluss auf das System ausüben können.
Welches Programm Alexej Kudrin auch vorschlagen wird – es wird sicher besser sein als das von Sergej Glasjew, dessen Einfluss im Kreml derzeit stark zugenommen hat.
Die Hyperinflation, herbeigeführt durch Emission von Wertpapieren und das Wachstum der Staatsausgaben, ist Folge nur einiger Maßnahmen des präsidialen Beraters für regionalökonomische Integration. Sie wird kleinen und mittleren russischen Unternehmen den Todesstoß versetzen und treibt eine noch größere Zahl von Bürgern in den Strudel der Armut.
Die zweite Folge der direkten Beteiligung Liberaler an der Kremlpolitik ist: Die Chance für einen unblutigen Abgang der derzeitigen Regierung aus der politischen Arena steigt.
In den aktuellen Wahlratings erreicht die demokratische Opposition mit ihren endlosen internen Konflikten nur äußerst geringe Werte. Noch geringer sind die Chancen, dass es der Opposition in den nächsten Jahren gelingen wird, die Panama-Fraktion des Kreml durch Wahlen und parlamentarischen Kampf wegzudrängen – auch wenn wir uns nachweislich in einer Übergangsphase zum konkurrenzfähigen Autoritarismus befinden.
Opposition engt Verhandlungsspielraum des Kreml ein
Die Chancen werden jedoch beträchtlich steigen, wenn es der Opposition gelingt, die typische Hauptforderung einer jeden autoritären Elite zu erfüllen, die angesichts einer ausgebrochenen Wirtschaftskrise spürt, dass eine Liberalisierung unausweichlich ist: Man muss ihr den Erhalt des angehäuften Kapitals und den Verzicht auf Strafverfolgung nach dem Ausscheiden aus der Regierung garantieren.
Derzeit werden ständig Zimmer voller Pelzmäntel und Celli voller Geld aufgespürt und Schwarzbücher verfasst, was zweifellos Stimmen und Respekt bei den Wählern einbringt. Doch die Opposition macht dadurch einen unblutigen Machtwechsel unmöglich, weil sie den Verhandlungskorridor mit dem Kreml einengt. Denn der „Kollektiv-Putin“ wird nie und nimmer zulassen, dass die Opposition mit solchen Parolen eine auch nur halbwegs nennenswerte Anzahl von Sitzen im Parlament bekommt. Stattdessen wird er sich an die Kremlmauern klammern, das Rad der Repression zum Laufen bringen und solange jegliche soziale Unruhen unterdrücken, bis es zu spät ist.
Druck auf den Kreml von zwei Seiten
In der aktuellen Situation ist es notwendig, Druck auf den Kreml von zwei Seiten, im Tandem, auszuüben. Einerseits muss man, sozusagen von unten, die Protestwählerschaft weiter zusammentrommeln und um Sitze bei diesen Wahlen kämpfen, unter anderem mit der durchaus erfolgreichen Antikorruptions- und Anti-Offshore-Rhetorik – das ist die Aufgabe der demokratischen Koalition.
Andererseits wird die herrschende Elite angesichts des immer stärker drohenden Verlusts von Macht und Kapital genötigt sein, jemanden zu finden, dem sie die Macht weitergeben kann – unter der Garantie, dass persönliche Strafverfolgungen ausbleiben. Diese Kompromissfiguren könnten, wenn es soweit ist, in der Regierung verbliebene und mit ihr kooperierende Systemliberale sein.
Letzte Chance für unblutige Machtübergabe
Alexej Kudrin, der seine guten Beziehungen zu Wladimir Putin und einer Reihe von Leuten aus dessen engstem Umfeld nicht verhehlt, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen natürlich nicht der einzige Kandidat. Aber er ist nach den oben beschriebenen Kriterien sicher einer der passendsten. Das Programm, das er nun zusammen mit einem Expertenteam aus dem Komitee für Bürgerinitiativen schreiben kann, wird auf jeden Fall nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Reformen enthalten. Und entschließt sich der Kreml für diese, dann wird er damit die grundlegendste Erneuerung seit den frühen 2000er Jahren anregen.
Falls Wladimir Putin und sein Umfeld beschließen, die Konzepte Kudrins oder anderer liberaler Ökonomen umzusetzen, werden diese vielleicht inzwischen weniger ein Aktionsplan für die Wirtschaft sein als vielmehr eine letzte Chance für eine Machtübergabe ohne Blutvergießen.