15. November 2016, ein Hintereingang des Basmanny-Gerichts in Moskau. „Gestehen Sie Ihre Schuld ein?“ ruft ihm ein Reporter entgegen, als Alexej Uljukajew mit hochrotem Kopf das Gerichtsgebäude betritt. Unsicheren Schrittes bewegt sich der massige Mann am Arm des Beamten durch die Menschenmenge. Und Russland schaut am TV-Bildschirm zu, wie dort ein Minister, ein Wirtschaftsreformer der ersten Stunde, zur Anklagebank geführt wird. Im Dezember 2017 folgt das Urteil: acht Jahre strenge Lagerhaft und umgerechnet rund 2 Millionen US-Dollar Strafe.
Medial bombastisch begleitete Korruptionsermittlungen gegen hohe Staatsdiener senden immer wieder Schockwellen durch die russische Öffentlichkeit – und wohl auch durch die politische Elite. Doch dass es einen amtierenden Minister trifft, das gab es seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr. Der Prozess gegen ihn wirft mehr Fragen als Antworten auf: Warum gerade Uljukajew? Warum zu diesem Zeitpunkt? Und: Wer ist dieser Mann überhaupt?
Geboren 1956 in Moskau, schlägt Alexej Walentinowitsch Uljukajew eine akademische Laufbahn als Ökonom ein. Die wissenschaftliche Arbeit begleitet ihn fast sein ganzes Leben: Parallel zu seiner politischen Karriere gibt er Seminare, schreibt Aufsätze in Fachzeitschriften, wirkt als Herausgeber ökonomischer Bestandsaufnahmen.
Die Architekten der Schocktherapie
Ein entscheidendes Ereignis in Uljukajews Biographie ist dabei ohne Zweifel die Bekanntschaft mit Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais Mitte der 1980er Jahre. Es ist die Frühzeit der Perestroika. Politische Veränderung scheint greifbar, und in Klubs wie der Smeinaja gorka diskutieren junge Ökonomen die Möglichkeiten einer radikalen Abkehr von der Planwirtschaft. Ihre Stunde schlägt, als Jelzin nach dem Augustputsch 1991 ein Team aus Reformern versammelt: Als Gaidar in Jelzins Regierung anfängt, folgt ihm Uljukajew als Berater, und er folgt Gaidar auch 1994 in dessen Institut für ökonomische Politik.
Die Ideen, die die Reformer umzusetzen versuchen, orientieren sich am Washington-Konsens, der dominierenden entwicklungspolitischen Maxime von IWF und Weltbank. Durch makroökonomische Stabilisierung, Liberalisierung und Massenprivatisierung sollten produktive Marktkräfte in der russischen Wirtschaft entfesselt werden. Doch das Programm ist von Beginn an höchst umstritten. Politiker (Jelzin inklusive) blockieren es immer wieder, um ihre Wähler nicht zu verschrecken, und auch die Implementierung läuft alles andere als nach Plan. Zwar schiebt die Privatisierung später das Wirtschaftswachstum der 2000er Jahre an.1 Doch nutzen politische und wirtschaftliche Eliten die Schwäche der staatlichen Institutionen in den 1990er Jahren rücksichtslos aus, um sich an dem früheren Volkseigentum zu bereichern. Das sät ein tiefes Misstrauen, auch gegenüber den Reformern und ihren liberalen Ideen.2 Dieses Misstrauen wirkt nach bis in manche Reaktion auf Uljukajews Verhaftung.
16 Jahre in Putins Diensten
Im Jahr 2000, nach einer Legislaturperiode als Abgeordneter der Moskauer Stadtduma, kehrt Uljukajew als Stellvertreter des liberalen Finanzministers Alexej Kudrin in die nationale Politik zurück. Hier steht er für Haushaltsdisziplin (keine leichte Sache in Zeiten eines Ölbooms) und bereitet den Aufbau des Stabilisierungsfonds vor, der Russland relativ unbeschadet durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 gehen lässt. Als stellvertretender Chef der Zentralbank (2004 bis 2013) begleitet Uljukajew die geldpolitischen Krisenmaßnahmen des Instituts: einerseits bleibt der Zins hoch, um die Inflation nicht anzuheizen, andererseits setzt die Zentralbank etwa ein Drittel ihrer Währungsreserven ein, um die Effekte der einsetzenden Kapitalflucht auf Wechselkurs und Unternehmen abzumildern.3 Das Programm findet im Nachhinein Anerkennung: IWF und Weltbank loben die russischen Krisenmaßnahmen, die der Wirtschaft zu einer raschen Erholung verhelfen.4
Im Juni 2013 wechselt Uljukajew an die Spitze des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung. Anders als der wirtschaftspolitische Kreml-Berater Sergej Glasjew, der seit 2013 lautstark für Isolationismus und expansive Geldpolitik trommelt, fällt Uljukajew nicht durch schrille Töne auf. Sein Auftreten ist ruhiger, seine Konzepte sind komplexer und setzen eher auf privatwirtschaftliche Initiative.
Er bringt sie auf die Formel Wirtschaftswachstum gleich Investitionen gleich Vertrauen. Die Schaffung von Rechtssicherheit ist dabei vielleicht der wichtigste, aber sicher auch der heikelste Faktor in einem Land, dessen Beamte mithilfe von Gerichten, Sicherheits- und Kontrollbehörden oft eigene ökonomische Pläne verfolgen und dabei regelmäßig Unternehmer einschüchtern oder hinter Gitter bringen. Uljukajew formuliert es im Jahr 2015 diplomatisch: „Ein Unternehmer muss in Russland heute sehr mutig sein.”5 Und dieses Problem wolle er angehen.
Dazu gehört für ihn noch immer das klassische marktliberale Programm: Abschaffung bürokratischer Hürden, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Erhöhung des Renteneintrittsalters. Doch Uljukajew kündigt ebenso staatlich garantierte Kredite für Unternehmen, Steuererleichterung für junge Firmen und vor allem massive staatliche Investitionen in die Infrastruktur an.6
Politisch versucht Uljukajew, die Balance zu wahren. Für die Importsubstitution, die seinen Überzeugungen wohl deutlich zuwiderläuft, findet er lobende Worte. Und angesprochen auf Russlands Handeln im Ukraine-Konflikt, das internationale Sanktionen nach sich zog, erklärt er, der negative Einfluss dieser Ereignisse sei marginal (sie „kräuseln das Wasser“) – verglichen mit den strukturellen Problemen, vor denen die Wirtschaft stehe. Damit spielt er einerseits die außenpolitischen Abenteuer der Regierung herunter, diagnostiziert aber andererseits massive Fehlentwicklungen als Ursache der aktuellen Wirtschaftskrise.
Ein Minister hinter Gittern
Doch akademische Reputation, Fachwissen und diplomatische Umsicht können Uljukajew nicht vor dem Zugriff des FSB bewahren. Nun wird er der Korruption beschuldigt. Die offizielle Version ist schnell erzählt: Der mehrheitlich im Staatsbesitz befindliche Ölgigant Rosneft schickt sich an, das Staatsunternehmen Baschneft zu kaufen. Uljukajew spricht sich dagegen aus, da dies – anders als eigentlich geplant – offensichtlich keine echte Privatisierung darstelle. Laut den Ermittlern soll Uljukajew nun Rosneft unter Druck gesetzt und ein Schmiergeld in Höhe von 2 Millionen US-Dollar dafür erzwungen haben, dass er dem Deal doch zustimmt. Rosneft schaltet die Behörden ein, und Uljukajew wird bei der Übergabe des Geldes festgenommen. Der Verkauf findet trotzdem statt – Putin hatte ihm längst zugestimmt.
Die Verhaftung des zurückhaltenden Technokraten, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt, lässt eine Bombe platzen. Seine ehemaligen Kollegen Kudrin und Tschubais zweifeln die Version der Ermittler vorsichtig an,7 und auch der Präsident des Russischen Industriellenverbandes RSPP Aleksandr Schochin hält die offizielle Version für unglaubwürdig. Wer einen so mächtigen Mann wie Rosneft-Chef Igor Setschin erpresse, für den sollten sich vielleicht Psychiater interessieren, nicht aber Ermittler, so Schochin am Tag der Verhaftung.8 Die alten Gegner der Liberalen aus der Systemopposition, Wladimir Shirinowskij (LDPR) und Gennadi Sjuganow (KPRF), erklären hingegen ernst ihre Befriedigung über die Verhaftung.9
Unter Beobachtern gab es Spekulationen und Diskussionen zu den möglichen Hintergründen jenseits der offiziellen Verlautbarungen. Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny etwa vermutet, hinter den Geschehnissen könne eine Strategie des Kreml stehen: Zwar sei es wahrscheinlich, dass auch Uljukajew korrupt10 war – als Belege dienen auf Familienmitglieder zugelassene Offshore-Firmen und Uljukajews offiziell deklariertes Jahresgehalt von 59 Millionen Rubel (etwa 850.000 Euro). Doch dass irgendjemand dem Putin-Vertrauten und schwerreichen Rosneft-Chef Igor Setschin auf so unprofessionelle Weise habe Geld abpressen wollen, das halte er, Nawalny, für lächerlich. In Wahrheit diene diese Episode der Verbreitung von Angst in Putins engstem Kreis, um einer Untergrabung seiner Herrschaft vorzubeugen. Je überraschender solche Aktionen seien, desto effektiver.11
Doch auch Nawalny kann nicht hinter die Mauern des Kreml sehen, und die Verhaftung mag ganz andere Gründe haben. Ebenso undurchsichtig verlief auch der Prozess selbst. Laut Einschätzung von einigen Juristen seien die gegen Uljukajew vorgebrachten Beweise fadenscheinig: Setschin, eigentlich Hauptzeuge im Prozess, wurde viermal vorgeladen – und erschien kein einziges Mal vor Gericht. Und obwohl die vom Rosneft-Chef vorgebrachten Indizien für manche Juristen widersprüchlich sind, wird Uljukajew am 15. Dezember 2017 schuldig gesprochen und zu acht Jahren strenger Lagerhaft verurteilt.
Putins Sprecher Dimitri Peskow erklärte schon im Vorfeld, dass die Sache keinerlei Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik haben werde – denn die obliege so oder so dem Staatschef.12 Diese süffisante Formulierung bricht sich in einer Gedichtzeile Uljukajews, die rund um seine Verhaftung wegen ihres prophetischen Anklangs oft zitiert wurde: „Gott ist fern, die Chefs sind nah.“13