Schwerpunkt diese Woche: der Zustand der russischen Wirtschaft. Welche Diagnosen werden in Russland selbst erstellt, wie verlässlich sind sie, und wie wirkt sich die ökonomische Lage auf das alltägliche Leben der Bürger aus? Außerdem: Assad in Moskau, syrische Flüchtlinge am Moskauer Flughafen Scheremetjewo, die Intransparenz der Entscheidungsfindung im Kreml und eine Bemerkung zu westlichen Experten, die von russischen Quellen zitiert werden.
Krise, was für eine Krise? Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew spricht lieber von hohen Preisen, unter denen die Menschen in Russland im Moment zu leiden haben oder davon, dass den Produzenten derzeit halt schlicht ein Vertrieb für ihre Produkte fehlt. Aber noch immer stöhnt Russland unter der Wirtschaftskrise und den Sanktionen. Mit seiner Wortwahl ist der Minister aber nicht allein, wie die Zeitung „Vedomosti“ feststellt. Zeitweise sei gar das Wort Krise in den Staatsmedien verpönt gewesen. Auch Präsident Wladimir Putin verbreitet regelmäßig optimistische Nachrichten: Der Höhepunkt der Krise sei erreicht, die Wirtschaft passe sich den neuen Umständen an, behauptete er zuletzt vergangene Woche beim Wirtschaftsforum „Russia calling“ in Moskau. Nun wächst die Hoffnung, die Talsohle könnte bereits durchschritten sein. Im September gab es bereits wieder ein Wachstum von 0,3 Prozent. Auch die Zentralbank spricht von einer Stabilisierung der Wirtschaft. Ende 2015 soll die Inflation bei 12 bis 13 Prozent liegen, bis 2017 möchte die Bank die Teuerung auf vier Prozent begrenzen. Russische Experten, wie etwa der renommierte Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher sehen solche Prognosen allerdings kritisch. Trotzdem rief das Wirtschaftsministerium diese Woche bereits das Ende der Krise aus. Nach einem Wirtschaftsrückgang von 3,9 Prozent in diesem Jahr wird für 2016 schon wieder ein geringes Wachstum von 0,7 Prozent erwartet, schenkt man den jüngsten Prognosen des Ministeriums Glauben.
Der verbreitete Optimismus könnte aber verfrüht sein. Auch in den nächsten Jahren stellen die außenpolitische Lage und der tiefe Ölpreis für die Erholung der russischen Wirtschaft noch Risiken dar, wie gazeta.ru schreibt. Auch halten sich die Folgen der Krise im Alltag hartnäckig. Die Preise für Lebensmittel sind im vergangenen Jahr gestiegen, bei Früchten zwischen 30 und 50 Prozent, wie RBK Daily schreibt. Die Teuerung ist zum Teil auch den Sanktionen geschuldet. Da man plötzlich keine Lebensmittel mehr aus den EU-Ländern importieren konnte, hat sich das Angebot verringert und die Preise dafür sind gestiegen. Auch sind die Reallöhne in diesem Jahr um neun Prozent gesunken. 21,7 Millionen Menschen (15,1 Prozent) lebten im ersten Halbjahr 2015 in Russland in Armut. Das heißt unter dem Existenzminimum von monatlich 10.017 Rubel [140 Euro]. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 18,9 Millionen Menschen.
Belastet wird das russische Budget auch durch die Militärintervention in Syrien. Vier Millionen Dollar pro Tag soll der Einsatz laut der Moscow Times kosten. Seit Beginn des Einsatzes am 30. September belaufen sich die Kosten auf schon insgesamt 80 bis 115 Millionen US-Dollar. Doch davon berichten die staatlichen Medien kaum. Mehr Platz bekam da schon der Überraschungsbesuch des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am Dienstagabend bei Wladimir Putin im Moskauer Kreml, inklusive einem Bericht über das servierte Menu. Höflich bedankte sich der russische Präsident dafür, dass al-Assad trotz der dramatischen Situation in seinem Land auf seine Einladung reagiert habe. Ohne russische Hilfe hätte sich der Terror bereits überall in Syrien ausgebreitet, revanchierte sich Assad. Das wichtigste sei allerdings, dass der Einsatz im Rahmen der internationalen Gesetze erfolge, so Assad weiter. Angesichts der Kollateralschäden unter der zivilen Bevölkerung durch die russischen Luftschläge eine zumindest fragwürdige Argumentation. Schutz und Unterstützung für syrische Flüchtlinge ist in Russland kein Thema, der Flüchtlingsstatus wird nur ganz selten erteilt. Wer ohne Visum einreist und nach Europa weiter will, muss damit rechnen, deportiert zu werden. Moskau sieht Flüchtlinge aus Syrien als Sicherheitsrisiko. Und die Novaya Gazeta hat diese Woche eine syrische Familie besucht, die bereits einen ganzen Monat im Terminal E am Flughafen Scheremetjewo lebt, nachdem ihnen die Einreise verwehrt wurde.
Der Chef der Präsidialadministration suchte derweil diese Woche die Bedenken über die Operation in Syrien zu zerstreuen. In einem großen Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Tass erzählte Sergej Iwanow von einem wohlüberlegten, nicht hastigen Entscheid zur Militärintervention. Mit dem Interview will der Kreml im Inland auch Stimmen entgegenwirken, welche ihm eine chaotische und einzig nach kurzfristigen Überlegungen ausgerichtete Entscheidungsfindung unterstellen, meint die Politologin Ekaterina Schulmann. Unklar ist jedoch auch nach dem Iwanow-Interview, wer denn am Ursprung der Entscheidung für den Syrien-Einsatz steht. Berichte und Gerüchte westlicher Medien, ein Trio bestehend aus Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew und ihm selbst habe Putin von der Militäroperation überzeugt, wehrt der Chef der Präsidialabteilung ab. Der Journalist Oleg Kaschin kritisiert die Aussagen Iwanows: Man habe überhaupt keine Möglichkeit herauszufinden, wie denn die Entscheidungen innerhalb der russischen Regierung getroffen würden.
Noch ein Nachtrag zu einem der Themen von vergangener Woche: Die russischen Staatsmedien warfen dem niederländischen Bericht zur MH-17 Katastrophe durchweg mangelnde Objektivität vor. Einige westliche Medien hätten nun aber damit begonnen, auf die russische Position umzuschwenken. Illustriert wurde diese Behauptung mit einem Artikel der Seite globalresearch.ca. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Zeitung oder ein etabliertes Internetportal, wie der Journalist und Medienexperte Alexej Kowaljow auf seinem Blog schreibt, sondern um eine Sammelseite für Verschwörungstheorien aller Art. Dass russische Medien sich auf westliche Experten berufen, die man schwerlich als solche bezeichnen kann, kommt häufiger vor: Etwa auch im Fall Lorenz Haag. Der deutsche Professor war lange Zeit ein begehrter Gesprächspartner für viele russische Medien. Die Geschichte hatte nur einen Schönheitsfehler: Titel und angebliches Institut waren frei erfunden.
Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org