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Bystro #34: Können Sanktionen Putin stoppen?

Kein einziger Staat weltweit ist derzeit mit so vielen Sanktionen belegt wie Russland. Über 6.000 einzelne Strafmaßnahmen – das sind mehr als gegenüber Iran und Nordkorea zusammen. Nun droht Russland der Bankrott, für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist er nur eine Frage der Zeit

Damit werden in Russland Erinnerungen an den Default des Jahres 1998 wach. Doch was bedeutet ein Staatsbankrott wirklich? Könnte er den Krieg stoppen, Russland in die Knie zwingen? Oder würden die Sanktionen dem System Putin womöglich gar in die Hände spielen? Ein Bystro mit Janis Kluge – in sieben Fragen und Antworten. 

Quelle dekoder

1. Russland steht vor dem Bankrott. Was bedeutet das? 

Russland wird seine Verpflichtungen aus Staatsschulden und Anleihen nicht erfüllen – das hat allerdings weniger mit Russlands Zahlungsunfähigkeit, sondern vielmehr mit seiner Zahlungsunwilligkeit zu tun. Die russische Regierung hat unilateral Regeln beschlossen, auf welche Weise sie diesen Verpflichtungen nachkommt: Sie will die zu entrichtenden Zinsen zunächst auf eine Art Sperrkonto zahlen – und zwar in Rubel und nicht, wie vereinbart, in US-Dollar. Die vertragsgemäße Rückzahlung knüpft Russland an die Aufhebung von bestimmten Sanktionen: Die vom Westen teilweise eingefrorenen russischen Zentralbankreserven in Fremdwährungen sollen wieder aufgetaut werden. Russland verstößt also gegen die eigentlichen Vertragsgrundlagen und nimmt damit bewusst einen Default in Kauf: Einerseits will es damit politischen Druck aufbauen, damit seine eingefrorenen Finanzreserven (laut Finanzminister Anton Siluanow geht es um etwa 300 Milliarden von insgesamt 640 Milliarden US-Dollar) wieder aufgetaut werden, andererseits will der Kreml den Abfluss von Devisen reduzieren. Insgesamt wäre Russland mit seinen Exporten von Energieträgern (die in US-Dollar gehandelt werden) aber bestens in der Lage, die Zinszahlungen zu bedienen. 
Dass der Staat als zahlungsunfähig eingestuft wird, hat aber zur Folge, dass auch russische Konzerne unter Umständen als zahlungsunfähig gelten werden. Westliche Banken etwa, die russischen Unternehmen Kredite vergaben, müssten diese Werte wegen des Defaults abschreiben oder Wertberichtigungen durchführen. Einzelne westliche Institute können dadurch Probleme bekommen. Deshalb richten derzeit viele den Blick auf westliche Banken, die sich in Russland engagiert hatten.

2. Warum hat der Kreml seine Reserven eigentlich nicht vor dem Zugriff des Westens geschützt? Ist es ein Hinweis darauf, dass der Krieg nicht von langer Hand geplant war? 

Russland hat schon 2018 begonnen, seine Reserven zu diversifizieren. Die Dollar-Abhängigkeit sollte reduziert werden: Was zuvor in US-Währung da war, wurde größtenteils in Euro, Yen oder das chinesische Renminbi umgeschichtet. Damals hat man aber offenbar nicht damit gerechnet, dass auch die Vermögenswerte in Yen und Euro eines Tage eingefroren werden könnten. Vermutlich ist der Kreml auch zunächst nicht davon ausgegangen, dass der Krieg so blutig und so umfassend werden würde und dass der Westen mit solch massiven Mitteln auf die Invasion reagiert. Aus heutiger Sicht scheint es absurd, dass Russland viele Jahre lang gespart und etwa eine Rentenreform durchgeführt hat, die politisch viel Kapital gekostet hat – all das, um eine Reserve aufzubauen, an die es heute nur teilweise drankommt: Geld, das für Krisenzeiten da sein sollte, ist jetzt schlicht nutzlos. Die Zentralbank hat sich da also eindeutig verkalkuliert. Da die wirtschafts- und finanzpolitische Elite des Landes offensichtlich nicht in die Kriegspläne eingeweiht war, ist es aber schwierig, ihr die Schuld dafür zuzuschieben.

3. Einige Beobachter sagen, dass die Reserven noch hoch genug seien, um mittelfristig auch den bisherigen Sanktionen gegen Russland trotzen zu können. Andere betonen, dass gegen Russland weitaus mehr Sanktionen verhängt worden sind als gegen den Iran, Nordkorea oder Venezuela. Das System Putin stehe also vor dem Kollaps. Was ist richtig?

Die Anzahl der Sanktionen sagt nicht viel über deren Härte aus. Der Iran ist heute immer noch härter sanktioniert als Russland. Bei der Verhängung von Sanktionen geht es um die Fragen, wie schnell sie wirken und wie viel Angriffsfläche es gibt. Wegen der enormen Abhängigkeit von der westlichen Technologie bietet Russland in der Tat sehr viel Angriffsfläche. Auch in Finanzfragen bietet Russland viel Angriffsfläche, weil es so gut in das globale Finanzsystem integriert war. Die Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage verhängt. Deshalb ist es eine historische Situation: Noch nie wurde ein so großes Land innerhalb so kurzer Zeit so massiv mit Sanktionen belegt. Bei dieser Konstellation gibt es viele Variablen, weshalb nicht klar ist, wie es weitergeht.

Solange Russland allerdings Öl und Gas exportieren kann, wird es immer genügend Deviseneinnahmen haben. Hinzu kommt, dass die russische Zentralbank den Devisenabfluss aus dem Land massiv eingeschränkt hat: Ausländische Investoren etwa dürfen ihre Vermögenswerte in Russland derzeit nicht verkaufen. Außerdem importiert Russland nun kaum noch etwas und Menschen aus Russland können derzeit fast keinen Urlaub im Ausland machen. Der Devisenabfluss ist somit vermutlich relativ gering, genaue Zahlen dazu gibt es noch nicht. Der Devisenzufluss dürfte aber immer noch hoch sein, angesichts hoher Gas- und Ölpreise. Aus diesen Gründen kann man Russland nur bedingt mit dem Iran oder Nordkorea vergleichen. Es wird zwar eine massive Wirtschaftskrise in Russland geben, diese wird aber einen ganz anderen Charakter haben als in den Staaten, die man an den Rand der Zahlungsunfähigkeit schubsen kann. Nur eine massive Reduzierung der Deviseneinnahmen aus dem Energieexport kann Russland ernsthaft gefährden. 

4. Der Rubel ist im Zuge der Sanktionen abgestürzt, der Ölpreis ist gestiegen. Da der Staatshaushalt in Rubel gerechnet wird, der Ölpreis aber in US-Dollar, hat der Staat derzeit mehr Einnahmen. Einnahmen, mit denen er auch den Krieg finanzieren kann. Wäre es allein aus diesem Grund nicht naheliegend, ein Öl- und Gasembargo gegen Russland zu verhängen, um den Krieg zu beenden? 

Die derzeit im Krieg eingesetzte Militärtechnik ist ja schon etwas älter. Wenn man so will, haben wir diese Technik – und diesen Krieg – in den vergangenen Jahren vorfinanziert, als wir Öl und Gas aus Russland kauften. Der föderale russische Staatshaushalt, der für das Militär verantwortlich ist, speist sich zu einem großen Teil direkt und indirekt aus den Exporten von Energieträgern. 
Alles, was wir jetzt in diese Richtung tun würden, würde Russlands Fähigkeit, diesen Krieg weiterzuführen, nicht signifikant einschränken. Mit Sanktionen können wir den russischen Vormarsch in der Ukraine nicht stoppen. Wir können damit nur den Druck auf das System Putin erhöhen, damit es den Krieg selber stoppt. Mittel- bis langfristig können wir durch Sanktionen außerdem die militärischen Möglichkeiten Russlands in künftig denkbaren Kriegen oder militärischen Konflikten einschränken. 

5. Laut Zentralbank soll die Inflation 2022 auf 20 Prozent klettern. Manche Analysten prognostizieren Schlimmeres: Sanktionen, so heißt es, können Massenarmut hervorrufen, Menschen auf die Straße treiben und zum Umsturz animieren. Können Sanktionen in solcher Weise die Regimestabilität gefährden?

Das Kalkül hinter so einem Denkschema ist ja, dass man durch Sanktionen eine zweite Front aufmacht – eine innenpolitische. Da gibt es zwei Argumente: „Rally 'round the flag“ – das Volk stellt sich hinter den Präsidenten – oder die Menschen beschuldigen die Machthaber für die wirtschaftlichen Probleme. Ich bin ein Anhänger der zweiten These. Die Erfahrung aus den Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 zeigen, dass es für die Machthaber opportun schien, die Wirkungen der Strafmaßnahmen kleinzureden. Putin muss aus der Position der Stärke reden, wesentliche Wirkungen von Sanktionen auf die Wirtschaft zuzugeben hieße da ein Eingeständnis von Schwäche. In der Staatspropaganda wird berichtet werden, dass die Sanktionen zwar lästig sind, aber eigentlich kein großes Problem. Vor diesem Hintergrund dürfte sich aber bei den Menschen in Russland eine Diskrepanz auftun: Das Realeinkommen fällt ja schon kontinuierlich seit 2014, 2022 droht aber noch eine weitaus höhere Inflation als bei der optimistischen Prognose der Zentralbank. Eine hohe Arbeitslosenquote ist zudem nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wie in vergangenen Jahren. Und damit auch fortschreitende Armut. Wenn den Menschen dann im Fernsehen etwas von der Wirkungslosigkeit westlicher Sanktionen erzählt wird, könnte sie das durchaus verärgern. Im berüchtigten russischen Bild vom Kampf des Fernsehens gegen den Kühlschrank könnte die Schere noch größer werden. Dass die Menschen ihre Verarmung aber nicht mit Sanktionen in Kausalzusammenhang stellen, sondern eher mit „denen da oben“ – das könnte den Effekt der „Rally 'round the flag“ reduzieren und für die Machthaber langfristig zum Problem werden. 

6. Oft heißt es, dass die westlichen Sanktionen vor allem die Ärmsten in Russland treffen: durch Inflation würden sie noch ärmer. Ist das so, treffen Sanktionen am Ende die Falschen?

Nein, die Sanktionen werden in erster Linie die Menschen treffen, die westliche Güter kaufen und mehr ins Ausland verreisen. Diese Menschen erfahren die höchsten Einbußen in puncto Lebensstandard. Im Gegensatz zu den vorangegangenen sanktionsbedingten Krisen kann es diesmal aber zu mehr Arbeitslosigkeit kommen: Da der Westen nun den Export von Technologiegütern größtenteils gesperrt hat, können einige russische Fabriken nicht mehr produzieren. Eine Zeit lang kann es zwar funktionieren, dass der Staat etwa die Lohnausfälle kompensiert, wie lange er das aber im großen Stil machen kann, ist fraglich. Die Sozialleistungen werden derzeit zwar erhöht, sie bringen aber wohl nur den Ärmeren in kleineren Städten und Dörfern etwas. Die urbane Mittelschicht dürfte damit zu den größten Opfern der Wirtschaftskrise werden. Dabei waren Konsum westlicher Produkte und Reisen in den Westen eine Art integraler Bestandteil des Systems Putin. Derzeit ist noch nicht klar, ob es sich von nun an nur noch auf Repressionen stützt, in der bisherigen Form ist das Modell heute allerdings nicht mehr denkbar. 

7. Sanktionen würden Russland nur stärker machen, behauptet Putin. Sein Kalkül: Die Importe sollen substituiert werden, durch Autarkie (und niedrigen Rubelkurs) könne sich Russland selbst mit allem versorgen, die russische Wirtschaft könne gar international konkurrenzfähiger werden. Ist an dieser These etwas dran?

Keine Volkswirtschaft kann heute Güter auf dem Stand der Technik alleine produzieren, nicht einmal die USA. Das sieht man beispielsweise am Flugzeugbau und in der IT-Branche: Die Einzelteile und das Knowhow kommen hier aus der ganzen Welt zusammen. Ohne Spezialisierung und Arbeitsteilung auf internationaler Ebene lassen sich auch solche Dinge wie Mikrochips nicht produzieren. Das heißt: Russland kann diese Dinge gar nicht replizieren, weil es eine kleine Volkswirtschaft ist und keine Erfahrung darin hat. Vor diesem Hintergrund haben die verhängten Sanktionen zur Folge, dass Russlands Wirtschaft schlicht primitiver wird und sich mehr und mehr in Richtung Petrostaat entwickeln wird. 
Seit dem 2014 proklamierten Kurs der Importsubstitution gab es in den russischen Staatsmedien häufig Erfolgsmeldungen: Russland, so hieß es, habe bei dem und dem Produkt 80, 90, 95 Prozent der Importe substituiert. Wenn aber auch nur ein Prozent des Produkts importiert werden muss, es durch Sanktionen aber nicht geht, dann wird es dieses Produkt in Russland schlicht nicht geben.
Ich bin überzeugt, dass Putin die russische Wirtschaft für viel autarker hält als sie eigentlich ist. Er unterschätzt die Abhängigkeit vom Ausland. Aus diesem Grund glaube ich, dass die russische Führung es derzeit überhaupt nicht überblickt, wie tiefgreifend die kommende Wirtschaftskrise sein wird.

 

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Janis Kluge
Veröffentlicht am: 17. März 2022

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Die Russische Zentralbank (RZB) ist die Nachfolgeinstitution der Gosbank der UdSSR und funktioniert erst seit 1995 nach marktwirtschaftlichen Prinzipien, als sie keine direkten Kredite mehr an Unternehmen vergeben durfte. Die direkte Vergabe solcher Kredite an staatliche Unternehmen war eine gängige Praxis in der Sowjetunion und wurde auch während der Schocktherapie 1992 bis 1993 fortgesetzt. Damit trug die RZB zur Hyperinflation bei, die durch Jegor Gaidars Preisliberalisierung ausgelöst wurde. 1994 brachte die RZB die Inflation unter Kontrolle und verfolgte in den nächsten Jahren einen strikt anti-inflationären Kurs. Unter anderem durfte die RZB seit 1995 das staatliche Budget nicht mehr finanzieren. Dadurch war das Finanzministerium gezwungen, Staatsanleihen an private Banken und Investoren im In- und Ausland zu verkaufen, woran diese sich dank Zinsen um bis zu 300 Prozent bereicherten. Der massive Anleihenverkauf war notwendig, da die russische Wirtschaft in dieser Zeit schrumpfte und wegen Liquiditätsproblemen auf Schuldscheine umstieg. Die notleidenden Unternehmen zahlten in dieser Lage überwiegend keine Steuern. Diese Politik mündete am 17.8.1998 in den Default, die staatliche Zahlungsunfähigkeit.

Die geldpolitische Herausforderung der 2000er Jahre hing hingegen mit dem hohen Ölpreis zusammen. Die russische Geldmenge ist institutionell an das Volumen der Währungsreserven der RZB gekoppelt. Wenn Rohstoffe exportiert werden, verkaufen Unternehmen ihre Devisen an die Zentralbank, wodurch neue Rubel emittiert werden. Steigen die Exporte, befinden sich mehr Rubel im Umlauf, und die Gefahr der Inflation beziehungsweise der Rubelaufwertung wächst.1 Um dieser vorzubeugen, betrieb die RZB in den 2000ern eine Politik der Geldsterilisation, indem sie einen Teil der emittierten Rubel wieder abschöpfte. Dazu diente unter anderem der Stabilisierungsfonds (SF), in dem das Steueraufkommen aus Ölexportzöllen und -gewinnungssteuern akkumuliert wurde. Insgesamt beliefen sich der SF und die Reserven der RZB vor der Wirtschaftskrise 2008 bis 2009 auf fast 500 Milliarden US-Dollar. Die SF-Nachfolgeinstitutionen – der Reservefonds und der Nationale Wohlstandsfonds – wurden neben den sonstigen Währungsreserven der RZB während der Krise dazu genutzt, das russische Finanzsystem zu stützen und die ausfallenden Budgeteinnahmen zu ersetzen. Aufgrund des Ölpreisrückgangs entstand Druck auf den Rubel und er musste abgewertet werden. Gleichzeitig erhöhte die RZB den Leitzins, um die Abwertungserwartungen zu stabilisieren.

Ähnlich agierte die RZB während der politischen Krise 2014 bis 2015, insbesondere während der Rubelabwertung im Dezember 2014, als die Währung gegenüber dem US-Dollar rund die Hälfte an Wert verlor. Da die RZB unter dem Vorsitz der Putin-Vertrauten Elwira Nabiullina 2013 den Rubel weitgehend freisetzte, konnte sie die Abwertungsdynamik nicht wie 2008 bis 2009 kontrollieren. Die RZB erhöhte den Leitzins von 10,5 Prozent auf 17 Prozent in der Hoffnung, Investoren anzuziehen. Allerdings gilt ein hoher Leitzins angesichts der strukturellen Probleme der russischen Wirtschaft als kontraproduktiv, weil er Kredite verteuert. Unerwartet erholte sich aber der Rubel in der ersten Hälfte des Jahres 2015 etwas und der US-Dollar kostete im Mai für eine kurze Zeit wieder weniger als 50 Rubel. Daraufhin wurde der Leitzins wieder allmählich gesenkt und beträgt aktuell (Stand August 2015) 10 Prozent.


1.Je nach dem, ob sich die Zentralbank entscheidet, den Rubelwert zu fixieren oder nicht, kommt es zu  Inflation oder zur Aufwertung der Währung.
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