Im Russland der 2000er Jahre steht der Begriff Gesellschaftsvertrag für ein implizites Einvernehmen zwischen Bevölkerung und politischer Führung: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2014/15 haben sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland jedoch derart verändert, dass das „Ende des bisherigen Gesellschaftsvertrags“ diskutiert wird.
Nach den leidvollen Erfahrungen der postsowjetischen Transformationsperiode (vgl. die 1990er), die geprägt war von Kriminalität und Terrorismus, Armut und Arbeitslosigkeit sowie ausbleibenden Löhnen und Pensionen, sehnten sich große Teile der russischen Gesellschaft nach Sicherheit und Wohlstand. Im Austausch für politische Stabilität, innere Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung war die Mehrheit der Bevölkerung daher bereit, auf unabhängige Medien und politische Teilhabe weitgehend zu verzichten. Diese Parallelexistenz von Politik und Gesellschaft – verkürzt: Loyalität und Nichteinmischung gegen wirtschaftliche Verbesserungen – wird zuweilen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet.1
Die Finanzkrise von 2008/09 gab ersten Anlass zu Zweifeln, ob dieses Arrangement dauerhaft aufrecht erhalten werden könnte. Zwar federte der Staat mit massivem Einsatz finanzieller Mittel – unter anderem einer drastischen Rentenerhöhung – die Effekte der Krise ab, jedoch sank die Zuversicht der Bürger bezüglich ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich.2 Dass dies sich nicht sofort auf die Beliebtheit Putins auswirkte, führt der Politikwissenschaftler Daniel Treisman auf den Georgienkrieg vom August 2008 zurück, der eine große Mehrheit der Bevölkerung im Angesicht eines außenpolitischen Konflikts hinter ihrer Regierung versammelte.3 Dieser sogenannte rally-round-the-flag-Effekt zeigt sich auch im Ukraine-Konflikt. Die neue Kiewer Regierung wurde als Bedrohung für ethnische Russen im Osten der Ukraine betrachtet, die Annäherung des Landes an den Westen beschwor Ängste vor einem Nato-Beitritt herauf. Mit der Angliederung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gewann die russische Führung erheblich an Popularität hinzu.
War die wirtschaftliche Leistung seit 2009 schon nicht mehr geeignet, dauerhafte Regimeunterstützung zu generieren, so wurde der Gesellschaftsvertrag der 2000er Jahre mit dem Ukraine-Konflikt endgültig transformiert. Die finanzielle Unterstützung der Krim, die enorme Aufstockung des Militärhaushalts (um 33 Prozent im Jahr 2015) sowie die wirtschaftlichen Einbußen infolge der westlichen Sanktionen verlangen der russischen Bevölkerung große finanzielle Opfer ab. Der Staat kürzt 2015 seine Ausgaben für Bildung (um 8 Prozent), Gesundheit (um 10 Prozent) und Wohnungsbau (um 40 Prozent), und die Reallöhne gehen 2015 um mindestens 9 Prozent zurück.4 Gleichwohl zeigen die Ratings des Präsidenten Werte wie zu besten Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs.5
An die Stelle des alten scheint also ein neuer Gesellschaftsvertrag zu treten: Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand der eigenen Bevölkerung werden angesichts der wahrgenommenen Bedrohungslage zurückgestellt. Im Austausch für Loyalität bietet die politische Führung nun ein neues Russlandbild an: nach zwei Jahrzehnten internationaler Bedeutungslosigkeit sei das Land nun „von den Knien auferstanden“ und habe seine Rolle als Großmacht wiedergefunden. Das Versprechen wirtschaftlichen Wohlergehens ist auf der Bürgerseite des Vertrages damit durch die Bereitstellung eines neuen Selbstbildes ersetzt: Das Psychologische tritt – zumindest teilweise – an die Stelle des Ökonomischen.
Folgt man dieser Interpretation, die auch Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center unterstützt6, so stellt sich die Frage, wie lange das neue Modell verlässliche politische Unterstützung erzeugen kann. Vor allem die armutsgefährdete Schicht unterhalb der Mittelklasse (Falscher Mittelstand) spürt die negativen wirtschaftlichen Folgen des neuen Gesellschaftvertrags, unter anderem durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Entwertung des Rubels. Da sie das gesellschaftliche Rückgrat von Putins Regime bildet, wird derzeit diskutiert, wie lange diese Gruppe einen Vertrag einhält, von dem sie wirtschaftlich nicht profitiert.