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Der russische Frühling

Ein Blick zurück auf die Protestbewegung, die nach den zweifelhaften Duma-Wahlen Ende 2011 die großen Städte erfasste: Hunderttausende von Menschen gingen mit der Forderung nach ehrlichen Wahlen und echter Demokratie auf die Straße. In seiner umfassenden Analyse untersucht Andrej Kolesnikow die Beweggründe für die Proteste, ordnet sie in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein und stellt die Frage: Wie kann es weitergehen?

Quelle The New Times

Vor drei Jahren [2011 - dek] begann in Russland eine Protestbewegung neuen Typs. Sie wird inzwischen allgemein die Bolotnaja-Bewegung genannt, benannt nach dem Bolotnaja-Platz in der Moskauer Innenstadt, auf dem die ersten großen Proteste stattfanden. Dieser Platz befindet sich – welch Ironie der Geschichte – direkt gegenüber vom Haus an der Uferstraße, auch bekannt als Geisterhaus der Stalinära.

Als die friedlichen Proteste Fahrt aufnahmen, als die Staatsführung zunächst nicht wusste, ob und wie sie reagieren sollte, als es für einen Augenblick so schien, dass die Ethik der Freiheit einen Klebstoff bilden könnte, der das Volk wieder vereint, wurde auf den Versammlungen der Oppositionsführer und der Intelligenzija nur um eine Frage gestritten: Wie lange wird das Putin-Regime noch durchhalten? Es ist vielen noch im Gedächtnis, wie auf einer dieser Sitzungen die Literaturwissenschaftlerin Marietta Tschudakowa dem Ancien Régime noch zwei Jahre gab … Inzwischen sind drei Jahre vergangen, das ehemalige politische Schlachtfeld bietet einen trostlosen und hoffnungslosen Anblick, wie in den Jahren der Stagnation, als die Zeit „alt und lahm wurde“, der Protest sich fragmentierte und in die Privatwohnungen und Küchen zurückzog. Und das Regime scheint, wie schon damals vor 30 oder 40 Jahren, für die Ewigkeit gemacht.

Nachholende Revolution

Heute denkt man nur noch selten daran, aber einer der wichtigsten Gründe für die damaligen politischen Turbulenzen war der Verzicht Medwedews auf eine zweite Präsidentschaftskandidatur. Mit anderen Worten: Die Machtrochade vom September 2011, als verkündet wurde, dass Putin ins Präsidentenamt zurückkehren und Medwedew als eine Art Entschädigung für seine Zeit als Sesselwärmer den Posten des Premierministers erhalten würde. Dies bedeutete zugleich das Aus jeglicher Hoffnung auf Modernisierung.

Die Rochade nährte damals Kritik und gab den Menschen Anlass zur Empörung. Den eigentlichen Sturm der Entrüstung aber entfesselten die offensichtlichen, dreisten und zynischen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011. Am nächsten Tag wurden während einer Demonstration in Moskau über 300 Personen festgenommen. Am 10. Dezember versammelten sich auf dem Bolotnaja-Platz schon über 150.000 Menschen zu Protesten. Bei diesen Demonstrationen kann man mit Fug und Recht von einem ethisch motivierten Protest sprechen – genau deshalb kamen auf dem Bolotnaja Platz auch Menschen zusammen, die sich vorher nie besonderes für Politik interessiert hatten und die bis dahin mit Putin grundsätzlich sogar zufrieden waren.

Diese ethische Basismotivation ist Jahrzehnte zuvor von der berühmten sowjetischen Dissidentin Larissa Bogoras beschrieben worden, im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Sie erklärte damals vor Gericht in ihrem Schlussplädoyer als Angeklagte: „Ich stand vor der Wahl zu protestieren oder zu schweigen. Hätte ich geschwiegen, hätte ich dadurch Vorgängen zugestimmt, denen ich unmöglich zustimmen konnte. Schweigen wäre für mich gleichbedeutend gewesen mit Lügen.“

Doch neben der ethischen gab es auch - bewusst oder spontan - eine politische Motivation. Der Staat, der einer sozialen und politischen Modernisierung bedurfte, verkündete de facto offen, dass es keine Veränderungen von oben geben würde – der ruhmlose Abgang Medwedews und die gefälschten Wahlen dienten hierfür als Beweis. Die Gesellschaft, oder wenigstens ein wirksamer Teil von ihr, war in seiner Entwicklung dem Staat voraus. Und zeigte daher seinen Anspruch auf Veränderung.

Der Staat seinerseits war nicht bereit, diese Ansprüche zu befriedigen, denn er verstand nicht, dass Revolutionen nicht auf Straßen und Plätzen stattfinden, sondern in den Köpfen der Menschen.

Die Proteste der Jahre 2011 und 2012 waren ein (weil das Land nicht modernisiert, sondern immer mehr archaisiert wird, nicht wiederholbarer) Versuch, Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse von Politik und Wirtschaft zu vollenden, die während Gorbatschows Perestroika und Gaidars Reformen nicht zu Ende geführt worden waren. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt solche Versuche, versäumte Entwicklungsschritte mit Verspätung, dann aber schlagartig zu vollziehen, „nachholende Revolutionen“. Die Farben- und Frühlingsrevolutionen der letzten Jahre fallen allesamt unter diesen Begriff, seien es nun die arabischen oder die russischen.

Präsident nicht aller Russen

Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz und die auf sie folgende reaktionäre Kehrtwende der Staatsführung nach den Präsidentschaftswahlen (der sogenannte Antifrühling 2012) haben das Modell des Präsidenten aller Russen endgültig begraben. Putin entschied sich, fortan nur noch die Interessen eines bestimmten Teils der Gesellschaft zu vertreten, aber nicht die aller Russen: Von der sich an demokratischen und markwirtschaftlichen Werten orientierenden Klasse fühlte er sich verraten. Und konnte ihnen die Proteste von 2011-2012 nicht verzeihen. Daher auch seine Besessenheit vom positiven Staatshaushalt: Erst der Überschuss im Budget erlaubt es ihm, sich die nötige Loyalität von Schlüsselfiguren des mittleren Machtgefüges zu erkaufen - und der ihm persönlich nahestehenden sozialen Schichten.

Diese Schichten, die zahlenmäßig starke Klasse unterhalb der Mittelschicht, sind die Stütze des derzeitigen Systems. Mit ihren Vertretern hat Putin so etwas wie einen separaten Gesellschaftsvertrag geschlossen: Er bewahrt sie vor dem Abgleiten in tatsächliche Armut und verschont sie auch weitgehend in Hinblick auf Anforderungen an ihre ökonomische Leistungsfähigkeit. Als Gegenleistung legen sie gegenüber ihren äußeren Lebensumständen Gleichgültigkeit an den Tag und wählen ihn. (Nach Schätzungen der Wirtschaftsexpertin Tatjana Malewa macht die Klasse unterhalb der Mittelschicht 70 % der Bevölkerung aus, wobei 40 % von ihnen von Armut bedroht sind).

Einen ähnlichen Fall beschrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire: „Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen.“

Daraus ergibt sich das Modell einer künstlichen Spaltung der Gesellschaft in Nicht-Richtige und Richtige: Bolotnaja gegen Poklonnaja, die Fünfte Kolonne gegen die ehrlich arbeitende Bevölkerung, Nerze gegen Güterwaggons aus der Uralwagonsawod, das weiße Band gegen die St.-Georgs-Bänder

Der Kreml fährt derzeit einen sehr harten Kurs gegenüber demjenigen Teil der Bevölkerung, der auf Veränderungen aus ist. Jegliche nicht staatlich abgesegnete Protesttätigkeit wird unterdrückt. Mit „seinem“ Teil der Bevölkerung spricht der Staat mit Hilfe des Budgets, das dank der Entwertung des Rubels erfolgreich weiter gefüllt wird. Und wenn der Staat Proteste befürchtet, dann von dem Teil der Bevölkerung, den er selbst als „seinen“ ansieht.

Es gibt noch ein wichtiges Detail des Protestwinters 2011–2012 und dieses betrifft die Nationalisten. Ihr Traum, auf der Welle des gesellschaftlichen Protests in Richtung Macht zu reiten, ist nicht in Erfüllung gegangen. Allerdings haben sie es geschafft, der Reputation der Oppositionsbewegung und ihrem Koordinationsrat einigen Schaden zuzufügen. (Bei Alexander Werchowski, Forscher über russischen Nationalismus, heißt es: „Erstens waren die fremdenfeindlichen Losungen ziemlich wirkungslos und unpopulär innerhalb der Protestbewegung. Zweitens hielt die erdrückende Mehrheit der radikalen Nationalisten es nicht für möglich, mit Liberalen und Linken an gemeinsamen Protestmärschen teilzunehmen.“ Zitiert nach: Ethnopolitik föderaler Macht und Aktivierung des russischen Nationalismus, Pro et Contra, 18, S. 24). Neutralisiert wurden sie aber letztlich von den Regierenden selbst, die Patriotismus und Nationalismus in einen staatstragenden Mainstream verwandelt haben und so ein eindrückliches Zeichen setzten, wer denn hier der eigentliche Nationalist ist.

All dies hat auch dazu beigetragen, dass die russische Bolotnaja-Bewegung sich insgesamt weniger radikalisiert hat als der ukrainische Maidan. 

Evolution des Protests

Die Bereitschaft der Bürger, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an Protesten teilzunehmen, hat inzwischen nahezu ein historisches Minimum erreicht. Die persönliche Bereitschaft an politischen Protesten teilzunehmen betrug im Oktober 2014 ganze 8 %, an wirtschaftlichen 12 %.

Einerseits ist das nachvollziehbar: Eine Protestwelle kann nicht beliebig lange auf demselben hohen Niveau bleiben, und auch die harten Maßnahmen der Staatsmacht wirken ohne Zweifel einschüchternd. Nicht jeder geht gern freiwillig ins Gefängnis. Auch der Post-Krim-Triumph des Patriotismus hat die Protestbereitschaft merklich gedämpft. Außerdem zeigte sich, dass die „Furcht vor der Freiheit“, von der Erich Fromm in seinem gleichnamigen Werk von 1941 schreibt, im Vergleich zum Bürgerprotest viel mehr das Zeug zum Massenphänomen hat. Bei Fromm heißt es: „Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch Teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus […], verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht.“

Über die letzten Monate hat sich der Staat so sehr der Abwendung einer möglichen Farbrevolution gewidmet, dass er dabei andere, neu entstehende Protestformen vollkommen übersehen hat – beispielsweise die Proteste der Ärzte in Moskau, die sich letztlich als überaus radikal erweisen könnten. Ein anderes Protestpotenzial entsteht ausgerechnet in denjenigen sozialen Schichten, die der Kreml eigentlich als sich selbst nahestehend begreift und auf deren Loyalität er bisher stets setzen konnte. Ihr Widerstand würde sich dann eher aus sozialer denn aus ethischer Unzufriedenheit speisen, aber auch er könnte sich schließlich politisieren. Denn allmählich gewinnt die Bevölkerung ein Bewusstsein dafür, dass eine Verbindung besteht zwischen der staatlichen Politik einerseits (Angliederung der Krim, Gegensanktionen, Steuerpressing) und den sozialen Problemen (sinkender Lebensstandard, Inflation) auf der anderen Seite.

Bolotnaja vs. Maidan

Gründe dafür, dass die Protestbewegung in Russland nicht zu einem Machtwechsel geführt hat, gibt es mehrere. Zum ersten besitzt die Ukraine kein Öl. Damit fehlt ein wichtiger außenwirtschaftlicher Posten im Budget, und dem Staat bleibt weniger Spielraum, sich die Loyalität der Bevölkerung mit Hilfe von punktuellen Sozialleistungen zu erkaufen. Zweitens ist Russland im Gegensatz zur Ukraine nicht zweigeteilt, sondern besteht aus mehreren Russländern mit ihren jeweiligen Eigenheiten. Laut der Wirtschaftsgeographin Natalja Subarewitsch gibt es Russland ganze vier Mal: Sie unterscheidet das Land der Großstädte, das Land der mittleren Industriestädte, das Land der Dörfer und Kleinstädte sowie die Region Nordkaukaukasus und Südsibirien. Bereits von daher ist es für die russische Protestbewegung schwieriger, sich zu konsolidieren.

Der dritte Grund besteht darin, dass – im Unterschied zum ukrainischen Maidan – die aggressivsten Bevölkerungsschichten sich den Bolotnaja-Protesten gar nicht angeschlossen haben. Das hat den Staat allerdings nicht davon abgehalten, Schauprozesse gegen vermeintliche Extremisten zu inszenieren, um das Bild von den „unverfrorenen Oppositionellen“ im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. (In insgesamt drei Gerichtsverfahren sind zwölf Personen zu Haftstrafen von 4,6 (Udalzow) bis 2,3 Jahren (Beloussow) verurteilt worden.)

Zu guter Letzt hat die russische Staatspropagandamaschine alles darangesetzt, den ukrainischen Maidan als ein „faschistisches Lager“ darzustellen, welches er in Wirklichkeit nie war, obwohl dort genug Radikale teilnahmen. Die vom Staatsfernsehen verbreiteten Bilder und noch mehr die Kommentare zu ihnen haben viele in unserem Land dazu bewegt, auf Abstand zu der Protestbewegung zu gehen. Und die Parole „Krim nasch!“ hat auch ihren Teil zur Unterstützung der Machthaber beigetragen.

Eine Revolution in Russland ist ein langwieriger Prozess, und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Unser politisches Regime ist von Bonapartismus geprägt – einer „labilen Beständigkeit innerhalb einer langfristigen Instabilität“, wie die Historiker W. Mau und I. Starodubrowskaja es ausdrücken (Große Revolutionen: von Cromwell bis Putin, Moskau, 2010, S. 519–520). Der Dreifuß aus Präsident, Kirche, Armee wird vom Superkleber Krim zusammengehalten. Doch einen zweiter Kleber mit gleicher Bindekraft gibt es nicht. Dabei hat die Politik der Staatsführung uns jetzt schon in die Stagflation gelenkt und führt uns voller Zuversicht weiter in die Rezession. So werden die Bolotnaja-Proteste bestimmt nicht die letzte Herausforderung für die Machthaber gewesen sein.

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Bolotnaja-Platz

Der Bolotnaja-Platz befindet sich zwischen dem Kreml und dem alten Kaufmannsviertel Samoskworetschje im Zentrum Moskaus. Er hat im Mittelalter zunächst als Handelsplatz gedient, später kam ihm immer wieder eine wichtige politische Bedeutung zu, zuletzt während der Proteste gegen die Regierung in den Jahren 2011/12.

Der Bolotnaja-Platz ist ein circa 350 mal 100  Meter großer öffentlicher Platz im historischen Stadtzentrum Moskaus. Er befindet sich gegenüber dem Kreml auf der künstlichen Baltschug-Insel (auch Bolotnaja-Insel genannt), die vom Moskwa-Fluss im Norden und dem Wasserumleitungskanal im Süden begrenzt wird.

Foto © Leonid Faerberg

Bis in das späte 18. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet regelmäßige Überflutungen, woher sich auch der Name ableitet (boloto = Sumpf, Moor). Da der Platz nicht für die Bebauung geeignet war, entstand an dieser Stelle bereits im Mittelalter ein zentraler Handelsplatz. Zugleich war der Platz bekannt für die traditionellen russischen Boxkämpfe (kulatschny boj) sowie für öffentliche Hinrichtungen von Aufständischen, weshalb ihm bis heute eine wichtige historische Bedeutung zukommt. Hier wurde 1671 der Anführer der aufständischen Donkosaken gegen das Zarenreich gevierteilt und 1775 der Anführer des Bauernaufstands enthauptet.

Erst als 1786 ein Kanal zur Umleitung der Moskwa fertiggestellt wurde, nahmen die Überflutungen ab und es wurde möglich, die neu entstandene Insel zu bebauen. Nach der Oktoberrevolution verlor der Bolotnaja-Platz seine Bedeutung als Handelszentrum und wurde allmählich zu einer parkähnlichen Anlage umgestaltet. 1931 entstand am Rande des Platzes das konstruktivistische Haus an der Uferstraße (dom na nabereshnoj, offiz. dom prawitelstwa (Haus der Regierung), in das zahlreiche Parteifunktionäre einzogen, von denen viele wiederum den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen, sowie das für die sowjetische Architektur ebenso prototypische Kinotheater Udarnik.

Nach dem Ende der UdSSR wurde der eher unscheinbare Platz vorwiegend von Jugendlichen und Subkulturen als Treffpunkt benutzt. Im Anschluss an die umstrittenen Parlamentswahlen im Dezember 2011 fanden dort – nicht zuletzt weil er als öffentlicher Raum in unmittelbarer Nähe des Kreml mehr als 50.000 Personen Platz bietet – die größten Regierungsproteste seit den 1990er Jahren statt. Dadurch ist der Bolotnaja-Platz zu einem symbolischen Ort der Protestbewegung geworden. Andererseits wird der Ausdruck Bolotniki (dt. etwa: die vom Bolotnaja-Platz) häufig von Regierungsseite verwendet, um die Regierungskritiker in Anlehnung an die ursprüngliche Bedeutung des ehemaligen Sumpfes in ein negatives Licht zu rücken.

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