Stell dir vor, es sind Wahlen und keinen interessiert’s. Was sind dann die Gründe dafür? Auf Poslednije Tridzat – einem Portal, das die Entwicklung seit der Perestroika in den Blick nimmt – analysiert Gleb Tscherkassow die kurze demokratische Tradition in Russland: Präsidentschaftswahlen gab es erstmals vor 25 Jahren. In den 1990er und 2000er Jahren sei die direkte Teilnahme der Bürger am politischen Prozess mehr und mehr durch Polittechnologien ersetzt worden, meint Tscherkassow. Für den stellvertretenden Chefredakteur des Kommersant tragen allerdings nicht nur korrupte oder autokratische Politiker die Schuld, sondern vor allem auch die Bürger selbst.
Ein gutes Bild für die Geschichte der Wahlen im zeitgenössischen Russland ist das alte Gleichnis vom Vater, der seinen in Wohlstand und Müßiggang aufgewachsenen Sohn ausschickt, um Geld zu verdienen. Die Mutter hat mit ihrem Herzensjungen Mitleid und gibt ihm heimlich Geld: Da, gib das dem Vater, sag ihm, du hättest es selbst verdient. Der Sohn gibt dem Vater das Geld, und der wirft es ins Feuer. Der Sohn zuckt mit den Schultern, bekommt am nächsten Tag wieder Geld von der Mutter und sieht es wieder verbrennen. Schließlich hat die Mutter kein Geld mehr und der Sohn muss es wirklich selbst verdienen. Als er ein paar Münzen nach Hause bringt, wirft der Vater sie wieder in den Ofen. Der Sohn schreit auf und beginnt, das Geld aus der heißen Kohle zu scharren. Da sagt der Vater: „Jetzt sehe ich, dass du das Geld selbst verdient hast.“
Freie Wahlen entsprachen Flügen in andere Galaxien
1987 entsprachen direkte, gleiche und freie Wahlen in etwa Flügen in andere Galaxien: Irgendwann ja, aber nicht in absehbarer Zukunft, weil es unmöglich ist. Bereits zehn Jahre später hatte jeder Bürger das Recht, die gesamte Regierung zu wählen, von der lokalen Selbstverwaltung bis zum Präsidenten.
Was in anderen Ländern jahre- und jahrzehntelang erkämpft wurde, bekam die russische Bevölkerung mit – nach historischen Maßstäben – minimalem Aufwand.
Michail Gorbatschow wurde im März 1990 auf einem Kongress der Volksdeputierten zum Präsidenten der Sowjetunion gewählt. Boris Jelzin wurde 1991 bereits in allgemeinen Wahlen zum Präsidenten der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) gewählt, nach einer kleinen politischen Kampagne und einem Referendum über die Einführung des Präsidentenamtes.
Von den Wahlen erwartete man Wunder
Das sind wohl die einzigen Beispiele dafür, dass sich die Bürger für ihr Wahlrecht einsetzten. Genau deswegen gelten die späten 1980er und frühen 1990er Jahre auch als Zeit eines außergewöhnlichen politischen Elans. Die Konzentration von Ereignissen führte zu Hoffnungen, die in einem anderen Moment nicht hätten entstehen können.
Von den Wahlen erwartete man Wunder. Es schien, als würde es genügen, bestimmte Gesetze zu erlassen, damit alles sehr gut würde. Vielleicht sogar ausgezeichnet. Und um diese Allheil bringenden Gesetze zu erlassen, brauchte man nur die Richtigen zu wählen.
Man wählte. Die Gewählten versuchten anfänglich sogar, die Allheil bringenden Gesetze zu erlassen. Das unvermeidliche Ausbleiben der gewünschten Ergebnisse führte man darauf zurück, dass man doch nicht ganz die Richtigen gewählt hatte.
Als sich die Hoffnungen nicht erfüllten, begann man den Wahlen fernzubleiben, und zwar ohne damit besonderen Widerstand leisten zu wollen. Es heißt, das habe unter Wladimir Putin begonnen, aber den Präzendenzfall gab es schon während der Regierungszeit seines Vorgängers Boris Jelzin:
1993 wurden beide Kammern der Föderationsversammlung durch Direktwahlen bestimmt. 1995 war die Präsidialverwaltung aber sehr interessiert daran, ihre Beziehungen zu den regionalen Eliten zu verbessern. Aus diesem Grund entstand ein Gesetzesentwurf, der vorsah, den Föderationsrat durch regionale Gouverneure und Vorsitzende der Regionalparlamente zu ergänzen. Die Öffentlichkeit nahm das gleichgültig hin. Das System zur Bildung des Oberhauses, sprich des Föderationsrats, hat sich seither mehrmals geändert, aber von Direktwahlen war nie mehr die Rede.
Die Öffentlichkeit nahm alles gleichgültig hin
Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion war Russland beinahe das einzige Land, in dem regionale Regierungsoberhäupter, meist heißen sie Gouverneure, direkt gewählt wurden. Zunächst in den Jahren 1993 bis 2004; seit 2012 ist das nun wieder so. Die Erinnerung an öffentliche Kampagnen für die Einführung der Gouverneurswahlen beziehungsweise gegen ihre Abschaffung fällt schwer. Es gab nämlich keine. Es heißt zwar, dass man sich auf dem Bolotnaja Platz 2011 unter anderem für die Gouverneurswahlen einsetzte. Falls es diese Forderung tatsächlich gab, war sie sicherlich keine der vorrangigen.
Dasselbe gilt für die Abschaffung der Einerwahlkreise: Ohne Trauer nahm man 2004 die Abschaffung zur Kenntnis, ohne Freude 2012 die Wiedereinführung.
Würde man die Dumawahlen abschaffen, gäbe es wohl kaum Protest
Die Abschaffung direkter Bürgermeisterwahlen, die im Moment flächendeckend stattfindet, stößt zwar auf Widerstand, der aber in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Prozesses steht. Öffentliche Anhörungen, zwei, drei Kundgebungen, ein paar Artikel und Blogeinträge.
Gut möglich, dass es keine großen Proteste geben würde, wenn sich morgen herausstellt, dass die Dumawahlen leider aus irgendeinem Grund abgeschafft werden müssten. Warum sollte man denn groß Lärm schlagen?
Übrigens hat sich die große Masse der Bürger schon lange bevor man den Wahlen fernblieb vom alltäglichen politischen Engagement verabschiedet. Das Verständnis dafür, dass das Einwerfen des Wahlzettels nur ein winziger Teil einer großen Aufgabe ist, verlor sich in den frühen 1990er Jahren beinahe sofort.
An der Aufstellung der Kandidaten mitwirken, ihre Programme diskutieren, Unterstützung organisieren, Stimmen verteidigen, gegen Wahlverstöße protestieren – mit all dem haben sich zu wenige Bürger über zu kurze Zeit befasst. Alles war so schnell gegangen, dass man das Gefühl hatte, es gebe nichts weiter zu tun und man brauche sich nur noch an den Früchten der Demokratie zu erfreuen. Und als diese Früchte ausblieben, war man enttäuscht.
Politisches Engagement als Synonym für Idiotie
Politisches Engagement wurde allzu bald zu einem Synonym entweder für prinzipienloses Karrieredenken oder für offenkundige Idiotie. Aus diesem Grund führten die Polittechnologen ihre Kampagnen schon Mitte der 1990er Jahre lieber ohne Aktivisten durch. Mit angeheuerten Helfern ging es einfacher.
In Wirklichkeit hat der rasante Aufschwung der Polittechnologie über die vergangenen 25 Jahre in Russland damit zu tun, dass ein Ersatz für politisch engagierte Bürger hermusste. Wo es keine Begeisterung gibt, braucht es Instrumente und die Fähigkeit, die Massen zu lenken. Die besten Polittechnologen gingen aus der demokratischen Welle hervor, nur galten die Werte, die ihnen in den späten 1980er Jahren noch am Herzen lagen, bereits zehn Jahre später nur noch bedingt.
Eigentlich haben dieselben Leute die Wahlen eingeführt, die sie später zu Grabe trugen. Dahinter steckte keine Absicht, man entschied sich nicht bewusst dafür, die Wahlen in einen Wettlauf der Beschaffung von Geld und Technologie zu verwandeln. Die Werte änderten sich schleichend, nach und nach. Es ist kein Zufall, dass die Polittechnologen aus den späten 1980er Jahren beinahe immer nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung überzeugen mussten, dass ihr Kandidat, ihre politische Kraft gar nicht so schlecht sei, letzten Endes vielleicht sogar besser als die anderen.
Eigentlich haben dieselben Leute die Wahlen eingeführt, die sie später zu Grabe trugen
Die Kriege der begeisterten Söldner konnten nicht ewig weitergehen. 2011 war der Anstieg des politischen Engagements deswegen so fühlbar, weil Tausende Menschen nicht einfach nur an Kundgebungen teilnahmen oder Wahllokale aufsuchten, sondern Wahlkommissionen beitraten und so ihre Bereitschaft zeigten, sich über längere Zeit politisch zu engagieren. Vielleicht wird das alles im Sande verlaufen. Möglich ist aber auch, dass der wiedererwachte Wunsch, wenigstens ein bisschen Kraft und Zeit in den politischen Umbau zu stecken, früher oder später Früchte tragen wird.