Im April 2015 war sie angetreten, um bei den Dumawahlen 2016 eine geeinte, breite Front gegen die Kreml-Partei Einiges Russland zu bilden. Doch nur knapp ein Jahr nach ihrem Entstehen zerbrach Russlands Demokratische Koalition wieder. Zu der hatten sich Parteien der nicht-systemischen Opposition zusammengeschlossen – also diejenigen Oppositionsparteien, die nicht in der Duma vertreten sind. Darunter waren auch einige Gruppen, denen bereits bei der offiziellen Registrierung als politische Partei immer wieder Steine in den Weg gelegt werden.
Iwan Dawydow analysiert die Hintergründe in The New Times.
Anfang Mai hat sich endgültig gezeigt: Die Demokratische Koalition um die Partei PARNAS ist gescheitert. Und daran sind keineswegs nur Intrigen des hinterlistigen Kreml schuld.
Das Scheitern dieser Koalition hat natürlich Folgen: vermindertes Vertrauen der potentiellen Wähler in die nicht-systemische Opposition; verlorene Zeit, die die Kandidaten, die behindert worden waren, nun aufholen müssen, wenn sie im Wahlkampf noch irgendwie in Erscheinung treten wollen; schwindende Chancen, dass Abgeordnete mit einer vom Kreml unabhängigen Position in die siebte Staatsduma einziehen werden.
Der Start
Am 27. Februar 2015 wurde in Moskau Boris Nemzow, der Ko-Vorsitzende der Partei PARNAS, ermordet. Daraufhin unternahmen zahlreiche Oppositionspolitiker den Versuch, vor der anstehenden großen Wahlperiode die kremlkritischen Bewegungen in einer Koalition zu vereinen. Im Herbst 2015 standen Wahlen in elf Regionen an, im Herbst 2016 folgen nun die Wahlen zur Staatsduma.
Als die Oppositionellen mit den Verhandlungen über die Bildung einer Koalition begannen, waren sie in einer Krisensituation: Die Demonstrationen in den Städten, die den Kreml 2011/12 so beunruhigt hatten, waren komplett abgeflaut. Putins Beliebtheitswerte wuchsen dank der Krim-Euphorie und weiterer „geopolitischer Erfolge“ unablässig.
EINE CHANCE, DIE KRISE ZU ÜBERWINDEN
Lässt man einmal die systemischen Oppositionsparteien außer Acht und auch die Partei Jabloko, die den Ruf hat, notorisch kompromissunfähig zu sein, dann hatte die Opposition „außerhalb des Systems“ Folgendes zu bieten: Parteien, bei deren Namen und Programmen selbst ihre Anhänger durcheinanderkamen sowie eine Handvoll landesweit bekannter Politiker.
Die Bildung einer Koalition war eine Chance, die Krise zu überwinden. Und – allen russischen politischen Traditionen zum Trotz – gelang es den Oppositionellen, sich zu einigen.
Am 17. April 2015 unterzeichneten die Partei PARNAS, mit Michail Kassjanow an der Spitze, und Nawalnys Fortschrittspartei ein Koalitionsabkommen. Am 20. April schlossen sich ihnen die Parteien Demokratische Wahl (Wladimir Milow), Bürgerinitiative (Andrej Netschajew) und auch die nicht-registrierte Partei des 5. Dezember und die Libertäre Partei an. Michail Chodorkowskis Offenes Russland gab seine Unterstützung der Demokratischen Koalition bekannt.
Dabei sein ist alles?
Unter den mit der Demokratischen Koalition sympathisierenden Politologen und Journalisten begann ein Streit: Sollten die Oppositionellen überhaupt an den Wahlen teilnehmen?
Die Argumente derer, die gegen eine Teilnahme sind, brachte Fjodor Krascheninnikow für The New Times auf den Punkt: „An Wahlen sollte man nur teilnehmen, wenn eine Chance auf Erfolg besteht und wenn man Vertrauen in die Wahlkommission hat. Andernfalls spielt die Opposition durch die Teilnahme an den Wahlen nur den Machthabern in die Hände – sie legitimiert sowohl die Wahlen als auch das gewählte Machtorgan.
Wenn man sich einverstanden zeigt, beim Hütchenspiel mitzumachen, macht man damit nicht nur den Hütchenspieler reich, sondern führt auch zufällige Passanten in die Irre: Sie sehen, dass da ein anständiger Mensch mitspielt, und schließen daraus, dass wohl alles rechtens zugeht.“
DIE WAHLEN ALS HÜTCHENSPIEL
Es gibt aber auch starke Argumente für eine Teilnahme an den Wahlen. Denn die Machthaber brauchen nicht nur einfach Oppositionelle, die an den Wahlen teilnehmen. Sie brauchen Oppositionelle, die verlieren.
Und das bedeutet, dass die Machthaber während des Wahlkampfs alle nur denkbaren Verstöße zulassen werden, um eine Niederlage der Opposition sicherzustellen, einfach weil sie nicht anders handeln können.
Ob nun aber solche Skandale dazu beitragen, den Wahlprozess zu legitimieren, darüber ließe sich streiten. Wichtiger ist, dass man selbst bei aussichtslosen Wahlen die Gelegenheit bekommt, größere Bekanntheit zu erlangen und das eigene Wahlprogramm an diejenigen Wähler heranzutragen, die nicht lesen, was die Opposition in den sozialen Netzwerken schreibt.
VORWAHLEN: KOMPLIZIERTES PROZEDERE
Unterdessen hat sich gezeigt, dass das Prozedere von Vorwahlen kompliziert und selbst für treue Wähler wenig attraktiv ist. Außerdem greift die Antikorruptionsagenda in den Regionen einfach nicht: Wie Ilja Jaschin, der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, nach mehr als einem Dutzend Treffen mit Bewohnern von Kostroma erzählt, hörten die Omas in den Höfen seinen Erzählungen über die Mehreinnahmen der Osero-Mitglieder zwar interessiert zu. Aber die Nachricht, dass Beamte und der Machtelite nahestehende Bürger in Russland stehlen, ist für Bürger, deren Leben sich fern der Machtzirkel abspielt, keine große oder besonders erschütternde Nachricht.
Der Weg zum Scheitern
Für die Mitglieder der Demokratischen Koalition selbst stellte sich die Frage nicht, ob sie an den Wahlen teilnehmen sollten oder nicht. Sie konzentrierten sich auf die Vorbereitung des Wahlkampfs.
Ihre Listen sollten mit Hilfe von Vorwahlen aufgestellt werden. Im Dezember 2015 wurde bekannt, dass die ersten drei Plätze auf der Liste schon vergeben waren. Den ersten bekam der Vorsitzende von PARNAS, Michail Kassjanow, der zweite und dritte waren für „russlandweit bekannte Leute“ reserviert, deren Namen nicht genannt wurden.
Ilja Jaschin verkündete damals, das sei eine „bewusste Entscheidung der ganzen Koalition“. Die Vorwahlen hätten am 23. und 24. April stattfinden sollen. Später verschob man sie „aus technischen Gründen“ auf Ende Mai.
Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass das Problem nicht Störungen auf der Vorwahlen-Website waren. Es war das geringe Interesse am Verfahren, auf das die Vertreter von PARNAS bestürzt reagierten.
Man hatte in der Koalition damit gerechnet, dass rund 100.000 Personen an den Vorwahlen teilnehmen würden, doch nach Informationen, die The New Times vorliegen, hatten sich zwei Wochen vor Abstimmung nur rund 6000 Wähler auf der Website registriert.
Es gab Gerüchte, PARNAS erwäge, die Liste doch nicht auf der Grundlage von Vorwahlen aufzustellen. Damals sagte Alexej Nawalny gegenüber The New Times: „Die Fortschrittspartei kann im Falle einer Nichtanerkennung der Vorwahlen nicht in der Koalition verbleiben.“
Der letzte Schlag war der Film Kassjanows Tag, den NTW am 1. April ausstrahlte: Dass kompromittierendes Material über sie verbreitet und in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt wird – daran sind Oppositionelle ja gewöhnt, sollte man meinen. Doch durch die scharfen Bemerkungen, die Natalja Pelewina, eine Parteigenossin Michail Kassjanows, in dem Film über andere Mitstreiter aus dem Bündnis machte, fühlten sich manche Mitglieder der Demokratischen Koalition ernsthaft vor den Kopf gestoßen.
KLEINLICHER ZANK UND SCHULDZUWEISUNGEN
Zunächst machte Ilja Jaschin von PARNAS Kassjanow den Vorschlag, er möge auf seinen ersten Listenplatz verzichten und gleichberechtigt mit allen anderen an den Vorwahlen teilnehmen. Kassjanow lehnte ab. „Als Zeichen des Protests“ zog Jaschin seine Kandidatur für die Vorwahlen zurück.
Später wiederholte Alexej Nawalny die Forderung Jaschins. Darauf folgten lange und offenbar selbst für die Mitglieder der Koalition uninteressante Streitereien darüber, wer als erster welche Abmachungen verletzt hat. Demokratische Wahl und die Fortschrittspartei verließen die Koalition, die dann aufhörte auf zu existieren.
Der vergessene Wähler
Was bleibt übrig statt einem Wahlbündnis der Opposition? Kleinlicher Zank und eine Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen.
Die Kleinlichkeit ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass die PARNAS-Liste ohnehin nicht durchkommen wird. Falls jemand Chancen hatte, waren es die Abgeordneten aus einzelnen Einerwahlkreisen mit einer vornehmlich gebildeten städtischen Bevölkerung.
Doch die Koalitionsmitglieder interessierten sich nicht für die Einerwahlkreise, sondern konzentrierten sich auf das Gefeilsche um die Listenplätze. Sie kämpften, als hätten sie bereits die Duma-Mehrheit inne, als wäre ihnen bei den kommenden Wahlen der Sieg sicher und es ginge nur noch darum, wie man die Mandate aufteilen soll.
WAS ERFÄHRT DER WÄHLER DENN ÜBER DIE OPPOSITION?
Was hat ein potentieller Wähler letztlich über die Opposition erfahren? Ein neuer Wähler, kein treuer, der ergeben die Blogs der Koalitionsleader liest? Nur das, was Pelewina in dem NTW-Film über ihre Kollegen gesagt hat und was man lieber nicht laut wiederholt.
Die Mitglieder der Koalition, die beschlossen hatten, mit der Regierung Wahlen zu spielen, haben die wichtigsten Teilnehmer an diesem Spiel übersehen: die Wähler. Sie haben sich mit Fragen zur Vorgehensweise herumgeschlagen, statt den Wählern zu erklären, warum man eigentlich für die Opposition stimmen soll. Und zwar sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Dumawahlen.
Dem Wähler ist doch egal, wer wen hintergangen hat und wer immer noch mit weißer Weste und stolzem Blick dasteht. Den Wähler interessiert, was ihm die Leute, die „in der realen Politik“ mitmischen wollen, neben Schockmeldungen über die Reichtümer der Brüder Rotenberg tatsächlich anzubieten haben.
Der offizielle Wahlkampf hat noch nicht begonnen, noch bleibt Zeit, die Fehler auszubügeln. Aber dazu gilt es über den eigenen Schatten zu springen, die eigene Makellosigkeit in Frage zu stellen, den schmachvollen Erfahrungen Rechnung zu tragen.
Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass das für die Anführer der nicht-systemischen Opposition eine lösbare Aufgabe ist.