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Zwischen den Fronten

2014 versprach Wassil Werameitschyk seiner Familie, für die Verteidigung der Ukraine zu kämpfen, wenn einmal Panzer Richtung Kyjiw rollen sollten. Als 2022 tatsächlich Panzer Richtung Kyjiw rollten, löste er sein Versprechen ein. Als ausgebildeter Soldat schloss sich der Belarusse dem Widerstandskampf der Ukraine an. Dorthin war er geflohen, weil ihm in Belarus die Festnahme drohte. Während der Massenproteste 2020 war er bereits im Gefängnis gelandet.  

Heute befindet sich Werameitschyk wieder in belarussischer Haft. Im November 2024 war er in Vietnam verhaftet und den belarussischen Behörden übergeben worden – es ist eine wilde Geschichte mit vielen Fragezeichen, die aber auch zeigt, wie belarussische Freiwillige aus jeglichem Raster herausfallen und zwischen die Fronten geraten können. 

Seit der Festnahme setzen sich seine Frau und seine Mutter bei der ukrainischen Führung dafür ein, ihn auf die Listen zum Gefangenenaustausch zu setzen. Das belarussische Online-Portal Euroradio hat mit Werameitschyks Frau Jauhenija gesprochen und erzählt die tragische Geschichte ihres Mannes.  

Quelle Euroradio

Mitte März wurde in der Ukraine der Tag des Freiwilligen begangen. Zu diesem Anlass wurde dem Kastus Kalinouski-Regiment, in dessen Reihen sich Wassil Werameitschyk an der Verteidigung der Ukraine beteiligte, die Auszeichnung Für eure und unsere Freiheit verliehen – die größte kollektive Auszeichnung der Ukraine.  

Fast zeitgleich hielt der Abgeordnete Ihor Hrus eine Rede in der Werchowna Rada. Er wies auf die Notwendigkeit hin, belarussische Kriegsgefangene zu befreien: „Leider gibt es Jungs, die in den ukrainischen Streitkräften gekämpft haben und sich jetzt in Kriegsgefangenschaft befinden. Die müssen wir alle befreien“, sagte Hrus vor dem Parlament.  

Abgesehen von Werameitschyk weiß man von zwei weiteren belarussischen Freiwilligen, die Kriegsgefangene sind – aber in Russland: Sergej Degtew (Kampfname Kleschtsch – dt. Zecke) und Jan Djurbejko (alias Trombli). Sie stehen zwar in den Austauschlisten, über ihr Schicksal ist jedoch seit mehr als zwei Jahren nichts bekannt. Seit Werameitschyk im November 2024 in Vietnam verhaftet wurde, klappert seine Frau Jauhenija die ukrainischen Instanzen ab, hat aber bisher auf alle ihre Schreiben nur maschinelle Antworten bekommen. Jetzt schöpft sie allerdings Hoffnung: 

„Erstens signalisiert Lukaschenko seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Bereitschaft, Kontakt zu den USA aufzunehmen. So gab er dem US-amerikanischen Blogger Mario Naufal ein Interview. Offenbar sieht er in Trump ein würdigeres Gegenüber als in Joe Biden. Zweitens haben wir durch Trumps Zutun bereits die Befreiung von mehreren politischen Gefangenen in Belarus gesehen. Das bedeutet, dass Absprachen möglich sind. Natürlich sind politische Häftlinge etwas anderes als Kriegsgefangene, aber es zeigt doch, dass Lukaschenkos Regime gesprächsbereit ist.  

Zudem tauchen in den Medien jetzt die Namen von Belarussen auf, die auf Seiten Russlands gekämpft haben und mittlerweile in ukrainischer Kriegsgefangenschaft sitzen. Manche von denen haben sich sogar schon an Lukaschenko gewandt. Und wir können nun den Austausch dieser Leute gegen jene anbieten, die die Ukraine verteidigt haben. Seit Wassilis Entführung im November haben wir verschiedene Strategien verfolgt. Wir hoffen, dass sich in der Ukraine Leute finden, die uns zuhören und gesprächsbereit sind.“  

Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat

Werameitschyk hatte auch in der Armee von Belarus gedient 

Wir sprachen mit Wassil Werameitschyks ehemaligem Kameraden, den er gleich in den ersten Kriegstagen kennenlernte. Wassili kam damals ins Quartier nach Kyjiw, wo die freiwilligen Kämpfer zwischen ihren Einsätzen untergebracht waren. Werameitschyk hatte früher einmal als Vertragssoldat in den belarussischen Streitkräften gedient, aber vor fast zehn Jahren gekündigt und dann in die IT-Branche gewechselt. Als ehemaliger Offizier konnte Werameitschyk professionell agieren. Er war gut im Organisieren von Abläufen und kannte viele nützliche Tipps – im Unterschied zu vielen anderen, die im Februar 2022 erstmals eine Armee von innen sahen. 

„Ein tougher, selbstsicherer Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Absolut verlässlich, ich hatte nie Zweifel an ihm. Er setzte sich für Disziplin ein, damit keine Machnowschtschina entsteht, sondern eine ordentliche Militärstruktur“, erzählt sein Kamerad. Ein anderer Kamerad von Werameitschyk, Bobr (dt. Biber) genannt, ließ sich von Wassilis Ausdauer inspirieren und erzählt folgende Erinnerung: 

„Ein Bild ist mir geblieben: Wir saßen im Schützengraben in einem Dorf namens Losowa, es wurde geschossen. Wassili ging mal hierhin, mal dahin, kümmerte sich um die anderen, und wenn Geschosse flogen, zog er nur so ein bisschen den Kopf ein. Und dann war da noch ein ukrainischer Offizier, der gar nicht mehr reagierte. Ich war damals begeistert von ihrer Tapferkeit.“    

„Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land" 

In der Ukraine weiß man, welche Rolle Freiwillige aus Belarus spielen, aber Werameitschyks Fall ist dadurch komplizierter, dass ihm die Rückkehr in die Ukraine verboten wurde. Um der ukrainischen Gesellschaft derart seltsame Umstände zu erklären, brauche es viele Worte und viel Zeit, sagt Jauhenija Werameitschyk.  

Nach Wassils Auslieferung an Belarus kursierte im Internet das Gerücht, sein Einreiseverbot in der Ukraine gehe von jener Militäreinheit aus, in der er gedient hat. Doch der Kommandeur des Kalinouski-Regiments, Pawel Schurmei, dementiert diese Gerüchte. Werameitschyk hatte, nachdem er die Ukraine verlassen hatte, versucht, in Litauen Fuß zu fassen, doch dort hielt man ihn für eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“. Vielleicht wegen seiner Vergangenheit als Vertragssoldat der belarussischen Armee, die er bei seinem Antrag auf einen temporären Aufenthaltstitel nicht verheimlicht hatte.  

Wassil Werameitschyk bei seiner Ankunft am Flughafen Minsk, nachdem er in Vietnam belarussischen Behörden übergeben worden war. / Screenshot Video ONT 

Wegen seiner Probleme mit dem Aufenthaltsrecht in der Ukraine und Litauen reiste Werameitschyk nach Vietnam, wo er schließlich festgenommen und an Minsk ausgeliefert wurde. Seine Frau sagt dazu: „Wassili wurde entführt.“ Bis zum heutigen Tag wisse keiner, wie die Ukraine einen, der sie verteidigt hat, als unerwünscht betrachten könne. „Die Ukrainer verstehen nicht, wieso sie diese Person austauschen sollten, wo sich doch Tausende ihrer Landsleute in Kriegsgefangenschaft befinden. Wir dachten, die Kommandeure seines Regiments könnten bei der Klärung der Situation behilflich sein, wir konnten aber keinen von ihnen erreichen. Daher würden wir uns mit der Bitte um Wassilis Austausch gern an belarussische und ukrainische Menschenrechtsaktivisten und an die Führung der ukrainischen Streitkräfte wenden.“ 

Das sei wichtig, weil die Ukraine mit diesem Schritt für die gesamte belarussische Freiwilligenbewegung ein Zeichen des Respekts setzen würde.  

„Das wäre nicht nur für die Belarussen eine wichtige Botschaft, sondern für die ganze ukrainische Gesellschaft. Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land. Doch an den Freiwilligen sieht man, dass unsere Völker einander nicht fremd sind und die Ukrainer auch in so einer schwierigen Lage auf die Unterstützung der Belarussen zählen können“, sagt Jauhenija Werameitschyk. 

Wir sehen, dass er sich nicht unterkriegen lässt 

Wassils Briefe an seine Frau müssen durch die Zensur – dann ist etliches darin geschwärzt, aber sie kommen immerhin an. „Wir schreiben nicht oft, doch wir schreiben uns. Wir haben natürlich keine Möglichkeit, politische Themen zu besprechen, aber an diesen Briefen sehen wir, dass er sich nicht unterkriegen lässt“, erzählt Jewgenija. 

Wassils Angehörige hoffen, dass er durchhält, bis die Ukraine sich endlich genauso für ihn einsetzt wie er sich für sie.   

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Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

Belarus wurde am 24. Februar 2022 zum Ausgangspunkt für die russische Invasion der Ukraine. Sowohl in seinen Reden als auch mit technisch-logistischer Unterstützung stand der belarussische Staatschef Lukaschenka an der Seite des Kreml. Das ermöglichte russischen Truppen, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw direkt anzugreifen. Für Lukaschenka bedeutete dies einen Bruch mit seiner langjährigen Ukraine-Politik. Denn bis dahin unterhielt er gute Beziehungen zu allen sechs Präsi­denten, die seit 1991 an der Spitze der Ukraine standen. Dem lag eine pragmatische Partnerschaft zugrunde, die vor allem auf wirtschaftlichen Interessen fußte. 

Dabei gab es genug Grund für mögliche Spannungen: Die Revolutionen, die es in der Ukraine gab, lehnte Lukaschenka ab. Russlands Annexion der Krim – hat er lange nicht anerkannt, aber auch nicht verurteilt. Doch gerade dieses Lavieren zwischen Kyjiw und Moskau befähigte Belarus schließlich, während des Kriegs im Donbas eine Vermittlerrolle zu übernehmen. 

Was Lukaschenka auch antrieb, sich mit Kyjiw nicht auseinanderzudividieren, war der Wunsch, sich im Angesicht der zunehmenden Abhängigkeit von Russland Türen offenzuhalten. Nach der gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahl im August 2020 erhielten die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine freilich erste Risse. Der russische Angriffskrieg hat das Verhältnis beider Länder nun in seinen Grundfesten erschüttert.

Kurz nach Ende des Kalten Krieges hatten alle drei Länder – Russland, die Ukraine und Belarus – am 6. Dezember 1991 noch einhellig die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet und damit die Sowjetunion begraben. Mit diesem historischen Schritt verbanden die Führungen von Belarus und der Ukraine allerdings ganz unterschiedliche Erwartungen. 

So stellte die GUS für den ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk lediglich eine zivile Form der Scheidung von der Sowjetunion dar. Dementsprechend wurde die Ukraine nie vollwertiges Mitglied der GUS und beteiligte sich nur an wirtschaftlichen Kooperationsformaten. Bereits Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma erhob die europäische Integration zur außenpolitischen Leitlinie. Belarus sah hingegen in der GUS zunächst einen Ersatz für die Sowjetunion. Nach dem Scheitern dieser Hoffnung verfolgte der belarussische Staatschef Lukaschenka den Weg einer engen Integration mit Russland. Dieser Weg mündete 1999 in den Plan zur Bildung eines gemeinsamen Unionsstaats.1 

Pragmatische Kooperation

Die unterschiedlichen außenpolitischen Strategien belasteten die bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine jedoch nicht. Vielmehr gestalteten sich diese zunächst weitgehend konfliktfrei. Den einzigen Streitpunkt bildete das 1997 geschlossene zwischenstaatliche Grenzabkommen. Denn Belarus weigerte sich, es zu ratifizieren, solange die reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen aus den letzten Jahren der Sowjetunion nicht beglichen seien.2 

Mitte der Nullerjahre nahm die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen Belarus und der Ukraine deutlich zu. Das hing von belarussischer Seite wesentlich damit zusammen, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Lukaschenka verlangte, als Gegenleistung für gewährte Energiesubventionen auf einige Souveränitätsrechte für Belarus, wie eine eigene Währung, zu verzichten. Lukaschenka suchte daher die ukrainische Unterstützung, um sich aus seiner Isolation als autokratischer Herrscher in Europa zu befreien. Gleichzeitig gewann der bilaterale Handel für beide Seiten an Bedeutung. 

Revolution in der Ukraine, Repression in Belarus

Die Annäherung beider Länder wurde weder dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass Lukaschenka die Orangene Revolution von 2004 ablehnte, noch durch die Parteinahme des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko für die belarussische Opposition, nach den gescheiterten Protesten gegen die gefälschte belarussische Präsidentschaftswahl von 2006. Bereits in Juschtschenkos erstem Amtsjahr gab es Regierungskontakte auf höchster Ebene, bilaterale Treffen der Präsidenten folgten 2008 und 2009. Das offizielle Kyjiw bot sich dabei als Ausrichtungsort für einen Runden Tisch zwischen den belarussischen Regierungs- und Oppositionslagern an. Gleichzeitig beteiligte sich die Ukraine nicht an den seit 2004 verhängten EU-Sanktionen gegen Lukaschenka. Stattdessen positionierte sich Juschtschenko gegenüber der EU als Türöffner für Belarus.3

Obwohl der vierte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch einen russlandfreundlicheren Kurs verfolgte, ergab sich nach der belarussischen Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 ein ähnlich ambivalentes Bild: Die Ukraine schloss sich den negativen Wahleinschätzungen von EU und OSZE an, jedoch nicht den neu verhängten EU-Sanktionen. Kyjiw plädierte vielmehr für die weitere Beteiligung von Belarus an der EU-Initiative „Östliche Partnerschaft“. Allerdings verzichtete die ukrainische Führung darauf, Lukaschenka im Jahr darauf zur gemeinsam mit der EU organisierten Internationalen Konferenz anlässlich des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe nach Kyjiw einzuladen. Zudem belasteten diplomatische Skandale und die Verhaftung ukrainischer Aktivist*innen in Minsk4 die bilateralen Beziehungen.

Das zentrale Interesse, das beide Seiten aber weiterhin aneinanderband und an dem sich beide Seiten auch orientierten, war die wirtschaftliche Kooperation: 2012 belief sich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten bereits auf 6,2 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutete eine Vervierfachung gegenüber 2008, wobei sich der belarussische Handelsüberschuss auf 2,12 Milliarden US-Dollar belief. Nach Russland war die Ukraine damit der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus, wobei die belarussische Handelsbilanz gegenüber Russland ein Minus von etwa 6 Milliarden US-Dollar aufwies. Die Kooperation mit der Ukraine war für Lukaschenka somit von zentraler Bedeutung, um die Abhängigkeit des Landes von Russland zu verringern. 

Lukaschenkas Unterstützung der pro-europäischen Ukraine

Im Juni 2013 beseitigten Belarus und die Ukraine mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden während eines Lukaschenka-Besuchs in Kyjiw schließlich die letzte Hürde für das Inkrafttreten des bilateralen Grenzabkommens aus dem Jahre 1997.5 Für die Ukraine war dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur geplanten Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU. Belarus konnte im Gegenzug seine wirtschaftliche Handelsposition weiter verbessern.

Als Janukowitsch im November 2013 das Ziel der EU-Integration zugunsten eines Abkommens mit Russland aufgab, verurteilte Lukaschenka zwar die Proteste des Euromaidan, die sich daran entzündeten. Für die Revolution machte er jedoch vor allem die Schwäche und die Flucht Janukowitschs verantwortlich. Im Unterschied zum Kreml akzeptierte Lukaschenka den politischen Richtungswechsel in Kyjiw und nahm im Juni 2014 an der Inauguration des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko teil. 

Gleichzeitig erklärte Lukaschenka, dass die Krim de facto zu Russland gehöre, auch wenn dies nicht de jure gelte.6 Bei anderen Gelegenheiten betonte er, Belarus werde Russland stets gegen den Westen unterstützen. Dieses Lavieren ermöglichte es Lukaschenka, für beide Seiten eine unterstützende Positionierung einzunehmen und Minsk zum Ausrichtungsort für die internationalen Vermittlungsversuche und Verhandlungen zur Regulierung des Donbas-Krieges zu machen. Fortan war Lukaschenka daher Gastgeber für die Gespräche des Normandie-Formats. Auf diese Weise konnte er seine Position gegenüber dem Kreml stärken, der den in Belarus längst schon ungeliebten Unionsstaat vorantreiben wollte. Gleichzeitig gelang ihm damit das Kunststück, die Beziehungen zur EU zu normalisieren.7 

Die politische Krise in Belarus von August 2020 als Wendepunkt

Auch zum sechsten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky unterhielt Lukaschenka zunächst gute Beziehungen. Daher war es für ihn ein Schock, als die ukrainische Führung die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 nicht anerkannte und sich im Herbst 2020 erstmals sogar den neuen EU-Sanktionen anschloss. Allerdings beschränkte sich dieses erste Sanktionspaket auf Einreiseverbote und Vermögenssperren. So weit, auch den umfassenden Wirtschaftssanktionen zu folgen, die von der EU nach der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs im Mai 2021 in Minsk verhängt wurden, wollte die Ukraine hingegen nicht gehen. Ebenso vermied Selensky im Unterschied zu den meisten westlichen Staatschefs ein Treffen mit Swjatlana Zichanouskaja, der belarussischen Oppositionsführerin im Exil. Damit signalisierte Selensky, dass er den offiziellen Kommunikationskanal weiter offen zu halten gedachte. 
Gleichzeitig war die Ukraine bis zur russischen Invasion des ganzen Landes jedoch ein bedeutender Zufluchtsort für zehntausende Belaruss*innen, die vor den staatlichen Repressionen in ihrer Heimat flohen. Hinzu kommt, dass die für beide Länder zentrale wirtschaftliche Zusammenarbeit bereits infolge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie rückläufig war.

Die gestiegene Abhängigkeit des international isolierten Lukaschenkas gegenüber Russland und seine zunehmend aggressive antiwestliche Rhetorik wurden in Kyjiw mit wachsender Sorge gesehen. Dennoch sah man es dort nicht als eindeutiges Kriegszeichen, als Ende 2021 ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland für Februar 2022 an der belarussischen Grenze zur Ukraine angekündigt wurde. Denn angesichts der bisherigen Länderbeziehungen, die bereits einiges auszuhalten hatten, und mit Blick auf frühere Äußerungen Lukaschenkas, dass die Belarussen nie mit einem Panzer, sondern höchstens mit einem Traktor in die Ukraine fahren würden, fiel es den Ukrainern bis zum 24. Februar schwer sich vorzustellen, dass ihr Land von Belarus aus angegriffen werden könnte.8 

Minimale Kontakte im Krieg 

Der Krieg hat die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine nicht nur auf staatlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene tiefgreifend verändert. Eine erneute belarussische Vermittlungsrolle lehnte die ukrainische Führung sehr schnell ab, da sie Belarus als faktische Kriegspartei betrachtete. Kurz nach Beginn der Invasion kam es zwar zu zwei (erfolglosen) Verhandlungsrunden zwischen Delegationen aus Russland und der Ukraine, die im belarussischen Grenzgebiet abgehalten wurden. In der Folgezeit kamen jedoch andere Staaten in die Vermittlerrolle, insbesondere die Türkei. 
Dass die russische Armee damit gescheitert ist, die Hauptstadt Kyjiw zu erobern, hat etwas Druck aus den angespannten bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine genommen. So beließ Selensky seinen Botschafter in Minsk. Ebenso verzichtete die ukrainische Führung zunächst auf weitere Sanktionen. Dies änderte sich, als Belarus und Russland im Oktober 2022 die Bildung einer gemeinsamen Militäreinheit ankündigten - und damit die Gefahr der direkten Beteiligung belarussischer Soldaten am Krieg stieg. Der ukrainische Sicherheitsrat reagierte hierauf mit neuen Sanktionen und beschloss erstmals auch Wirtschaftssanktionen gegen belarussische Unternehmen. Lukaschenka befindet sich allerdings nach wie vor nicht auf der ukrainischen Sanktionsliste.

Gleichzeitig blieb das offizielle Kyjiw weiterhin auf Distanz zu den von Swjatlana Zichanouskaja koordinierten belarussischen Oppositionskräften im Exil. Die Eröffnung eines eigenen Büros in Kyjiw durch Zichanouskaja im Mai 2022 wurde in der Ukraine skeptisch als PR-Maßnahme betrachtet9 – zumal in der Ukraine unvergessen ist, wie sehr Zichanouskaja sich 2020 um die Unterstützung des Kremls für die belarussische Opposition bemüht hatte. Auch insgesamt stieg das Misstrauen: Seit Kriegsbeginn waren etliche Belaruss*innen in der Ukraine mit Einreiseverboten, Kontensperrungen, verweigerten Aufenthaltsgenehmigungen und anderen Restriktionen konfrontiert.
Allerdings würdigte die ukrainische Führung Formen des aktiven Widerstands, darunter Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien, mit denen auf belarussischer Seite versucht wird, den Nachschub für die russische Armee zu erschweren. Ebenso begrüßte man in der Ukraine die Bereitschaft von Freiwilligen, gegen Russland an die Front zu gehen, darunter beim Kalinouski-Regiment. Gleichwohl fällt der belarussische Widerstand aus ukrainischer Sicht insgesamt zu schwach aus - auch wenn wahrgenommen wird, dass es in der belarussischen Gesellschaft im Unterschied zu russischen nur wenige Kriegsbefürworter gibt.

Die Wiederannäherung beider Länder wird nach diesem Krieg viel Zeit in Anspruch nehmen – und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob Lukaschenka die rote Linie womöglich doch noch überschreitet, und eigene belarussische Truppen in den Krieg schickt. 


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.Sahm, Astrid (2001): Integration, Kooperation oder Isolation? Die Ukraine und Belarus' im Vorfeld der EU-Osterweiterung, in: Osteuropa, 2001, S. 1391-1404 
2.Melyantsou, Dzianis/Kazakevich, Andrej (2008): Belarus' relations with Ukraine and Lithuania before and after the 2006 presidential elections, in: Lithuanian foreign policy review, 2008, 20, S. 47-78 
3.Siehe die Ukraine-Kapitel im Belarusian Yearbook 2011 und Belarusian Yearbook 2012 
4.So wurden mehrere Femen-Aktivistinnen verhaftet, die am ersten Jahrestag der Präsidentschaftswahl von 2010 in Minsk demonstrierten, vgl. Radio Liberty: Ukrainian Activists Allegedly Kidnapped, Terrorized In Belarus Found und vgl. Der Spiegel: Geheimdienst hat offenbar Demonstrantinnen entführt 
5.Die Ratifizierung des Abkommens durch Belarus war bereits 2009 während der Präsidentschaft Juschtschenkos erfolgt, nachdem dieser die von Belarus reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen in Höhe von 134 Mrd. US-Dollar anerkannt und getilgt hatte, vgl. Boguzkij, Oleg (2013): Belarus-Ukraine, Belarusian Yearbook 2013, S. 96-106 
6.vgl. Shraibman, Artyom: The Lukashenko Formula: Belarus’s Crimea Flip-Flops 
7.Sahm, Astrid (2014): Verhaltene Reaktionen in Belarus auf die Ukraine-Krise, in: SWP-Aktuell 46, Juni 2014 
8.vgl. Reform.by: Belarus' – Ukraina: Ot „priechat' na traktore“ do „jasno, na č'ej storone“ 
9.So wurde beispielsweise Valeri Kavaleuski, dem Repräsentanten von Zichanouskaja in der Ukraine, im August 2022 zwischenzeitlich die Einreise verweigert, vgl. Globsec: Policy Brief: Ukraine-Belarus Relations: Going Beyond the War; vgl. Nasha Niva: Valerija Kovalevskogo ne pustili v Ukrainu 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)