Das war der Stoff, aus dem Helden gemacht werden: Ein bekannter junger Regimekritiker wird festgenommen, indem das Flugzeug, in dem er sitzt, zur Landung genötigt wird. Roman Protassewitsch wurde so zum bekanntesten politischen Gefangenen des Regimes von Alexander Lukaschenko, das ihn auf die Liste gesuchter „Terroristen” gesetzt hatte. Sein Vergehen: Der damals 26-Jährige war zeitweise Chefredakteur von Nexta, einer digitalen Plattform, die während der Proteste 2020 in Belarus zu einem der wichtigsten Medien avancierte.
Dann aber bekam die Geschichte einen gewaltigen Knick. Was ist passiert? Für das russische Online-Portal Novaya Gazeta Europe geht die belarussische Journalistin Iryna Chalip der Verwandlung des Roman Protassewitsch nach.
Die Verhaftung von Roman Protassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega war filmreif: Am 23. Mai 2021 machte ein Flugzeug der Ryanair, das von Athen nach Vilnius flog und sich gerade in belarussischem Luftraum befand, auf Anweisung der Flugsicherung eine Notlandung in Minsk. Angeblich bestand Verdacht, ein Sprengsatz sei an Bord. Alle Passagiere durften später nach Vilnius weiterreisen, nur Protassewitsch und Sapega wurden festgenommen.
Der Westen reagierte prompt: Der einzigen belarussischen Fluggesellschaft Belavia wurden nicht nur Flüge nach Europa verboten, sondern auch das Durchqueren des EU-Luftraums. Auf europäischen Flughäfen tauchten Porträts von Roman Protassewitsch auf, an Minsker Balkonen hingen Plakate mit einem einzigen Wort: Roma. Und schließlich erschien Roman höchstselbst.
Am 14. Juni versammelten sich Journalisten zu einer Pressekonferenz über den Zwischenfall mit dem Flugzeug. Das Aufgebot der Redner konnte sich sehen lassen: Igor Golub, Kommandeur der belarussischen Luftstreitkräfte und Flugabwehr, Dmitri Gora, Vorsitzender des Ermittlungskomitees, Artjom Sikorski, Chef der Abteilung für den Flugverkehr im Transportministerium, Andrej Filatow, Leiter der Ersten Hauptverwaltung des staatlichen Grenzkomitees – und der verhaftete Protassewitsch.
Roman war gutgelaunt und optimistisch, sagte, keiner würde ihm was tun, seine Kooperation mit den Ermittlern sei absolut freiwillig, das Wichtigste sei für ihn, den Schaden wiedergutzumachen, den er als Chefredakteur von Nexta seinem Heimatland zugefügt habe, er fordere seine Eltern zur Rückkehr nach Belarus auf, denn hier seien sie vollkommen außer Gefahr.
Damals hätte niemand gewagt, Protassewitschs Auftritt zu verurteilen oder auch nur schief zu gucken: Der Mann war im Gefängnis, und alle kennen die Methoden, mit denen Schuldeingeständnisse, Zusammenarbeit mit den Behörden und Reuebekundungen erzielt werden. Zehn Tage später wurde bekannt, dass Protassewitsch und Sapega in den Hausarrest wechseln durften, nämlich in ein Landhaus im Grünen, das die Silowiki den beiden zur Verfügung stellten.
Ein Mann zeigt ein Plakat mit dem Porträt von Roman Protassewitsch auf dem Marsch der Solidarität mit Belarus am 29. Mai 2021 in Krakau / © Foto Beata Zawrzel/ NurPhoto/ Imago
Ein erfolgloser Telegram-Kanal
Im darauffolgenden Sommer 2021 gab Roman Protassewitsch reihenweise Interviews für Propagandamedien, in denen er genüsslich erzählte, wer von den Oppositionellen im Exil heftig trinke, wer Geldprobleme habe und wer Orgien feiere. Er stellte Nexta-Gründer Stepan Putilo bloß, der Roman zufolge gar nichts gegründet und geleitet habe, sondern nur ein Großmaul sei. Seine Behauptungen, die Proteste von 2020 in Belarus hätten westliche Geheimdienste organisiert und finanziert, waren Musik in den Ohren der Propagandisten. Alexander Lukaschenko war begeistert von Protassewitschs „eisernen Eiern“.
Im August gründete Protassewitsch seinen eigenen Telegram-Kanal, auf dem er Insiderwissen und exklusive Details versprach. Er kündigte an, auf seinem Kanal werde es „keine Feindseligkeit, keine ungesicherten Informationen und keinen Platz für unverblümte Propaganda“ geben. Der Hintergedanke des Regimes lag somit offen. Wer in Belarus unter Hausarrest steht, hat kein Recht auf Kontakte und darf keine Kommunikationsmittel benutzen. Interviews für Propagandamedien sind allerdings eine Ausnahme, für die auch Gefängnisse ihre Tore öffnen. Doch wenn einer unter Hausarrest einen Telegram-Kanal gründet, bedeutet das, dass er damit eine Aufgabe erfüllt, die ihm jene stellen, die ihn verhaftet haben.
In Protassewitschs Fall ist alles klar: Er ist der berühmteste Häftling von Belarus (niemand wurde je mit einer erzwungenen Landung eines Flugzeugs und unter Begleitung eines Kampffliegers MiG-29 im Abfangmodus verhaftet), sein Foto ist in der ganzen Welt bekannt, alle machen sich Sorgen um ihn. Immerhin war er Chefredakteur von Nexta, das 2020 über Belarus hinaus auf der ganzen Welt eines der beliebtesten Medien war. Und auch diesmal würden alle Belarussen und die ganze progressive Menschheit Roman Protassewitschs Telegram-Kanal abonnieren. Das ist kein Propagandist wie Asarjonok mit seinen anderthalb Bauarbeitern, die ihm folgen, und das nur zum Spaß. Das ist eine echte Chance, staatliche Lügen in einem riesigen Publikum zu verbreiten.
Doch dazu kam es nicht. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Roman Protassewitschs Kanal folgten gerade mal zweieinhalbtausend Abonnenten – offenbar aus Mitgefühl. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, auch jene, denen er leidtat, ignorierten seinen Versuch, ein „alternatives“ Medium zu gründen: die einen, weil sie davon ausgingen, dass er das sowieso alles unter Folter macht, die anderen, weil sie den wahren Sinn dahinter schon begriffen hatten und nicht einmal mit simplen Views daran beteiligt sein wollten.
Zumal gleich der erste Post davon handelte, dass die Befreiung politischer Häftlinge kein Märchen sei, sondern Realität, aber unter der Bedingung, dass sie ihre Schuld eingestehen und ehrlichen Herzens bereuen. Und davon, dass auf Lukaschenkos Schreibtisch bereits die Liste der Menschenrechtler, Journalisten und engagierten Bürger liege, die demnächst das Gefängnis verlassen würden. Darunter auch der Blogger Ihar Losik, der seine Schuld gestehe und bereue. (Übrigens befindet sich Ihar Losik seit zwei Jahren in völliger Isolationshaft, sodass er diese Meldung nicht einmal dementieren oder bestätigen kann.)
Generell sind angesichts der Tatsache, dass noch nie eine Journalistin oder ein Menschenrechtsaktivist ohne [Lukaschenkos – dek] „Anruf“ freigekommen ist, die Informationen auf Protassewitschs Telegram-Kanal keinen roten Heller wert. Das haben wohl auch die Erfinder des Plans mit diesem alternativen Medium kapiert, denn der Kanal ist längst verstummt.
Im Mai 2022 gingen sogar den paar Wenigen die Augen auf, die noch glaubten, Protassewitsch werde auf der Folterbank dazu gezwungen, Posts über die notwendige Reue vor dem Staat zu verfassen. Gerade mal drei Tage, nachdem Sofia Sapega wegen „Anstiftung zum sozialen Unfrieden“ zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, sagte Roman sich von ihr los und publizierte einen Post mit dem Text: „Sonja wurde für ihre reale Tätigkeit verurteilt und nicht dafür, dass sie eine Beziehung mit mir hatte.“ Er beschrieb detailreich, wie Sapega den Telegram-Kanal Tschjornaja kniga Belarusi (dt. Schwarzbuch Belarus) betrieb, auf dem persönliche Daten von Silowiki veröffentlicht wurden: Er berichtete von Spam-Angriffen und Drohanrufen an Telefonnummern aus diesem „Schwarzbuch“ und von „Brandstiftungen und diversen anderen Aktionen“.
Überhaupt, schrieb Protassewitsch, sei er nicht mehr mit ihr zusammen, er habe geheiratet, und außerdem sei er politisch engagiert, während sie immer ganz direkt gegen die Silowiki agiert habe.
Apropos, auch Protassewitsch hatte inzwischen vor Gericht gestanden und war sogar zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Wobei er nicht inhaftiert wurde, sondern nach Hause gehen durfte. Zehn Tage später wurde er begnadigt.
Der letzte Verrat
Die Belarussen sind in den vergangenen Jahren zu einer Nation von Gefangenen geworden. Und haben vor allem eines verinnerlicht: Man darf sein Leben und seine Freiheit mit allen Mitteln verteidigen – man darf öffentlich Reue bekunden, Gnadengesuche schreiben, seine Schuld bekennen, gegen sich selbst aussagen. Nur eines darf man nicht: Man darf keine anderen Menschen preisgeben. Man darf nicht denunzieren. Man darf sich nicht durch Petzen freikaufen. Mit seinen Berichten auf Propagandasendern darüber, wer säuft, wer schnieft und wer in einer zu teuren Wohnung wohnt, hat Roman diese Grenze überschritten. Sein Post über Sofia nach dem Urteil gegen sie war sein letzter Verrat – danach hielt ihn endgültig niemand mehr für ein Opfer.
Wenn 2021 die Hochsaison des Bloggens war, so stand 2022 der Versuch im Vordergrund, Protassewitsch zum staatlichen Rechtsvertreter zu machen. Das Regime versuchte, ihn in der Wirtschaft einzusetzen, und im Januar 2022 wurde Roman, der offiziell noch unter Hausarrest stand, Mitarbeiter des regierungstreuen Zentrums Sistemnaja prawosaschtschita (dt. Systemische Menschenrechtsarbeit).
Zusammen mit „System-Kollegen“ begann er, eine Klage gegen die Fluggesellschaft Ryanair vorzubereiten und gleichzeitig seine ehemaligen Anhänger zu beschuldigen, den belarussischen Geheimdiensten die Informationen zu seinem Flug „gesteckt“ zu haben. Das Schicksal dieser Klage ist nicht bekannt, im Mai 2023 allerdings kommentierte Dmitri Beljakow, Direktor von Sistemnaja prawosaschtschita, Roman Protassewitschs Begnadigung durch Lukaschenko mit den Worten: „Wir sind sehr froh, dass unser Freiwilliger Roman Protassewitsch begnadigt wurde.“
Eigentlich hatten ein Jahr davor noch beide gesagt, dass Roman dort angestellt sei und nicht nur ehrenamtlich helfe. Aber egal, schon hatte die nächste Saison angefangen, und die vorige war wieder gescheitert, da Protassewitsch als staatlicher Rechtsschützer auch nicht wirklich „glänzte“. Also gaben sie ihm Helm und Visier und sagten: Du wirst jetzt Schweißer, du hast ja eh von nichts ‘ne Ahnung.
Als Schweißer in den Diensten der Propaganda tauchte Protassewitsch wieder öfter im belarussischen und russischen Fernsehen auf – bei Asarjonok, Sobtschak, Pridybajlo. Er erzählte, dass Schweißer in Belarus so viel verdienten, wie angehende IT-Fachkräfte nicht mal zu träumen wagten. Dass bei ihm in der Fabrik lauter starke, echte Männer arbeiteten, die viel schafften, viel verdienten und sich einen Dreck um Politik scherten.
Nach eineinhalb Jahren Stille holte Protassewitsch seinen verstaubten Telegram-Kanal wieder hervor und postete dort seine Urlaubsfotos aus den Emiraten: Seht alle her, ein einfacher belarussischer Arbeiter kann sich locker einen Urlaub in den Emiraten leisten, also, wer im Exil ist – beneidet uns. Wer in Belarus bleibt, schätzt bitte das, was ihr habt, und wer hinter Gittern sitzt – zeigt Reue!
Man muss ihm lassen, das Schweißer-Image zeigte in den ersten Wochen fast Wirkung: Protassewitsch bekam wieder Aufmerksamkeit. Aber nicht lange.
Fotos wie von Zauberhand
Das Problem mit den schlauen Köpfen der belarussischen Regierung ist, dass sie nicht über den nächsten Tag hinausdenken können, für übermorgen fehlt ihnen die Fantasie. Vom Schweißer haben sie genug gesehen, also widmen sie sich wieder wichtigeren Dingen. Aber so viel Aufwand, so viel Mühe, so viel Sendezeit, so viele Projekte – das schmeißt man doch nicht einfach weg, für nichts und wieder nichts.
Und da ließen sich Lukaschenkos Superköpfe einen schlauen Plan einfallen. Denn wer die Belarussen am allermeisten interessiert, um wen sie sich Sorgen machen und über wen sie mehr wissen wollen, das sind die politischen Häftlinge. Vor allem jene, die inkommunikado, also völlig isoliert, inhaftiert sind. Und wenn es Protassewitsch ist, der die Eisentür zur Gefängnisbaracke öffnet, dann kriegt eben er die Lorbeeren und die Aufmerksamkeit des Publikums, und alles, was er sagt, wird gierig verschlungen.
Der 12. November 2024 brachte dann eine Sensation: Die Belarussen bekamen ein Foto von Maria Kolesnikowa gezeigt, die seit 22 Monaten inkommunikado inhaftiert war. Der Kontakt zu ihr war im Februar 2023 abgerissen: Es kamen keine Briefe mehr, der Anwalt wurde nicht vorgelassen, und Frauen, die aus der Strafkolonie in Homel entlassen wurden, erzählten, Maria sei in eine Isolationszelle gesperrt worden und niemand habe sie gesehen. Es gab nur schreckliche Gerüchte, dass man sie verhungern lasse, sie wiege 45 Kilogramm. Im September veröffentlichte Kolesnikowas Schwester Tatjana Chomitsch auf Facebook die Forderung nach Nahrung und ärztlicher Versorgung für Maria.
Am 12. November 2024 konnten alle sehen, dass Maria am Leben ist. Roman Protassewitsch brachte ihren Vater in die Strafanstalt, und das Tor öffnete sich wie von Zauberhand. Der Schweißer wurde in das Gefängnis eingelassen und durfte Vater und Tochter fotografieren. Später nahm Roman im Auto ein Video auf, in dem Marias Vater sagt, sie habe ihm versprochen, über ein Gnadengesuch nachzudenken. Insofern wurden dank Protassewitsch nicht nur zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sondern ein ganzer Fliegenschwarm. Inkommunikado? Ach was, der Papa war da, die Tür ging auf, alle sind happy. Maria wiegt nur 45 kg? Aber seht doch, wie rosig ihre Wangen sind. Ihr Anwalt hat sie zwei Jahre nicht gesprochen? Offenbar war er nicht sehr hinterher. Protassewitsch wurde ja auch reingelassen, dabei ist er für Kolesnikowa ein Niemand – nur so ein Schweißer. Dann noch dieses Versprechen, über ein Gnadengesuch nachzudenken: einfach nur Bingo.
Am 8. Januar 2025 war Protassewitsch wieder in einer Strafkolonie, diesmal in Nowopolozk. Und veröffentlichte Fotos und Videos des ebenfalls seit fast zwei Jahren isolierten Viktor Babariko. Genau wie Kolesnikowa war Babariko im Februar 2023 verschwunden. Kein Anwalt, kein Brief, kein Anruf, keine Besuche. Doch dann kam Roman Protassewitsch, und die Türen gingen sperrangelweit auf. Und alle sahen, wie gut es Viktor Babariko geht, wie freundlich er lächelt und wie er überhaupt nicht aussieht wie einer, der hinter Mauern gemartert wird. In dem Video gratulierte er seiner Tochter und seiner Enkelin, und auf dem Foto sah man, wie er etwas schrieb.
Protassewitsch erklärte: Ich bin hier, um Babariko schöne Grüße von seinen Lieben zu überbringen und umgekehrt einen Brief von ihm mitzunehmen. Die Botschaft war klar: Ihr Menschenrechtler und Anwälte, ihr Journalisten und Politiker, internationale Gemeinschaft und Zivilgesellschaft, ihr seid alle Loser. Ihr habt in zwei Jahren nicht geschafft, was Roma Protassewitsch elegant und mühelos zuwege bringt: die Betonmauern zu durchbrechen. „Wir haben uns ziemlich lange unterhalten, haben gescherzt, sogar das eine oder andere Mal gelacht“, sagte Protassewitsch übermütig. Solche Töne schlugen früher gern die Erzieherinnen auf Pionierlagern an – glückliche Herrscherinnen über Trommel und Horn, für kleine Pioniere unerreichbar. Protassewitsch ist nun der Herrscher über den Zugang zu isolierten politischen Gefangenen, deren Angehörige in ihrem Unwissen seit zwei Jahren am Durchdrehen sind.
In Belarus wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Protassewitsch trotzdem noch als Opfer gelten kann. Selbst die mit den weichsten Herzen haben zugegeben, dass die Opferstory an dem Punkt zu Ende war, als kübelweise Schmutz aus dem Fernsehen quoll. Einer, der auf allen möglichen Sendern genüsslich erzählt, wer von den Oppositionellen kokst, wer einen Preis abgeräumt hat und wer für den Geheimdienst arbeitet – der ist kein Opfer mehr. Die Belarussen sind in den letzten Jahren zu einer Nation von Häftlingen geworden. Sie sind nett zu Mithäftlingen und böse auf Verräter.