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„Das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter“

Was bedeutete die Zeit der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik für die Ausbildung eines nationalen Bewusstseins in Belarus? Warum blieb dieses dennoch eher schwach? Warum zeigt sich die belarussische Gesellschaft nach den Protesten, die am 9. August 2020 begannen, wieder gespaltener? 

Im zweiten Teil seines Gesprächs mit dem Online-Medium Gazeta.by reflektiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski vor dem Hintergrund der wechselhaften belarussischen Geschichte über die große Frage der nationalen Identität seiner Landsleute.

Quelle Salidarnasc/Gazeta.by

Bahdana Paulouskaja: Der Blick in die Geschichte zeigt, dass bei uns nur sehr wenige Autokraten herrschten. Wie kam es dann, dass die Belarussen bei den freien Wahlen 1994 für einen Diktator stimmten und sich damit auf Jahrzehnte ein Problem schufen? Wann passierte dieser Fehler in der Matrix?

Alexander Klaskowski: Erstens gab es in der belarussischen Geschichte sehr wohl genügend Autokraten, Tyrannen und Despoten, zum Beispiel den russischen Zaren, der die Aufstände unserer Vorfahren in Blut ertränken ließ. Oder auch Stalin. Natürlich suchten sich die Belarussen damals ihre Herrscher nicht selbst aus, es war immer eine Fremdherrschaft. Und dieser Mangel an eigener Wahlerfahrung schlug sich dann leider bei den ersten mehr oder weniger freien Wahlen in Belarus 1994 nieder.

Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist 

Zweitens, und das ist das Beschämendste, wählten die Belarussen keinen Diktator, sondern ihren Saschka, wie ihn damals viele nannten. Es gab Fernsehübertragungen der Sitzungen des Obersten Sowjets im Ovalen Saal, und die Zuschauer sahen diesen einfachen Mann vom Dorf, der die Wahrheit aussprach und sagte, er wolle die Mafia besiegen, wenn er an die Macht kommt. Er wirkte wie ein ländlicher Robin Hood, war aber in Wirklichkeit einfach nur ein talentierter Populist. Zum großen Leidwesen hatten die Belarussen in ihrer Masse nicht genügend politische Erfahrung und kein ausreichendes Maß an nationalem Selbstbewusstsein. 
Auch der wirtschaftliche Kollaps trug seinen Teil bei. Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist, dass die Kinder Kleider und Schuhe haben, und genau damit spielte Lukaschenka, als er versprach, die guten alten Zeiten zurückzubringen. Danach zog er die Schrauben an, so dass die Belarussen keinen anderen Führer mehr wählen konnten. Sie versuchten es immer wieder, zuletzt 2020, aber leider endete alles in einer riesigen Tragödie, die bis heute andauert. 

Welchen Einfluss hatte die Sowjetzeit auf uns? Konnten wir uns seit Beginn der Unabhängigkeit von den Spuren der Sowjetisierung befreien? 

Ich bin kein Freund davon, die sowjetische Zeit nur schwarz zu zeichnen. Wie ich schon sagte, gerade das Bestehen der BSSR war im Jahr 1991 von Vorteil: Belarus erhielt seine Unabhängigkeit, anders als beispielsweise Tatarstan . Oder denken wir an die Zeit der Belarussifizierung der 1920er Jahre, als die Verfechter der Wiedergeburt eifrig den Boden der belarussischen Sprache beackerten. Sicher, viele von ihnen wurden später von Stalins Regime erschossen, aber was sie damals geleistet haben, wirkt bis zum heutigen Tage nach. 

Des Weiteren muss man die Industrialisierung nach dem Krieg erwähnen, die Urbanisierung, als die Belarussen massenhaft in die Städte übersiedelten – aus ihren dunklen Holzhäusern zogen sie in große Wohnungen mit allem Komfort. Und auch in den Dörfern mehrte sich der Wohlstand. Meine Eltern zum Beispiel – Kriegskinder – erzählten, wie sie in der Kindheit und Jugend hungerten. Meine Mutter konnte während ihres Studiums an der Akademie in Horki nur einmal in der Woche ein Brot kaufen. Sie schnitt es in sieben Teile, aber hatte solchen Hunger, dass sie es trotzdem innerhalb weniger Tage aufaß.

Minsk, damals die Hauptstadt der BSSR, in den sowjetischen 1970ern

Aber schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatten meine Eltern, obwohl sie im Dorf lebten, einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Trog voller Speck, konnten sich gute Wintermäntel kaufen und einen Teppich an die Wand hängen, wie es damals modern war. Mein Onkel Koszja fuhr einen Kirowez-Traktor und verdiente gutes Geld – 350 Rubel im Monat. 

In der Sowjetzeit gab es also eine Periode, in der Belarus einen großen wirtschaftlichen und sozialen Sprung machte. Lukaschenka beruft sich noch heute darauf, wenn er sich brüstet, wir hätten unser sowjetisches Potential nicht verloren. Dieses hat allerdings nicht Lukaschenka geschaffen, sondern Generationen von Belarussen mit ihrer fleißigen Arbeit davor.

Belarus war tatsächlich eine der hochentwickeltsten Republiken der UdSSR, was auch negative Aspekte hatte. So konnte Lukaschenka nämlich 1994, mitten in der postsowjetischen Krise, die Erinnerung an Wohlstand und Reichtum für seine Interessen nutzen. Ein weiterer Pluspunkt der Sowjetzeit war, dass die Belarussen eine fundierte Ausbildung erhielten und der soziale Aufstieg in weiten Teilen gut funktionierte. Ich selbst bin beispielsweise ein Junge aus dem Dorf, bekam ohne jedes Vitamin B einen Studienplatz an der Fakultät für Journalismus und später eine Stelle bei einer landesweiten Zeitung mit hoher Auflage. Die Redaktion hatte meine Einstellung beantragt, da ich bereits eng mit ihr zusammengearbeitet hatte und meine Artikel häufig gedruckt wurden. Einige Jahre später war ich bei der Zeitung schon zum Chef vom Dienst aufgestiegen.

Die schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle 

Selbst innerhalb der Machtelite gab es Menschen wie Henads Buraukin, der Staatsrundfunk und -fernsehen der BSSR leitete und dort die belarussische Sprache förderte. Natürlich in einem abgesteckten Rahmen, aber er konnte für die belarussische Sache arbeiten. Im ZK der Kommunistischen Partei von Belarus (KPB) saß der Dichter Sjarhei Sakonnikau, der die belarussischen Schriftsteller unterstützte und mit Wassil Bykau befreundet war. Die Kaderauswahl war damals in gewissem Maße vernünftiger als heute unter Lukaschenka, wo wir beobachten können, dass in seiner Umgebung allen voran die Schmeichelhaften reüssieren, zudem ganz offene Adepten der sogenannten Russki Mir.

Natürlich war die sowjetische Periode auch eine Zeit, in der während der stalinistischen Repressionen sowohl die nationale Elite als auch einfache Belarussen vernichtet wurden. Mein Urgroßvater Wazlau, der sich während der Kollektivierung bei einer Versammlung skeptisch über das Kolchossystem geäußert hatte, wurde wegen „antisowjetischer Agitation“ (analog zum heutigen „Extremismus“) verfolgt und verbrachte viele Jahre in Straflagern und in der Verbannung. Auch die schleichende Russifizierung ist ein Phänomen der Sowjetzeit. Hier kann man aber auch nicht alles auf das kommunistische System schieben, denn viele Belarussen entsagten ihrer Muttersprache ohne jeglichen Zwang, sobald sie in die Stadt gezogen waren. Niemand steckte ihnen Nadeln unter die Nägel, sie wechselten selbst zur russischen Sprache, um nicht wie Kalchosniki zu wirken.

Diese schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle. Denn im Unterschied zu den Einwohnern der damaligen baltischen Sowjetrepubliken konnten die Belarussen sich nicht entschieden von Moskau losreißen. Wieder etwas, womit Lukaschenka spielen konnte, als er die Schallplatte von der sogenannten brüderlichen Integration auflegte.

Hat uns 2020 in der Frage der nationalen Identität vorangebracht? Denn natürlich haben wir zunächst diese große Begeisterung gesehen, das Meer der weiß-rot-weißen Flaggen, spürten Nationalstolz und den Wunsch, uns Belarussen zu nennen. Aber jetzt erlebt das Land furchtbare Repressionen, alles Belarussische wird verdrängt, Bücher werden verboten, Lehrbücher umgeschrieben und an russische Narrative angeglichen.

Das muss man dialektisch betrachten. Einerseits beobachten wir einen furchtbaren Rückschritt, das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter. Die Bedingungen, unter denen politische Gefangene festgehalten werden, die Misshandlungen, denen sie ausgesetzt sind, erinnern an finstere Zeiten, als despotische Monarchen ihre Feinde in Gruben und Verliese sperrten, um sie lebendig verrotten zu lassen.

Aber, um auf die Ereignisse von 2020 zurückzukommen, ich möchte betonen, dass die Geschichte keinen Konjunktiv duldet. Sonst könnte man auch über Kalinouskis Aufstand sagen, er sei verfrüht gewesen, dieser Aufruhr hätte schreckliche Repressionen, die Ausrottung der nationalen Elite, die beschleunigte Russifizierung provoziert – kurzum, es sei zu früh nach der Freiheit gestrebt worden.

Aber so reden wir nicht. Denn wir verstehen, zum Ersten, dass solche historischen Ereignisse nicht planbar sind, sondern stattfinden, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen, man kann sie nicht mechanisch in eine passendere Zeit verschieben. Zweitens hat der Kalinouski-Aufstand ungeachtet der Tragik des Moments in historischer Hinsicht auch heute eine große Bedeutung für die belarussische Idee und die nationale Identität. 

Heute kämpft das Kalinouski-Regiment  in der Ukraine. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Lukaschisten auf der Kalinouski-Straße in Minsk schon mit den Zähnen knirschen, wir wissen, dass sie diese Schilder früher oder später abnehmen werden. Das heißt aber auch, dass sie das beschäftigt, denn sie spüren die Kraft der belarussischen nationalen Idee, personifiziert in Kalinouski. Man kann also jetzt über die Ereignisse von 2020 fantasieren, nachträglich irgendwelche scholastischen Modelle entwickeln, wie man hätte gewinnen können, aber das ist sinnlos. Denn ein Sieg war so gut wie unmöglich, die Kräfte waren ungleich verteilt. Hätte man versucht, den Palast der Unabhängigkeit  zu stürmen, hätte das noch mehr Tote gebracht. 


Ein Protestmarsch am Prospekt der Unabhängigkeit in Minsk im August 2020 / Foto © Dimitri Bruschko

Könnte man sagen, dass gerade die Figur Lukaschenka, die plötzlich alle satt hatten, 2020 unsere Nation konsolidierte?

Die These der nationalen Konsolidierung würde ich anzweifeln. Einige Führer des demokratischen Lagers begehen leider den Fehler, vereinfachte Formeln zu benutzen wie „das Volk leidet unter dem Joch der Diktatur“. Ich verstehe, dass das in gewissem Maße eine Exportvariante ist, um westlichen Politikern zu erklären, dass das Regime und die belarussische Bevölkerung nicht ein und dasselbe sind. Aber unabhängige soziologische Befragungen belegen, dass die Nation tatsächlich gespalten ist und 2020 diese Spaltung noch verstärkt hat: Die beiden Lager – Lukaschisten und Regimegegner – hassen einander einfach. Einige Politologen sagen sogar, dass die Bevölkerung sich praktisch im kalten Bürgerkrieg befindet.
Tatsächlich ist das Bild komplexer, denke ich. Es gibt einen großen Anteil relativ neutral eingestellter Menschen. Das sind Leute, die (zum Großteil) potentiell für Veränderungen sind, sich aber jetzt in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen haben und einfach im Hier und Jetzt leben möchten, weil die Frustration sie ermüdet hat. Vor uns liegt also noch ein sehr schwerer und leidvoller Prozess – diese Fetzen der zerrissenen Nation zusammenzunähen.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland im Dezember 1999 unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen und Präsident Lukaschenko selbst ist heute vor dem Hintergrund der Niederschlagung der Proteste von 2020 und der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners in den bilateralen Beziehungen mit Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 weder auf historische Erfahrungen als unabhängiger Staat zurückgreifen, noch verfolgte sie Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil: In der ersten Zeit wurden zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl aus seiner persönlichen Antipathie für Lukaschenko und seiner Haltung, Belarus nur als Junior-Partner zu sehen. 

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien. Das russische BIP ist im Vergleich zum belarusischen etwa 26 Mal größer (Stand 2021). Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine ab 2014 kam Belarus wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich für das Land in vielerlei Hinsicht als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet, deren genaue Inhalte aber lange (bis September 2021) nicht veröffentlicht wurden. Im Protestjahr 2020 hatten die Verhandlungen während und vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen pausiert. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Seit 2021 erfolgte die Umsetzung der Roadmaps eher stockend. Das hat auch  mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ab Februar 2022 zu tun. Bislang sind erst sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Es sollen im Laufe des Jahres 2023 noch weitere Roadmaps hinzukommen. Dabei hat Russland begonnen, Belarus zunehmend unter Druck zu setzen, um Zugeständnisse hinsichtlich weitergehender Integrationsschritte zu erreichen. Aus Sicht der belarusischen Exil-Opposition könnte es dadurch in letzter Konsequenz zu einem Verlust der staatlichen Souveränität für Belarus kommen. Vor allem das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung, in dem es um die Verwaltung zahlreicher Steuern, wie etwa der Mehrwertsteuer geht, birgt für Lukaschenko das Risiko, über wirtschaftspolitische Entscheidungen im eigenen Land die Kontrolle zu verlieren. Im Rahmen der Logik dieses Vertrages würde als nächstes die Schaffung einer gemeinsamen Steuerbehörde sowie eines einheitlichen integrierten Verwaltungssystems folgen.1

Insgesamt sind die belarusisch-russischen Beziehungen seit 2022 sehr vom Krieg gegen die Ukraine und der militärischen Kooperation zwischen Russland und Belarus geprägt: Belarus wird aufgrund seiner militärischen Unterstützung Russlands international eine Mitschuld an den Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben, was zur Verhängung weiterer wirtschaftlicher Sanktionen geführt hat.2 Die Rolle von Belarus im Ukraine-Krieg wurde und wird viel diskutiert, insbesondere ob mit einem aktiven Kriegseintritt des Landes noch zu rechnen sei. Bislang ist das insbesondere aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgt.

Wirtschaftsbeziehungen

Insgesamt leidet die belarusische Wirtschaft erheblich unter den Folgen des russischen Angriffskrieges sowie unter den verhängten Sanktionen. 2022 gab es in der Republik Belarus die schwerste Rezession seit den 1990er Jahren. Auch hat sich die Abwanderungstendenz belarusischer Unternehmen, insbesondere aus dem IT-Sektor, seit dem Krieg nochmal massiv verstärkt.3

Dabei ist der GUS-Raum, vor allem Russland, seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 68 Prozent der belarusischen Exporte und Quelle von 62 Prozent der Importe4 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in den vergangenen Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, sodass auf Belarus horrende Kosten zukommen könnten. So hofft die belarusische Führung weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver. Obwohl in der Vergangenheit sowohl von der russischen als auch von der belarusischen Seite mehrfach öffentlich behauptet wurde, dass eine Lösung für dieses Problem gefunden sei, scheint es immer noch Unstimmigkeiten darüber zu geben.5 Nichtsdestotrotz hat Minsk noch im Dezember 2022 einen für Belarus vorteilhaften Vertrag für einen Lieferzeitraum von drei Jahren für Öl und Gas abschließen können. Dennoch wird die belarusische Forderung nach gleichen Zugängen zu fossilen Energieträgern für alle Wirtschaftssubjekte des Unionsstaates nicht annähernd erfüllt.6 Daher bleibt es für Lukaschenko absolute Priorität, innerhalb des Unionsprogramms einen einheitlichen Markt für Öl und Erdgas sowie für weiterverarbeitete Produkte zu schaffen. Der Bezug dieser Rohstoffe zu Vorzugspreisen stellt nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des belarusischen Haushalts dar und dient somit Lukaschenkos persönlichem Machterhalt.7 Er moniert daher weiterhin, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Integrationsprozesses konkrete Vereinbarungen im Energie- und Transportsektor nach wie vor ausstehen.8

Belarus spielte ehedem als Transitland für russische Rohstoffe nach Europa eine zentrale Rolle. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit vom Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Resultat, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent.  

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen beiden Ländern – insbesondere von Russland – auch häufig als ein politisches Druckmittel eingesetzt wurden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich der angestrebte Unionsstaat bisher vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus begann Minsk, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidschan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die das letzte Mal im September 2021 abgehalten wurde – und erneut im Herbst 2023 stattfinden soll. Die größte jemals gemeinsam abgehaltene Übung gab es mit ca. 30.000 russischen Soldaten auf belarusischem Territorium im Februar 2022 im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine und diente als Vorwand für die Vorbereitung der Invasion.

Danach wurden im Zuge des regionalen Truppenverbands mit Russland (der schon lange bestand, aber inaktiv war) kontinuierlich gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Das schürte sowohl in der Ukraine als auch im Westen Angst davor, dass sich Belarus mit eigenen Soldaten am Krieg beteiligen könnte und dass Truppen erneut, diesmal gemeinsam, aus Norden vorrücken. Dazu ist es bisher nicht gekommen, auch weil Lukaschenko einen solchen Schritt weiterhin scheut. 

Schritte hinsichtlich einer Integration der belarusischen Streitkräfte unter russisches Oberkommando nahmen indes in jüngster Zeit konkretere Formen an: So hat Russland nun Luftstreitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert und das Kommando über die belarusischen Luftstreitkräfte sogar komplett übernommen. Diese Entwicklungen kulminierten im März 2023 in der Ankündigung, auf dem belarusischen Territorium taktische Nuklearwaffen aus Russland zu stationieren, wobei die Kontrolle über diese Waffen nicht an Belarus übertragen werden soll.

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, sowie die Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine, manövrierte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders die beidseitigen Treffen von Lukaschenko und Putin seit 2020 haben verdeutlicht, dass diese Tendenz, trotz aller Emanzipationsversuche, sogar noch zugenommen hat. Damit konterkarierte der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen. Erst aus der Revolte der Söldner-Gruppe Wagner in Russland konnte Lukaschenko in jüngster Zeit wieder nennenswertes eigenes politisches Kapital schlagen, indem er sich als politischer Vermittler zwischen dem Kreml und Anführer Prigoshin einbrachte und Wladimir Putin dadurch einen persönlichen Dienst erwies. Denn: Die Abhängigkeit von Russland entspricht weder Lukaschenkos  Vorstellungen, noch spiegelt  es die Wünsche der Bevölkerung wider.

In einer Umfrage des Belarusian Analytical Workroom vom Sommer 2023 optierten lediglich vier Prozent der Befragten für einen Beitritt der Republik Belarus zur Russischen Föderation. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern als jeweils unabhängige Staaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit offenen Grenzen sowie ohne Zoll- und Visumsbeschränkungen (67 Prozent der Befragten) befürwortet. 13 Prozent wünschten sich eine intergouvernementale Union. 12 Prozent würden ein normales, nicht privilegiertes Verhältnis mit geschlossenen Grenzen, Zoll- und Visumsbeschränkungen bevorzugen. Gefragt nach ihrem bevorzugten militär-politischen Bündnis, gab eine Mehrheit von 45,3 Prozent der befragten Belarusen an, dass das Land gar keiner Allianz angehören solle. 34,2 Prozent hielten an einer Mitgliedschaft in der OVKS fest. Der NATO beitreten würden lediglich 3,2 Prozent. 2,7 Prozent waren der Auffassung, dass Belarus Mitglied beider Bündnisse sein könne und 12,7 Prozent blieben in dieser Frage unentschieden. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist die belarusische Gesellschaft gespalten. Mehrheitlich dagegen sind die Befragten aber, dass das belarusische Territorium sowie die militärische Infrastruktur von Russland dafür genutzt werden solle. 50,2 Prozent sprachen sich dagegen aus, 30,7 Prozent dafür, während 15,9 Prozent die Frage als schwierig zu beantworten einschätzten.

Ungeachtet aller Zahlen: Belarus ist und bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Gesellschaft ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. So wurde etwa bei den landesweiten Protesten 2020 in den Losungen und den verkündeten Protestforderungen eine klare geopolitische Positionierung vermieden

Zugleich wird die Führung in Minsk weiter anstreben, seine wirtschaftlichen und rüstungspolitischen Aktivitäten soweit wie möglich zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland nicht noch zu verstärken. Da aber ca. 45 Prozent der belarusischen Wirtschaftskraft von westlichen Sanktionen beeinträchtigt sind, können derartige Bemühungen vor allem durch Handel und Kooperation mit nicht-westlichen Staaten erreicht werden.9 Dies erklärt auch die jüngsten außenpolitischen Vorstöße, wie es sie zum Beispiel mit der Bewerbung um einen Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gab.10

aktualisiert am 07.08.2023


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1. Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
2.Europäischer Rat: Restriktive Maßnahmen der EU gegen Belarus 
3.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023  
4.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023 
5. Information Analysis Portal of the Union State: Tax maneuver consequences identified as main problem in Belarus-Russia relations 
6. The Jamestown Foundation: Belarus and Russia Dispute the Fundamentals of Their Relationship 
7.Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
8.Prezident Recpubliki Belarus': Soveščanie po voprosam vypolnenija integracionnych programm Sojuznogo gosudarstva 
9.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und sb.by: Krutoj: tovarooborot s Rossiej my spokojno možem uvoit' v tečenie 3 – 5 let 
10.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und Shanghai Cooperation Organisation: SCO Secretary-General Zhang Ming's visit to the Republic of Belarus 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)