Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, an der Alexander Lukaschenko traditionell teilnimmt, konnte man sehen, dass es dem belarussischen Machthaber nicht gut ging. Tatsächlich fehlte er dann zum Festessen, zu dem Putin geladen hatte. In Minsk überließ er seinem Verteidigungsminister Viktor Chrenin das Reden bei den dortigen Feierlichkeiten, danach war von ihm ein paar Tage nichts mehr zu hören. Ungewöhnlich für den Diktator, der seit 1994 nahezu omnipräsent in den staatlichen Medien zu sein scheint. Schnell machten Spekulationen die Runde, Lukaschenko könnte ernsthaft erkrankt sein. Schließlich tauchte er wieder auf, noch sichtlich angeschlagen, aber lebendig.
Was aber würde passieren, wenn Lukaschenko tatsächlich plötzlich stirbt? Welche Dynamiken würden sich in Gang setzen – in der Machtelite, in der Opposition, auf der Seite von Russland? In seiner Video-Kolumne Shraibman antwortet für das belarussische Medium Zerkalo sucht der Politikanalyst Artyom Shraibman Antworten auf diese drängenden Fragen.
Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Jüngste, und wir sehen, dass seine Gesundheit nachlässt. Das schränkt bereits seine Arbeitsfähigkeit ein. Vor Kurzem war er für fünfeinhalb Tage von der Bildfläche verschwunden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sein Gesundheitszustand mit der Zeit wie der der Generalsekretäre der KPdSU zu Beginn der 1980er Jahre sein wird. Welche politischen Perspektiven eröffnen sich für die herrschende Regierung und die demokratischen Kräfte im Fall einer dauerhaften Einschränkung von Lukaschenkos Arbeitsfähigkeit?
Zunächst ein kleiner lyrischer, oder besser gesagt theoretischer Exkurs: Autoritäre Regime unterscheiden sich voneinander nicht nur im Ausmaß der Brutalität und Repressionen, sondern auch darin, ob sie sich auf eine Führerpersönlichkeit oder auf kollektive Institutionen stützen. Das belarussische Regime kann man mit Fug und Recht als eines der personalistischsten in ganz Eurasien bezeichnen. Lukaschenko hat während seiner gesamten politischen Karriere Institutionen abgelehnt, sie bekämpft und versucht, eine direkte Verbindung zwischen sich und dem Volk aufzubauen. Regime, die auf eine Person konzentriert sind, sind im Durchschnitt besser vor Komplotten oder Spaltungsversuchen der Eliten geschützt. Wenn diese Eliten unzufrieden mit dem Führer sind, haben sie nicht einmal einen Ort, an dem sie sich physisch treffen und diskutieren können, was zu tun ist. Selbst in Italien unter Mussolini gab es den Großen Faschistischen Rat, der ihn schließlich aus seinem Führeramt absetzen konnte. In der Sowjetunion gab es die Kommunistische Partei und Organe, in denen regelmäßig Umstürze heranreiften, wenn die Nomenklatura unzufrieden mit dem Generalsekretär war.
Im heutigen Belarus gibt es nichts dergleichen. Das ist in gewisser Weise der Faktor, der das Regime aufrechterhält. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lukaschenko selbst entscheidet abzutreten oder dies aus biologischen Gründen spontan tut. Und er hat bereits damit begonnen, Prototypen zukünftiger kollektiver Institutionen zu schaffen, zum Beispiel die Regierungspartei oder die Allbelarussische Volksversammlung. Allerdings sind das bislang nur Keime, oder überhaupt nur Pläne. Sollte diese Situation im Fall eines spontanen Abtritts Lukaschenkos noch dieselbe sein, dann wird aus der Stärke des Regimes mit einem Mal seine Achillesferse, denn sobald in einem personalistischen System die einzige Person geht, die die Machtspitze hält, also der autoritäre Führer, und er bis dahin nicht geschafft hat, einen Nachfolger zu ernennen, versinkt der Apparat der Staatsbeamten im Chaos. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. In Belarus sind diese Leute nicht gewohnt, politisch selbständig zu handeln, sie führen Anweisungen aus. Sie haben keine Erfahrung mit der Bildung von Allianzen und damit, untereinander Dinge auszuhandeln. Für sie ist es das Wichtigste, Einfluss auf Lukaschenko zu nehmen.
Ja, sie können Intrigen spinnen, um den Einfluss anderer Personen auf ihn zu schwächen, doch das ist eine Politik, die nur darauf ausgerichtet ist, die Hauptperson im System zu überzeugen, nicht darauf, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Kompromisse zu finden.
Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit
Dies also die lange Herleitung zur Antwort auf unsere Frage. Im Fall, dass Lukaschenko plötzlich stirbt oder durch eine ernste Erkrankung das Land nicht mehr führen kann, eröffnet sich vor allen Akteuren ein riesiges Fenster von Möglichkeiten. Einen belastbaren Plan für einen Machttransfer gibt es nicht. Selbst in Russland ist das anders – hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten, ob real oder nur nominell, Präsidentenwechsel gegeben. Also wird es von entscheidender Bedeutung sein, wer zuerst die Initiative ergreift und Bedenken gegenüber seiner Macht wirksam ausräumt, denn in diesem Fall wird ein Großteil der Nomenklatura erleichtert aufatmen, weil an Lukaschenkos Stelle ein neuer, klarer Führer auftaucht, auf den man sich einfach wie gewohnt einstellen kann.
An dieser Stelle ist eine Weggabelung, wo mehrere Szenarien denkbar sind. Der Akteur, der Initiative zeigt, könnte Russland sein, wenn es zu diesem Zeitpunkt Kraft und Interesse hat, sich mit dem Machttransfer in Belarus zu befassen, und in Minsk selbst völlige Ratlosigkeit herrscht. Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit, den Einfluss auf den Nachfolger zu erhöhen, indem Moskau in der ersten Zeit wirtschaftliche und militärische Unterstützung leistet, bis er seine Macht konsolidiert hat. Dieser Einfluss kann später genutzt werden, um ihn zu Zugeständnissen zu bringen, auf die Lukaschenko sich zu Lebzeiten nie eingelassen hat.
Andererseits kann die Quelle für diese politische Initiative inländisch sein. Zum Beispiel könnten sich die belarussischen Silowiki untereinander erfolgreich auf einen Anführer aus ihren Reihen einigen, die zivile Bürokratie zerschlagen, den Kriegszustand ausrufen oder auf andere Weise vor einer möglichen inneren Destabilisierung warnen, und dann, schon aus einer Position relativer Stärke, Gespräche mit Moskau aufnehmen.
Eine dritte Option ist, dass sich die formelle Nachfolgerin Lukaschenkos – aktuell ist das der Verfassung nach Natalja Kotschanowa, die Vorsitzende des Rates der Republik – als machtliebender und cleverer erweist, als wir das von ihr erwarten, da wir sie nur als die rechte Hand betrachten, die Lukaschenko lobt und preist.
Theoretisch könnte sie schnell eine Koalition aus ihr loyalen Staatsbeamten zimmern, die mit ihrer Unterstützung unter Lukaschenko ernannt wurden. Dann kann Kotschanowa die gesamte Führung der Silowiki austauschen, denn der Verfassung nach wird sie die Befugnis dazu haben. Moskau kann sie zusichern, dass sie sich an alle roten Linien halten wird. Danach, wenn sich die Situation stabilisiert hat, wird sie nichts daran hindern, allein zur Wahl anzutreten oder die Wahl ganz abzusagen, wieder durch die Ausrufung irgendeines Kriegszustandes. Ähnlich ambitioniert können theoretisch auch andere hohe Staatsbeamte sein, zum Beispiel der Premierminister oder der Chef der Präsidialverwaltung Lukaschenkos. Doch die müssten irgendwie damit zurechtkommen, dass es laut Verfassung auf dem Weg zur Macht ein Hindernis für sie gibt – den Vorsitzenden des Rates der Republik. Heute ist das Natalja Kotschanowa. Um dieses Hindernis zu überwinden, braucht es Absprachen mit den Silowiki.
Anders gesagt, es gibt viele Möglichkeiten. Und über revolutionäre Szenarien und die Beteiligung der Opposition haben wir noch gar nicht gesprochen. Angesichts dieser Ungewissheit, können heute weder wir noch die potentiell Beteiligten voraussagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden. Und wenn wir ergänzen, dass wir nicht wissen, wie stark oder schwach Russland zu diesem Zeitpunkt sein wird, gibt es ohnehin kein unvorstellbares Szenario.
Haben die belarussischen demokratischen Kräfte irgendeinen Plan zur Machtübernahme im Land, falls sich die Situation in Belarus kardinal verändert, zum Beispiel durch den Tod Lukaschenkos? Haben sie eine Chance, diese Pläne erfolgreich umzusetzen?
Die Frage nach dem Plan sollte man besser direkt an die demokratischen Kräfte richten. Swetlana Tichanowskaja hat gesagt, dass an verschiedenen Handlungsszenarien gearbeitet wird für den Fall, dass Lukaschenko stirbt. Alexander Asarow, der Vorsitzende von BYPOL, hat häufig betont, dass es für diesen Fall den Plan Peramoha gibt. Für unabhängige Beobachter wie mich sind das Katzen im Sack, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich zur Verfügung stehen, die zum Zeitpunkt X mobilisiert werden können. Wir wissen auch nicht, wie weit dieser Plan bereits ausgearbeitet ist und was die Silowiki tun werden, um seine Umsetzung im Vorhinein zu verhindern. Für eine Erfolgschance der demokratischen Kräfte in einer solchen Situation müssten vier Bedingungen gleichzeitig eintreffen.
Erstens, sie müssen geeint sein und entschlossener handeln als 2020. Sie müssen von sich aus die Initiative ergreifen und nicht abwarten, wohin ein spontaner Ausbruch an politischer Energie in der Masse das Land treibt. Zweitens, die Machtvertikale, vor allem die Silowiki, müssen zerstreut oder paralysiert sein. Das kann durch eine Zerstörung der Unterordnung geschehen, durch eine Spaltung der Eliten oder einfach Passivität, wenn die Angst vorherrscht, Verantwortung zu übernehmen, wenn die andere Seite gewinnt. Drittens ist es notwendig, dass Russland sich in die Situation nicht einmischt, entweder aufgrund eigener Probleme oder, dass Russland es gar nicht schafft, wenn sich die Ereignisse in Belarus so rasant entwickeln, einzugreifen. Viertens wird es nicht ohne eine Mobilisierung der Massen gelingen. Wenn die Menschen nicht bereit sind, auf die Straße zu gehen, zu protestieren und zu streiken, endet jede Entschlossenheit der Opposition beim Sturm eines Grenzübergangs oder in sehr emotionalen YouTube-Filmchen.
Schauen wir also, was davon realistisch ist, falls Lukaschenko plötzlich sterben sollte. Einheit und Entschlossenheit der Opposition – die ist vorhanden. Historische Umbruchsituationen lassen alten Streit und Beleidigungen schnell in Vergessenheit geraten und diejenigen bedeutungslos werden, die weiterhin schimpfen, anstatt an der gemeinsamen Sache zu arbeiten. Irrungen und Wirrungen auf der Machtebene – sind nicht garantiert, aber durchaus möglich. Wir wissen nicht, wie die Elite auf einen solchen Schock reagiert, da es so etwas in der Geschichte von Belarus bislang nicht gegeben hat. Aber es ist nicht auszuschließen, dass das Land für eine gewisse Zeit die Regierbarkeit einbüßt. Problematisch ist es allerdings mit der Zurückhaltung Russlands.
Die demokratischen Kräfte stehen im besten Falle noch vor wenigstens zwei Barrieren auf dem Weg zum Erfolg
Wenn Lukaschenko verschwindet und den demokratischen Kräfte tatsächlich etwas gelingt, kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum der Kreml sich zurückhalten und einfach zuschauen sollte, wie in seinem wichtigsten militärischen Brückenkopf moskaufeindliche Kräfte die Macht übernehmen. Beschwörungsformeln vom „weisen Putin“ oder „unser Verhältnis wird dann sogar noch besser sein als unter Lukaschenko“ zu wiederholen, werden dann nichts mehr bringen. Daran hat auch damals niemand so recht geglaubt. Durch den Krieg gegen die Ukraine hat Russland eventuell nicht genügend Landstreitkräfte verfügbar, doch Einheiten der Nationalgarde würden vermutlich ausreichen. Bis 2020 hatten viele, darunter auch ich, Zweifel, dass Putin Lukaschenko seinen OMON zu Hilfe schicken würde, wenn der nicht zurechtkommt. Doch heute würde daran wohl niemand mehr zweifeln.
Dieselbe Skepsis ruft bei mir die Option einer massenhaften Mobilisierung zu Protesten hervor, angesichts des Zustands der Gesellschaft. Es sei denn, eine neue Regierung verkündet aus irgendeinem Grund eine Amnestie und weist die Silowiki selbst in die Schranken. Aber warum sie das tun sollte, weiß ich nicht. Somit stehen die demokratischen Kräfte selbst im besten Falle – Chaos im Regime und innere Einheit – noch vor wenigstens zwei ernstzunehmenden Barrieren auf dem Weg zum Erfolg. Deshalb hängt die Antwort auf unsere Frage völlig davon ab, wann die plötzliche Veränderung eintritt, wie es Russland zu diesem Zeitpunkt geht und wie es um das Protestpotential der Belarussen bestellt sein wird.
Wenn Russland nach dem Tod Lukaschenkos versucht, Belarus schnell zu schlucken und den konfusen Kräften in Minsk ein entsprechendes Ultimatum stellt, könnte der Westen das dann verhindern? Und würde er das überhaupt wollen?
Die ehrliche Antwort lautet hier vermutlich: Nein. Der Westen verfügt schlicht nicht über die Ressourcen und Hebel, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Auch wenn im Westen der unmissverständliche Wunsch herrscht, ein unabhängiges Belarus zu erhalten. Doch das bedeutet nicht, dass der Westen eine Okkupation von Belarus oder den Machttransfer an einen Nachfolger Lukaschenkos stillschweigend schlucken wird. Dessen Legitimität wird nicht größer sein als jetzt. Und das bedeutet, dass alle tiefgreifenden Entscheidungen, die den Interessen der belarussischen Gesellschaft klar zuwiderlaufen, vom Westen wohl nicht als rechtserheblicher Tatbestand anerkannt werden.
Aus formeller Sicht würde eine solche Übernahme des Landes als Okkupation betrachtet und eine neue Regierung Russlands auf unserem Territorium würde zumindest im Westen – aber vielleicht auch von anderen Staaten auf der Welt – nicht anerkannt. Und hier hängt viel davon ab, wie sich die neue Regierung und die unter Druck stehende belarussische Gesellschaft verhalten. Natürlich wird es innerhalb des Landes nicht genügend Ressourcen geben, um sich allein als belarussische Gesellschaft Russland entgegenzustellen. Doch die pure Existenz von öffentlichen Rücktritten, Protesten, Partisanenaktionen, anderen Widerstandsformen kann Einfluss darauf haben, wie weit sich die Nichtanerkennung dieser Einverleibung ausdehnen kann.
Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten
Tichanowskajas Kabinett, die einzige halbwegs legitime Vertretung der Belarussen in der Welt, könnte in einer solchen Situation zur vollwertigen Exilregierung werden. Im Westen und selbst in der Ukraine würde die Anerkennung dieser Regierung keinerlei Aufwand bedeuten. Eher im Gegenteil, sie kann dem Kampf der Belarussen behilflich sein, ihnen Hoffnung geben, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Eine ähnliche Rolle spielten die Exilregierungen Polens und Frankreich während der Besatzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten. Sie gaben den Menschen Kraft im Kampf und ermöglichten eine effektive Koordinierung der Aktivitäten vom Ausland aus. Was die Hebel und Druckmittel angeht, so wurden gegenüber Russland bereits beispiellos harte Sanktionen verhängt. Im Falle eines „Anschlusses“ von Belarus würden diese natürlich noch einmal verstärkt. Doch das würde den Kreml kaum zum Umdenken bewegen. Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten, da der Wunsch, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, dort viel größer ist als die Sorge um die Souveränität eines Landes, das viele ohnehin seit Langem für einen Verbündeten Moskaus halten. Doch falls der Widerstand in Belarus umfassenden Charakter und vor allem bewaffnete Form annimmt, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Komplex mit dem Widerstand in der Ukraine wahrgenommen würde. Und dies kann Möglichkeiten für die Unterstützung mit Waffen eröffnen.
Die belarussischen Partisanen werden wohl kaum Panzer oder Flugzeuge bekommen, aber eine Lieferung leichter Waffen oder Sprengmaterials ist durchaus vorstellbar. Alles hängt vom Umfang des Widerstandes ab und der klaren, einheitlichen Koordinierung dieses Kampfes durch ein Zentrum als Ansprechpartner. Ein solches Koordinierungszentrum kann durchaus aus den heutigen demokratischen Kräften hervorgehen und sogar einem sich dazu gesellenden Teil der Nomenklatura, der die Okkupation nicht unterstützt.