Belarus hat gewählt. Es waren keine OSZE-Wahlbeobachter zugelassen, wie jedes Mal hat der autoritär regierende Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, laut offiziellen Zahlen die meisten Stimmen geholt, nämlich 80,23 Prozent. Und doch scheint diese Wahl noch längst nicht entschieden: „Lukaschenko mag zum Wahlsieger erklärt werden“, schreibt die belarussische Journalistin Hanna Liubakova, „aber dieser Sieg wird nicht lange dauern.“
Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich erstmals seit vielen Jahren landesweiter Protest geregt: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Präsidenschaftskandidaten Sergej Tichanowski, hatte die Kandidatur ihres Mannes übernommen. Tichanowskajas Wahlversprechen: Die Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen. Zu ihren Ansprachen in der Hauptstadt Minsk und in kleineren Städten des Landes strömten Zehntausende zusammen – ein Novum in der Geschichte von Belarus.
Am Wahltag machten in Sozialen Netzwerken Videos von Wahlfälschungen die Runde. Erste offizielle Zahlen sahen Lukaschenko deutlich vorne, es tauchten jedoch zahlreiche Fotos von Auszählprotokollen „ehrlicher“ Wahllokale auf, wonach Tichanowskaja deutlich mehr Stimmen als der Amtsinhaber bekommen hat. Noch in der Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, in Minsk wurden teils sogar Barrikaden errichtet, die Polizei setzte Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es gab Dutzende Schwerverletzte, nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna sogar einen Toten. Laut offiziellen Zahlen wurden 3000 Menschen festgenommen, darunter auch drei Journalisten des unabhängigen russischen TV-Senders Doshd. Unterdessen hat sich Swetlana Tichanowskaja zur Wahlsiegerin erklärt und bot Lukaschenko Gespräche an.
In Russland kommentieren zahlreiche Oppositionelle und Liberale das Geschehen im Nachbarland – und diskutieren vor allem, inwiefern es eine Blaupause für die Entwicklung in Russland sein könnte: Nimmt Belarus derzeit die Ereignisse im Russland von 2024 vorweg? Wir bringen Ausschnitte aus den Analysen und Kommentaren, die gleich in der Nacht unmittelbar nach der Wahl in Sozialen Medien gepostet wurden.
Sergej Parchomenko: Schlüssel zum Erfolg liegt in den Regionen
Journalist Sergej Parchomenko meint, dass den Regionen derzeit eine besondere Rolle zukomme:
Dort, in den kleinen Städten, wo alles übersichtlich ist und jeder jeden kennt, können die Menschen Druck ausüben auf die örtlichen Wahlkommissionen und Verwaltungen, sie können die Veröffentlichung der echten Wahlergebnisse fordern.
Es müssten nur zwei, drei Städte auftauchen (ja, ganze Städte und nicht einzelne Wahlbezirke), in denen Tichanowskaja gewonnen hat und wo dieses Ergebnis offiziell festgehalten wird – und sofort würde eine Welle von Forderungen folgen, das echte Ergebnis im ganzen Land anzuerkennen. Das wird sich kaum unterdrücken lassen: Für die Verwaltungsleute und Offiziere ist es in der Provinz deutlich schwerer, das Plattmachen der eigenen Nachbarn zu befehligen, von Menschen, die man oft persönlich und beim Namen kennt.
В такой ситуации люди там - в небольших городах, где все как на ладони, все друг друга знают, - могут надавить на местные избиркомы и на местные администрации и потребовать публикации реальных итогов голосования.
Если обнаружится хотя бы два-три города - именно не отдельных участка, а города, - где выиграла Тихановская, и результат этой победы будет зафиксирован официально, поднимется волна требований признать реальный результат по всей стране. Задавить его будет нечем и некому: администрациям и офицерам на местах гораздо труднее отдавать приказы жестко расправляться со своими соседями, с людьми, которых они часто знают по именам и в лицо.
[...]
Таким образом, судьба этой "льняной революции" в руках не столичной молодежи, а спокойных, простых, рассудительных, терпеливых людей в Лиде, Молодечно, Полоцке, Орше, Могилеве, Жлобине, Мозыре, Пинске и Гродно.
Пожелаем им успеха и будем надеяться на их храбрость и их терпение.
erschienen am 09.08.2020, Original
Tian'anmen von Brest
Andrej Loschak: Die Angst besiegt
Was unterscheidet die Demonstranten in Belarus von denen in Moskau im vergangenen Sommer? Journalist Andrej Loschak macht vor allem einen wesentlichen Unterschied aus, den die belarussischen den russischen Demonstranten (noch) voraus hätten:
Vielleicht entwickelt sich dieser Mut, wenn du weißt, dass hinter dir nicht nur ein Häuflein Politaktivisten aus der Hauptstadt steht, sondern das ganze Land. Ich denke, genau so empfinden das die Belarussen, die heute auf die Straße gehen. Letzten Endes werden das auch die Jungs auf der anderen Seite der Barrikade spüren – und das war’s für den Schnauzbärtigen. Aber alles gut, wir haben noch vier Jahre, um so zu werden wie die Belarussen. Ich bin sicher, die Partei und die Regierung werden uns dabei helfen. Und bei den Belarussen ist wirklich alles möglich, denn sie haben die Angst besiegt.
erschienen am 10.08.2020, Original
Olga Tschurakowa: Viele, unterschiedliche Leute vereint
Einen ähnlichen Zusammenhalt vieler, sehr unterschiedlicher Menschen empfindet auch Journalistin Olga Tschurakowa von Projekt, die in der Nacht in Minsk vor Ort war und auf Facebook von ihren Eindrücken berichtet:
Alle, die wir auf dem Heimweg getroffen haben, versicherten sich gegenseitig und uns, dass sie [wieder] auf die Straße gehen, anders ginge es nicht. Das waren völlig unterschiedliche Leute, die sich für mich in keiner sozialen Gruppen vereinen ließen. Viele haben den Montag vorab freigenommen, viele Cafés werden deswegen geschlossen sein. Das Internet funktioniert heute morgen überraschenderweise. Mir scheint, jetzt wachen alle auf und sind wahnsinnig wütend angesichts der nächtlichen Nachrichten, der Brutalität und Gemeinheit. Und sie werden wieder auf die Straße gehen, ja.
[...]
Все, кого мы встречали по дороге домой, говорили друг другу и нам, что сегодня выйдут и иначе нельзя. Это были абсолютно разные люди и ни в какую соц группу они у меня не объединяются. Многие заранее брали на понедельник выходной, многие кафе будут сегодня из-за этого закрыты. Интернет на удивление утром работает, мне кажется, что сейчас все просыпаются и охереневают от ночных новостей, от жестокости и наглости. И снова пойдут на улицы, да.
erschienen am 10.08.2020, Original
Ekaterina Schulmann: Das belarussische 2020 ist unser 2024
Es wurden zahlreiche Vorwürfe laut, dass bei der vorzeitigen Stimmabgabe zusätzliche Wahlzettel in die Urnen geworfen wurden. Politologin Ekaterina Schulmann sieht allein in den Zahlen deutliche Anzeichen von Wahlfälschung und fragt außerdem: Was bedeutet die belarussische Wahl für Russland?
erschienen am 09.08.2020, Original
Konstantin Eggert: Vorletztes Kapitel des postsowjetischen Zeitalters
Der Zerfall der Sowjetunion war einerseits eine einschneidende Zäsur, ist aber andererseits auch ein langanhaltender Prozess, der immer noch andauert – auf diese Formel haben es schon viele Beobachter in Russland gebracht. Wie weit ist es aber nun mit diesem Zerfallsprozess? Der Journalist und politische Analyst Konstantin Eggert kommentiert:
erschienen am 09.08.2020, Original
Sergej Medwedew: Kartoffelrepublik?
Manche Russen (gerade auch die liberal-demokratisch eingestellten) belächeln Belarus als eine Art Freakshow. Diese Arroganz ist jedoch blind, schreibt der Politologe Sergej Medwedew:
erschienen am 10.08.2020, Original
Ilja Jaschin: Lukaschenko steht alleine da
Der Oppositionpolitiker Ilja Jaschin glaubt, Lukaschenko habe es sich inzwischen mit zu vielen Leuten verscherzt:
[...]
Aber so oder so: Der Wandel in Belarus wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon bin ich überzeugt.
[...]
Так или иначе, ждать перемен в Беларуси осталось недолго. В этом я уверен.
erschienen am 10.08.2020, Original
dekoder-Redaktion