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Belarus im Karussell der Identitäten

Was macht die nationale Identität der Belarussen aus? Wie haben sich die Vorstellungen von einer belarussischen Nation im Lauf der Zeit gewandelt? Wie prägt das Lukaschenko-Regime diese Vorstellungen und wie haben sich diese seit den Protesten von 2020 verändert?  

In einem großen Gespräch, das die Journalistin Bogdana Pawloskaja für das Online-Portal Gaseta.BY geführt hat, beleuchtet Alexey Bratochkin diese und andere Fragen. Bei seinem spannenden Rundumschlag durch die belarussische Geschichte und Gegenwart diskutiert der Historiker letztlich auch die Frage, in welcher Form die belarussische Nation eine Überlebenschance hat und inwieweit es ihr gelingen kann, zu einem demokratischen Staatswesen zu gelangen. 

Die Veröffentlichung dieses Gesprächs in deutscher Übersetzung entstand in Kooperation mit dem Forum für historische Belarus-Forschung

Quelle Salidarnasc/Gazeta.by

Belarussen protestieren vor der Botschaft ihres Landes in Kyjiw im August 2020 / Foto © Volodymyr Tarasov/ Imago 

Ich würde gerne verstehen, was den belarussischen Nationalcharakter ausmacht. Welche Wesenszüge zeichnen unsere Nation aus und was unterscheidet uns von anderen? 

Ich denke nicht in Kategorien wie „Nationalcharakter“ oder „genetische Programmierung“, deshalb kann ich diese Frage nicht beantworten. Natürlich können wir über die Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaften und Traditionen reden, aber das hängt weniger davon ab, ob man in Belarus geboren ist oder woanders, sondern vielmehr von den kulturellen, sozialen, politischen und anderen Umständen, in denen man lebt. 

Ich glaube, richtiger wäre es, von einer belarussischen Identität als einer veränderlichen Kategorie zu sprechen. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass die Belarussen so und so sind und beispielsweise die Ukrainer anders. 

Gut, und wie ist es dann mit unserer Identität? Können wir heute genau sagen, wer die Belarussen sind? 

Diese Debatte reicht zurück in die 1980er Jahre, in die Zeit der Perestroika. Damals lautete die offizielle Definition: Die Einwohner von Belarus sind sowjetische Belarussen. Also ein Konstrukt aus zwei verschiedenen Begriffen: „sowjetisch“ und „Belarussen“. Das heißt, die Belarussen haben in diesem sowjetischen Kontext zwar eine Art Identität, doch hat sie keine echte politische Bedeutung. 

Die Sowjetunion war der einzigartige Versuch, etwas „Universelles“ mit dem Nationalen zu verbinden, es war ein Experiment zur Erschaffung einer super-nationalen Gesellschaft. 

Seit den späten 1980er Jahren, als die UdSSR zerfiel, gewannen die lokalen Nationalismen wieder an Bedeutung. Die nationale Agenda wurde dabei anders formuliert. In den spätsowjetischen Medien war das Bild der Mankurts populär (Menschen, die ihre Herkunft vergessen haben) – um zu zeigen, dass ob der großen Idee der Erschaffung eines sowjetischen Volkes willen nationale Identitäten ausgelöscht und das historische Gedächtnis vieler Völker zerstört und kolonialisiert werden. 

Zur selben Zeit entstanden in Belarus die Nationale Front und das Projekt „nationale Wiedergeburt“. Man redete davon, dass wir uns als Belarussen wiederfinden müssten, eine Nation werden, während die Sowjetunion als künstliches politisches Projekt betrachtet wurde, das auf sehr viel Gewalt beruhte. Wir Belarussen wurden ermutigt, uns daran zu erinnern, dass wir eine eigenständige Nation sind, eine eigene, belarussische Sprache haben, eine eigene Kultur. Wir sollten das alles wiedererwecken und fördern. Die nationale Bewegung hatte damals etwas von politischer Emanzipation, Befreiung. 

Soweit ich mich erinnere, waren bei weitem nicht alle unsere Mitbürger begeistert von der Idee. Das Projekt „sowjetischer Belarusse“ war ja scheinbar fast geglückt. 

Ja, es wurde tatsächlich viel diskutiert. Oft konnte man hören, dass den Belarussen die nationale Idee, nationale Marker fehlen würden: Die Sprache würde von kaum jemandem gesprochen, die Kultur beschränke sich auf Folklore und die Verwendung von Ornamenten, aber es fehle an tieferer Bedeutung, die sich auch im Politischen zeigt.  

Die Idee vom Fehlen einer belarussischen nationalen Identität war in den vergangenen 30 Jahren in vielerlei Hinsicht vorherrschend. Ständig war die Rede davon, dass die Belarussen nicht belarussisch genug wären, und wenn sie es nur würden, würden auch politische Veränderungen folgen. 

Als 1999 das Buch Belarus: A Denationalized Nation des kanadischen Wissenschaftlers David Marples herauskam, war allein der Titel für viele eine Metapher für die Abwesenheit einer nationalen Identität. Der Autor stellt darin die These auf, unser autoritäres System und die spezifische Beziehung zu Russland sei eine Folge ebendieser Situation. 

Ist das denn wirklich so? Reicht es, wenn wir einfach echte Belarussen werden – dann fällt das Regime, es kommt die Demokratie, und wir befreien uns von Russland? 

Ein weiterer moderner Klassiker zum belarussischen Modell stammt von Nelly Bekus, einer belarussischen Wissenschaftlerin, die später in Polen und Großbritannien tätig war. Das Buch heißt Struggle over Identity: The Official and the Alternative „Belarusianness“ (2010). Stark vereinfacht, geht es darum, dass bei uns mindestens zwei Versionen einer belarussischen Identität kursieren: Eine ist geknüpft an die politische Opposition, und die zweite ist die offizielle, die das Regime Alexander Lukaschenkos zu erschaffen versucht. 

Außerdem schreibt Bekus in einer Reihe anderer Artikel, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Nationalismus und liberaler Demokratie gebe. Das heißt, selbst wenn das Projekt belarussische Identität sich plötzlich verwirklichen und wir Bilderbuch-Nationalisten werden sollten, bedeutet das noch lange nicht, dass unser Land sich im gleichen Moment in eine liberale Demokratie verwandelt. Das sind zwei unterschiedliche Prozesse, die nur zum Teil miteinander verbunden sind. Sie bezieht sich dabei auf die Erfahrungen anderer Länder in Osteuropa. 

Über das Problem der nationalen Identität schrieb 2010 auch der Politologe Andrej Kasakewitsch. Er zählte ganze vier Modelle einer belarussischen Nation und entsprechender Identitäten. 

Der Historiker Alexey Bratochkin bei einem Vortrag / Foto © privat 

Welche vier Modelle sind das? 

Zum einen natürlich das ethnozentrische Modell: Der Fokus liegt darauf, dass wir Belarussen sind, fördert nur die belarussische Sprache und Kultur und konzentriert sich auf die Interessen dieser kulturell dominanten Gruppe. 

Das zweite Modell ist dem diametral entgegengesetzt: Dieses Modell ist russozentrisch; die Belarussen sind darin quasi Teil des russischen Volkes. Solche Ideen waren besonders nach dem Zerfall der UdSSR populär, als man nicht so recht wusste, was man mit diesem abgespaltenen Teil anfangen sollte. 

Was stellt der moderne belarussische Staat und Lukaschenkos Regime heute dar? 

Das dritte Modell ist jenes, das das autoritäre Regime Alexander Lukaschenkos zu erschaffen versucht: Der Fokus liegt hier nicht auf einer nationalen Kultur, sondern auf der Loyalität gegenüber dem Staat. In diesem Konstrukt ist man ein Belarusse, wenn man das Regime unterstützt. 

Das vierte Modell verfolgt laut Kasakewitsch eine eher liberale Idee, wo der Nationalismus demokratisch ausgerichtet ist. Das heißt, nicht nur Belarussen oder belarussischsprachige Menschen, sondern auch andere Gruppen, die in Belarus leben, werden in die Nation einbezogen. Also eine Art Bürger-Nationalismus. Dabei operiert jedes dieser Modelle mit unterschiedlichen Vorstellungen von Geschichte. 

Unterschiedliche Geschichten einer Nation? 

Das ist nicht ungewöhnlich. Für das ethnozentrische Modell stellt zum Beispiel die sowjetische Epoche ein großes Problem dar, weil man in dieser Periode die Nation zerstören wollte. Davor gab es aber eine Zeit, in der sich diese Nation formiert hat, die wird dann als Goldenes Zeitalter definiert, Schlüsselereignisse werden bestimmt und so weiter. 

Für die Vertreter der Meinung, die Belarussen seien im Grunde Russen, steht hingegen im Vordergrund, dass wir schon seit zweihundert Jahren zusammengehören, auch wenn es ein Imperium war. In deren Vorstellung hat uns das Imperium vor allem und jedem beschützt; so hat es sich eben historisch ergeben. So wird die Geschichte in den verschiedenen Identitätsmodellen unterschiedlich interpretiert. 

Im Endeffekt sehen wir heute, dass wir von den „sowjetischen Belarussen“ über das Projekt der „nationalen Wiedergeburt“ und die darauffolgenden Streitgespräche über den Grad der „Belarusianness“ bei einem viel komplexeren Bild angelangt sind. Nämlich dem, dass in Belarus verschiedene Identitäten nebeneinander existieren, je nach politischer Präferenz usw. Diese Komplexität müssen wir heute anders in den Blick nehmen. 

Dazu sind noch andere Probleme gekommen. Zum Beispiel die Frage, was der moderne belarussische Staat und Lukaschenkos Regime heute darstellt. Sind sie nationalistisch oder nicht, belarussisch oder anti-belarussisch? 

Und was glauben Sie? 

Natürlich hat auch das Regime den Nationalismus als Element der politischen Mobilisierung genutzt, so zum Beispiel nach 2014/15. Aber auf sehr vorsichtige, spezielle Art. So entstand ein spezifisches offizielles Modell der Nation, das auf ganz spezielle Weise an den Patriotismus und nationale Gefühle appelliert. Erinnern Sie sich an die Werbekampagne Kuplyaitse Belaruskaie (dt. Kauft Belarussisch)? Hier appellierte das Regime an den Patriotismus, indem es sagte: Kauft unsere eigenen, belarussischen Produkte. Ein sehr merkwürdiger Appell, aber dennoch. 

Doch ich betone noch einmal: Dieses Modell des offiziellen Nationalismus unter Alexander Lukaschenko baut weder auf einer ethnischen Solidarität (wir sind alle Belarussen) noch auf der Idee einer bürgerlichen Nation (wir gehören alle dieser Nation an) auf, sondern auf der Loyalität gegenüber dem Regime. Wer in Belarus lebt und loyal ist, gehört dazu, und wer das nicht ist, der gehört zur fünften Kolonne, den können wir hier nicht gebrauchen. 

Genau das beobachten wir gerade.

Ja, und hier stellt sich eine schwierige Frage: Kann man die Idee des Nationalismus in Belarus ohne staatliche Institute voranbringen? Wie umgeht man dieses Nationsmodell eines Lukaschenko? Denn es kann ja nur der Staat beispielsweise flächendeckenden Unterricht auf Belarussisch durchsetzen. 

Was wird aus der belarussischen Kultur und der Sprache, wenn die unabhängige Kultur und „zufällig“ auch ihr belarussischsprachiger Teil zerstört wird? Wenn bestenfalls einige regionale Eigenheiten bestehen bleiben, die nicht besonders ins Gewicht fallen und die auch die Beziehungen zwischen dem Lukaschenko-Regime und Russland nicht gefährden? Wenn die Frage nach der schwierigen Vergangenheit zwischen Russland und Belarus nicht mehr gestellt wird, sondern es immer nur heißt, dass alles immer toll war. 

Identität ist nichts, das von Natur aus da ist, auch wenn es manchmal so scheint. Sie ist ein soziales Konstrukt, das wir erschaffen. Deshalb gibt es keine Identität, die über Jahrhunderte besteht und sich nicht verändert. Verschiedene Identitätsmarker (zum Beispiel die Sprache) haben sich zwar schon vor langer Zeit herausgebildet, sind aber Veränderungen unterworfen. 

Sogar zu Sowjetzeiten können wir gänzlich unterschiedliche Varianten der Identität beobachten 

Die modernen Nationen sind noch recht jung, sie entstanden hauptsächlich nach dem 18. Jahrhundert. Die Frage der nationalen Identität ist die Frage danach, wie sich verschiedene Gemeinschaften als Nation denken: Wer gehört dazu und wer nicht? Wie war unsere Geschichte? Wie wählen wir die historischen Ereignisse aus, die für uns wichtig oder unwichtig sind, die wir als negativ oder positiv bewerten? 

Und wenn zum Beispiel in Belarus in der Schule, in den Universitäten, in Theatern, Museen, staatlichen Institutionen und anderen Einrichtungen die Vorstellung von politischer Loyalität und diese ganz spezifische Vorstellung von der belarussischen Nation vorherrschen, wie kann man dann über andere Identitätsmodelle, über irgendeine Komplexität sprechen? Das ist wirklich ein großes Problem. 

Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava 

Wir haben darüber gesprochen, wie sich das Projekt „sowjetischer Belarusse“ immer wieder gewandelt hat, bis es seine heutige Form mit den vielen verschiedenen Identitätsmodellen angenommen hat. Aber auch vorher haben sich die Belarussen doch mit irgendetwas identifiziert. Wann in unserer Geschichte haben wir angefangen, uns als eigenständige Nation zu positionieren? 

Professor Oleg Łatyszonek hat seinerzeit ein Buch namens NazyjanalnastBelarus geschrieben [dt. Nationalität: Belarusse], in dem er die Geschichte der belarussischen Selbstidentifikation erforscht. Das Wort „Belarusse“ war nicht schon immer als Eigenbezeichnung geläufig. Selbst im 20. Jahrhundert bezeichneten sich die Menschen oft noch als tutejschyja [dt. die von hier], die Verbreitung des Ethnonyms dauerte bis in die 1920er Jahre hinein an. 

Nicht alle fühlten sich gleich als Belarussen, aber der Prozess war angestoßen. Damals waren ja auch sehr viele Juden und andere ethnische Gruppen in Belarus vertreten. Sogar zu Sowjetzeiten können wir gänzlich unterschiedliche Varianten der Identität beobachten. Zum Beispiel auf der einen Seite die „sowjetischen Belarussen“, auf der anderen die postrevolutionäre und Nachkriegsemigration. Die Menschen, die sich im Exil wiederfanden, bemühten sich, ein Modell aufrechtzuerhalten, das gerade nicht sowjetisch war. 

In der Sowjetunion selbst gab es innerhalb der Intelligenzija ebenfalls verschiedene Gruppen, die sich vom sowjetischen Lebensstil zu distanzieren suchten, grob gesagt, „größere Belarussen“ sein wollten: zum Beispiel die einzigartige Tätigkeit der Maisterny in den 1980er Jahren, die sich der Wiedergeburt des kulturellen Erbes verschrieben hatten, oder die bekannte Arbeit von Sjanon Pasnjak zum Schutz des historischen Zentrums von Minsk

Die belarussische Identität wurde also durch ihre Träger problematisiert. In der UdSSR trafen verschiedene Nationalitäten aufeinander, die natürlich versuchten, sich ihre jeweiligen Besonderheiten auf ganz alltäglicher Ebene zu „erklären“ bzw. stereotyp an die ethnische Zugehörigkeit zu knüpfen: Die Ukrainer waren in ihrer Vorstellung so und so, die Georgier so und so und die Belarussen noch mal anders. 

Aber warum stellte sich nach dem Zerfall der UdSSR plötzlich heraus, dass ausgerechnet die Belarussen eine der sowjetischen Nationen mit dem am wenigsten ausgeprägten nationalen Bewusstsein sind? Sind die Repressionen, die 200-jährige russische Okkupation schuld, oder gibt es auch andere Gründe? 

Ich kann eine Vermutung äußern, aber ich weiß nicht, inwieweit man mir zustimmen wird. Es gibt einen älteren Text des Politologen Siarhej Bohdan, der ziemlich umstritten war. Seiner Ansicht nach bildete sich die moderne belarussische Nation ausgerechnet während der Epoche der UdSSR heraus. Der Entstehungsprozess fand dieser These zufolge vor dem Hintergrund der sowjetischen Modernisierung statt, die nach dem Zweiten Weltkrieg Turbogeschwindigkeit aufnahm. 

Der belarussische Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts hatte keine institutionelle Basis, die stabil genug gewesen wäre. Die Belarussen wurden sich erst während der Sowjetepoche als solche im heutigen Sinne bewusst, aber eben im Rahmen der sowjetischen Nationalpolitik. Das alles fand, so Bohdan, auf dem Höhepunkt eines gewissen wirtschaftlichen Wohlstands der Nachkriegsjahre statt, etwa Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre, während der sogenannten „goldenen Epoche“ unter Mascherow. Damals erschienen zahlreiche Bücher auf Belarussisch, es wurden Zeitungen gedruckt. 

Andererseits war das alles sehr sowjetisch: sowjetische Autoren, sowjetische Texte. Jetzt sind wir dabei, herauszufinden, wo in diesen Texten das „Nationale“ ist und wo das „Sowjetische“. Wer war der größere Belarusse: Karatkewitsch, Schamjakin oder Bykau? Gleichzeitig wurde die Urbanisierung vorangetrieben – das Russische verbreitete sich als Sprache der sozialen Mobilität und des Alltags in der sowjetischen Gesellschaft. Und später dann stellte sich die Frage, wie man dieses sowjetische Volk in jene historischen Belarussen zurückverwandeln kann. 

Das Problem war auch das sowjetische Projekt selbst: Es war in eine Zukunft gerichtet, die man sich damals, wie man heute sagen würde, als post-national vorstellte, obwohl man nicht diesen Ausdruck verwendete und darunter etwas anderes verstand. Nämlich den Moment, wenn die nationale Identität und die Unterschiede quasi „überwunden“ sind und die Menschen sich zu einem kommunistischen Gemeinwesen hinbewegen. Doch das stellte sich als Utopie heraus. Die Idee, ein universelles sowjetisches Volk zu erschaffen, innerhalb dessen verschiedene Identitäten miteinander verschmelzen, ist nicht aufgegangen. Sie basierte allzu häufig auf Unterdrückung und Gewalt. 

Aber als sich die Möglichkeit eines Umdenkens eröffnete, waren die Belarussen nicht besonders enthusiastisch. 1991 sprachen sich bei einem Referendum fast 83 Prozent aller Bürger für den Erhalt der UdSSR aus – mehr als in jeder anderen Republik. 

In der finalen Phase der Sowjetunion bedeutete es für die meisten eine radikale Veränderung des Maßstabs, Belarussen im neuen Sinn zu werden. Gerade noch waren wir so ein Riesenland, und jetzt sind wir so klein. Das ist schwer zu begreifen. Ein Teil der Gesellschaft nahm dies als eine Art Provinzialisierung wahr. Deshalb war es für viele Sowjetbürger ein ziemlich schmerzhafter Prozess. Dazu war es ein post-imperiales Setting, wir waren alle von diesem auf ganz bestimmte Weise kolonialisierten Bewusstsein geprägt. 

Für die neuen Generationen war das Leben ohne die UdSSR jedoch vollkommen natürlich, sie richteten sich schnell darin ein. Was den offiziellen „Belarussismus” unter Lukaschenko angeht, so hat der Soziologe Alexej Lastowski zurecht bemerkt, dass die Identifikationsschwelle in diesem Fall sehr niedrig ist, man muss zum Beispiel weder die belarussische Sprache sprechen, noch die Geschichte kennen. Es reicht eine minimale Vorstellung von der Kultur. Die Hauptsache ist, dass man loyal ist. 

Inwiefern haben die sowjetischen Repressionen, die Vernichtung der nationalen Elite in den 1930er Jahren unser nationales Selbstbewusstsein geprägt? Waren nicht sie dafür verantwortlich, dass der belarussische Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts nicht diese entscheidende Rolle gespielt hat? 

Ja, natürlich haben die Repressionen damit zu tun. Denn wie konnte man in der sowjetischen Gesellschaft über die belarussische Identität sprechen, wenn man wusste, dass die Aktivistinnen und Aktivisten, die das bereits versucht hatten, schlichtweg ermordet wurden? Nicht umsonst erinnern wir uns heute Ende Oktober an die Vernichtung der Kulturelite in Belarus in den 1930er Jahren, zum Beispiel im Rahmen des Projekts (Ne)rasstraljanaja paesija [dt. (Nicht-)erschossene Poesie]. 

Die Repressionen der 1920er und 1930er Jahre richteten sich ursprünglich gegen ganz bestimmte soziale Schichten. Dann nahm man sich auch die vor, die alternative Identitätsmodelle repräsentierten (die Rede ist nicht nur von ethnischen Belarussen; in der Kulturelite waren auch Juden vertreten und Leute, die durchaus kommunistische Ansichten hatten). Es wurde überhaupt jede Möglichkeit auf eine Alternative ausgemerzt. 

Natürlich lag es nicht nur an dem Mascherowschen Wohlstand, als es plötzlich Fernseher und Kühlschränke gab und man in Städte reisen konnte, warum die Leute mit ihrem Dasein als sowjetische Belarussen ganz zufrieden waren. Die Repressionen haben ihr Übriges getan. Die Schattenseite der sowjetischen Modernisierung ist ausgesprochen düster. 

Die Atmosphäre der Angst in den 1930er Jahren und später – im Grunde bis heute – hat die Wahrnehmung der Staatsmacht maßgeblich geprägt. Die staatliche Gewalt spielte eine riesengroße Rolle bei dem, was mit den Identitäten aller Belarussen geschehen ist. 

Die Ereignisse von 2020 bezeichnen viele als wichtige Etappe im Werden der Nation. Aber jetzt sind wir mit nie dagewesenen Repressionen konfrontiert, darunter gegen alles Nationale. Wir können eine totale Russifizierung beobachten, wie der Russki Mir alle Bereiche des Lebens durchdringt. All das wirft die Frage auf, ob wir beim Aufbau der Nation wirklich einen Schritt vorangekommen sind. 

Auch das ist eine schwierige Frage. Diese Situation dauert bereits seit über vier Jahren an, und es gibt unterschiedliche Bewertungen der Ereignisse. In der Tat war für viele das, was 2020 geschehen ist, die Geburt einer politischen Nation. Die Idee eines Selbstbewusstseins allein reicht nicht aus, man muss sie auch politisch realisieren. Als 2020 so viele Menschen auf die Straße gingen, um ihre eigene Identität, ihre politische Position zum Ausdruck zu bringen, war das genauso eine Erfahrung einer gelebten Politik. 

Während zu Beginn der „Wahlkampagne“ im April/Mai so gut wie keine weiß-rot-weißen Fahnen zu sehen waren, änderte sich das später, bis die großen Protestmärsche schließlich unter diesen Fahnen stattfanden. Das bedeutet, dass ein bestimmtes Bild einer etwaigen Identität, ihre Elemente von vielen Menschen geteilt wurden. Damals regte sich auch ein großes Interesse an der Geschichte. Unsere Historiker können Ihnen von Vorträgen berichten, die sie in den Hinterhöfen gehalten haben. Es war den Menschen wichtig zu verstehen, wer wir sind, woher wir kommen und was wir darstellen. Denn damit eine Identität real wird, muss sie Teil des politischen Lebens werden, wir müssen die Politik mitgestalten, um das Bild, das uns wichtig ist, in die Tat umzusetzen. 

Eine andere These besagt, dass die revolutionären Ereignisse von 2020 eher von einer belarussischen Zivil-Identität zeugen, einer Identität, die bereits auf dem Weg zur post-nationalen Gesellschaft einer neuen Art ist: nämlich, wenn alle innerhalb dieser Gesellschaft gleich sind und niemand von dem Projekt ausgeschlossen ist. Welche Rolle diese Ereignisse gespielt haben? Ich habe eine pessimistische und eine optimistische Antwort darauf. 

Dann die pessimistische zuerst!

Die pessimistische Antwort ist, dass der Autoritarismus sich ausgeweitet hat und er immer neue Bereiche kolonialisiert. Zum Beispiel wurden vor 2020 Handys eher selten kontrolliert, jetzt ist das an der Tagesordnung. Die Staatsmacht kolonialisiert den Alltag. Ganz zu schweigen von der Gewalt und den ganzen anderen Dingen. 

Andererseits, ist 2020 allein daran schuld? Wäre das alles denn nicht passiert, wenn wir nicht protestiert hätten? Ich glaube, 2020 hat einfach die Mechanismen der Gewalt offenbart, die schon da waren, aber im Verborgenen. Es haben einfach nicht alle hingeschaut. Oder wollten es nicht. 

Und die positive? 

Die positive Antwort ist die, dass solche Momente der Einheit für eine Gesellschaft immer sehr wichtig sind. Diese massenhafte Willensbekundung, dem Autoritarismus eine Abfuhr zu erteilen, die damals nicht nur Minsk, sondern auch andere Städte in verschiedenen Teilen des Landes gezeigt haben. Das sieht man auch an den Repressionen, die wir heute beobachten und die nicht nur eine einzelne Gruppe oder nur Minsk betreffen. 

Ich beobachte, dass viele im Alltag das Belarussische pflegen 

Diese Erfahrung der Freiheit, so kurz sie auch gewesen sein mag, so unterdrückt und niedergeschlagen, ist für die Zukunft sehr wichtig. Es gibt Analogien zu anderen Ländern Osteuropas. So lag die tragische Erfahrung des Prager Frühlings, die Unterdrückung der Freiheit in der Tschechoslowakei 1968, später den Veränderungen zugrunde, die 1989 passierten. Oder die Erfahrung der polnischen Solidarność

Es ist sehr wichtig, sich auf etwas stützen zu können, das eine Alternative zum Autoritarismus bietet. Unsere ebenfalls tragische Erfahrung des gewaltlosen Widerstands könnte künftig ein solcher Anhaltspunkt dafür sein, etwas anderes im Land zu erschaffen. Vorausgesetzt, wir leben so lange. Auch für die kollektive Identität ist das sehr wichtig – diese Momente der Einheit, der Abwesenheit von sichtbaren Konflikten (obwohl sie in jeder Gesellschaft zahlreich vorhanden sind), dass wir gezeigt haben, dass es uns gibt, dass wir ein kollektives Subjekt sind und wir unsere eigene Symbolik und unsere Vorstellungen haben. Das ist eine Lektion darin, dass politisches Leben wichtig und notwendig ist. 

Das ist der Grund, warum das Regime sämtliche Spuren des Protests zu beseitigen und alle alternativen Versionen der Identität auszumerzen versucht, außer des offiziellen, formellen „Belarussismus“, der auf politischer Loyalität basiert. 

Heute befinden sich sehr viele Belarussen im Exil. Wie fatal ist das? 

Das kommt darauf an, wie viel Zeit vergeht. Nach den Ereignissen des Prager Frühlings 1968 verließen ebenfalls viele die Tschechoslowakei. Später, nach der Samtenen Revolution von 1989, kehrte ein Teil der politischen Emigranten wieder zurück. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie in ein ganz anderes Land zurückgekehrt waren (beziehungsweise waren es jetzt sogar zwei Länder), in dem niemand auf sie gewartet hatte. Viele konnten ihren Platz darin nicht finden und gingen wieder weg. Es war also nicht unbedingt eine triumphale Rückkehr. 

Andererseits gibt es auch erfolgreiche Beispiele, wie Menschen nach dem Zerfall der UdSSR in die Länder des Baltikums zurückkehrten. So wurde der Emigrant Valdas Adamkus sogar zweimal zum Präsidenten des unabhängigen Litauens gewählt. Auch nach Russland sind einige „Überläufer“ zurückgekehrt.

Heute ist der öffentliche Raum in Belarus komplett gesäubert; es gibt kaum noch unabhängige Medien, sie arbeiten alle aus dem Ausland, und deshalb wissen wir wenig über die Prozesse Bescheid, die innerhalb der Gesellschaft vor sich gehen, über ihre Dynamik. Klar ist, dass die Gesellschaft sich verändert, und es ist schwer vorherzusagen, was sein wird. In jedem Fall wird es keine Rückkehr an diesen nur sehr bedingt „positiven“ Punkt geben, diese wenigen Wochen im August 2020. Dorthin wird niemand mehr zurückkehren. 

Kann man eine Nation aufbauen, wenn man sich jenseits der Landesgrenzen befindet? 

Die Frage ist, wie die Menschen, die weggegangen sind, mit ihrer Identität umgehen. Einerseits sind wir im Ausland in gewisser Weise sogar mehr zu Belarussen geworden denn je. Als Fremder in einem anderen Land stellt sich viel stärker die Frage, wie man mit der Nostalgie umgehen soll, dem Heimweh, diesem „Belarussismus“. Forscher sagen, dass die Ursprungsidentität in der Emigration lebenswichtig werden, aber auch der umgekehrte Prozess eintreten kann. 

Ich beobachte, dass viele im Alltag das Belarussische pflegen. Sie lernen Polnisch oder Litauisch, aber gehen auf belarussische Veranstaltungen, kaufen belarussische Bücher, geben ihren Kinder die Möglichkeit, sich in einem belarussischsprachigen Umfeld zu bewegen. Ich meine damit die, die vorher Russisch gesprochen haben. 

Interessant ist auch, dass die Ereignisse von 2020 die Identität der Diaspora gewissermaßen wiederbelebt haben. Die belarussische Diaspora war davor eher undefiniert, keine geschlossene Einheit. Vielleicht, weil sie meistens wirtschaftlich motiviert war, aus politischen Gründen emigrierten die Menschen eher vereinzelt. Aber 2020 hat diesen Strom geschaffen, in dem es einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt, gemeinsame Werte. Das hat die Diaspora zu einer echten belarussischen Diaspora gemacht. Es sind neue Gemeinschaften entstanden, die das Belarussische an der Tagesordnung halten. 

Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava

Sie sagten, vieles hängt davon ab, wie schnell die Veränderungen eintreten. Was könnte diese Veränderungen bewirken? Wird sich für die Belarussen in absehbarer Zukunft ein neues Fenster der Möglichkeiten eröffnen? 

Als Historiker kann ich nur über die Geschichte Auskunft geben, nicht über die Zukunft. 

Und was zeigt unsere Geschichte? Hat sich zum Beispiel durch den Tod eines Diktators je etwas grundlegend geändert? Was kann überhaupt Veränderungen anstoßen? 

Die Geschichte kennt unterschiedliche Beispiele. Es gibt die Erfahrung der Perestroika, als die Sowjetunion so gut wie ohne Anwendung von Gewalt in Belarus verschwand – im Gegensatz zu, sagen wir, Bergkarabach, den Tragödien in Vilnius, Tbilissi und so weiter. Aber dann gibt es eben auch 2020, als friedliche Demonstrationen zu massenhafter Gewalt durch das Regime geführt haben und es nicht gefallen ist. 

Die historische Erfahrung wiederholt sich nie eins zu eins, sie ist jedes Mal einzigartig. Deshalb lässt sie sich auch nicht eins zu eins auf die Zukunft übertragen. Als ich von Veränderungen im Land gesprochen habe, meinte ich, dass es jetzt eine bestimmte soziale Dynamik gibt. Jede Gesellschaft verändert sich. Aber wir können leider nicht genau vorhersagen, wie diese Veränderungen vonstattengehen werden. 

Der Ausweg aus dem Autoritarismus passiert nicht magisch von heute auf morgen 

Früher hieß es, man könne aus Belarus kein Nordkorea machen, aber jetzt sehen wir, wie der Autoritarismus in allen Bereichen um sich greift. Vieles wird von der Beständigkeit des Regimes selbst abhängen. Ja, das politische Regime in Belarus ist sehr personalistisch. Und natürlich ist entscheidend, was mit dem Machttransfer passiert, wenn der Anführer stirbt. In Kasachstan schrumpfte Nasarbajews Einfluss interessanterweise schon zu seinen Lebzeiten. Aber ob das Land dadurch viel freier geworden ist, ist sehr fraglich. 

Der Ausweg aus dem Autoritarismus passiert nicht magisch von heute auf morgen. Das wird recht schmerzhaft. Man wird sich mit Fragen wie Lustration, Strafen für die Gewalt, die 2020 ausgebrochen ist, und anderen Problemen beschäftigen müssen. 

Wie könnten sich äußere Faktoren auswirken? 

Als äußerer Faktor ist da natürlich der russische Krieg gegen die Ukraine. Wenn der Konflikt jetzt eingefroren wird, wird auch die Situation in Belarus eingefroren. In dem Fall würde uns ein langsamer autoritärer Verfall erwarten, was niemandem zu wünschen wäre. Diesen Prozess können wir bereits jetzt beobachten: Einerseits wird alles zerstört, was aus Sicht des Staates zu den Protesten geführt hat, aber andererseits kommt nichts Neues hinzu. Wir sehen keine Alternativen zu den [zerstörten] zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Dynamik ermöglicht hatten. 

Es gab zum Beispiel den Creative Space Imaguru in Minsk mit seinen Start-ups. Und jetzt? Imaguru wurde zerstört, und die Start-ups dazu. Solche Räume wurden allerorts zerstört. 

Und wie stabil schätzen Sie den belarussischen Autoritarismus ein? 

Auch ein autoritäres Modell hat seine Grenzen. Das Paradoxe ist, dass der Autoritarismus einerseits auf Druck aufbaut, und andererseits selbst auf Unterstützung, Mobilisierung angewiesen ist. Für diese Unterstützung braucht es irgendwelche Kanäle. 

Hier stellt sich die Frage: Steckt Belarus momentan in einer politischen Sackgasse? Aus meiner Sicht absolut. Ich sehe nicht, dass das autoritäre System etwas Neues erfinden würde. Es erfindet neue Unterdrückungsmethoden, sie werden zunehmend digital, überall werden Kameras aufgehangen, das Internet wird überwacht, Likes kontrolliert – aber kann man das als Fortschritt bezeichnen? 

Ich sehe zwei Szenarien, wie sich die Ereignisse entwickeln könnten. Das erste ist ein Einfrieren der Situation für etwa zehn Jahre (oder eben so lange, wie dieses Führer-Duett noch durchhält). Hier hängt vieles davon ab, was in Russland und Belarus passiert, wer von den beiden als erstes stirbt, wie der Machttransfer aussehen wird und so weiter.

Das zweite Szenario ist, dass sich die Ereignisse kraft irgendwelcher äußeren Umstände plötzlich sehr schnell verändern. Welche Umstände das sein könnten, lässt sich im Moment schwer sagen. 

Unser Schicksal scheint in vielerlei Hinsicht von äußeren Umständen abzuhängen. Was können wir denn selbst tun, um Einfluss auf unsere Zukunft zu nehmen, die Veränderungen zu beschleunigen? 

Wie auch immer die äußeren Umstände aussehen, unser Leben darin geht weiter. Wir sind jeden Tag gezwungen, unsere Wahl zu treffen. Für die Menschen in Belarus ist diese Wahl auf jeden Fall sehr schwer. Aber man muss irgendwie man selbst bleiben, versuchen, in dem Bereich, für den man sich entschieden hat, seine Professionalität so gut wie möglich zu bewahren. 

Es gibt Studien zum Verhalten von Menschen in autoritären Regimen, insbesondere den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel das Konzept des „Eigen-Sinns“ des deutschen Historikers Alf Lüdtke: Es geht darum, dass Menschen auch unter den schwierigsten Bedingungen „Sturheit“ und „Eigensinn“ beweisen, nicht gehorchen wollen, obwohl es unmöglich ist, das offen zu zeigen. 

Auch diejenigen, die Belarus verlassen haben, stehen vor einer großen Herausforderung. Die Exilgemeinschaften müssen Alternativen schaffen und andere davon überzeugen, dass es diese Alternativen zur bestehenden Ordnung in Belarus gibt. Der belarussische Autoritarismus basiert ja auf der propagierten Annahme, dass es nur so und nicht anders sein kann. Die Aufgabe der Diaspora besteht darin, zu zeigen, dass es auch andere Wege für die Politik und die Entwicklung des Landes gibt.

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Wären auf dem Gebiet der heutigen Belarus vor 200 Jahren auch schon Metros gefahren, hätte sich ein anderes Bild geboten. Russisch wäre kaum zu hören gewesen, denn die Gebiete der heutigen Belarus sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst seit kurzer Zeit Teil des Russischen Zarenreichs. Zuvor hatten sie jahrhundertelang zur Adelsrepublik Polen-Litauen gehört, und deswegen wären auch zu jener Zeit die offiziellen Durchsagen der nächsten Station wohl noch auf Polnisch erfolgt. Auch die Namen der Stationen hätte man auf Polnisch ausgeschildert. Zwar hatte es im 16. und 17. Jahrhundert auf den Gebieten der Belarus bereits eine autochthone, ostslawische Schriftsprache1 gegeben, diese war aber längst vom westslawischen Polnischen verdrängt worden. Unterhalten hätten sich die Fahrgäste des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Sprachen: Einige auf Polnisch, der Sprache des Adels, andere auf Jiddisch, und wieder andere in unterschiedlichen dialektalen Formen des ostslawischen Belarusischen, der Sprache der breiten Bevölkerung.

Das moderne Belarusische

Im 19. Jahrhundert setzte sich in Europa der Glaube an die Einheit von Volk, Nation und Sprache und damit das Bedürfnis nach einheitlichen Standardsprachen durch. Für die drei modernen ostslawischen Standardsprachen, für das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, war dieses Jahrhundert das entscheidende. Auch die Idee einer belarusischen Identität gewann nun an Bedeutung und damit der Wunsch nach einer einheitlichen belarusischen Sprache. Anfang des 19. Jahrhunderts standen beide allerdings in Konkurrenz zur polnischen Sprache und Identität. Exemplarisch zeigt sich das in Biographie, Werk und Wahrnehmung der beiden befreundeten Schriftsteller Adam Mickiewicz und Jan Tschatschot. Obwohl beide am Ende des 18. Jahrhunderts unweit des heute belarusischen Nawahrudak geboren wurden, avancierte der erste zum Nationaldichter Polens, während der zweite zu einem der Gründer der belarusischen Wiedergeburtsbewegung wurde. „Von nahezu identischen Ausgangspunkten“ schlugen sie Bahnen ein, „wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten“2.

Das Polnische verlor im späteren 19. Jahrhundert in den „Nordwestprovinzen“ des Zarenreiches zunehmend seine Bedeutung. In Reaktion auf zwei Aufstände, die 1830/31 und 1863 auf den Gebieten des ehemaligen Polen-Litauens ausbrachen, nahm stattdessen der Einfluss des Russischen zu. Die westlichen Ostslawen wurden als „Teil des russischen Volkes“ betrachtet, der durch polnische Einflussnahme von diesem „entfremdet“ worden sei.3 Eine belarusische Standardsprache hatte in dieser Logik keinen Platz und wurde dementsprechend in ihrer Entwicklung behindert. Trotz dieser ungünstigen politischen Situation bildete sich bis zum Anfang des 20. Jahrhundert eine Literatur heraus, deren Sprache auf den damaligen belarusischen Dialekten aufbaute. Im Zuge der politischen Teilliberalisierung, die auf die Russische Revolution 1905 folgte, konnte das Belarusische schließlich auch in publizistischen Bereichen verwendet und stilistisch ausgebaut werden. Maßgeblich für diesen Prozess war die zwischen 1906 und 1915 herausgegebene Zeitung Nascha Niwa, das wichtigste Publikationsorgan der belarusischsprachigen Schriftsteller und Publizisten jener Zeit. 1918 wurden die orthographischen und grammatischen Regeln des Belarusischen durch Branislau Taraschkewitsch kodifiziert. Diese erste, aber nicht letzte Norm der belarusischen Standardsprache wurde nach ihrem Schöpfer als Taraschkewiza bekannt und war auf Abstand zum Russischen bedacht.

Das Belarusische in der Sowjetunion

Anfang des 20. Jahrhunderts stand die belarusische Sprache also gewissermaßen bereit, in einem künftigen belarusischen Staat die Funktionen einer Standardsprache zu erfüllen. Durchsetzen sollte sie sich jedoch letztlich nie, auch wenn es nach dem ersten Weltkrieg zunächst ganz danach aussah. Zwar gingen die westlichen Gebiete der heutigen Belarus an das neu entstandene Polen, wo eine Polonisierung der ostslawischen Bevölkerung angestrebt wurde. Im östlichen Teil, der nun als Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) Teil der Sowjetunion war, erfuhr das Belarusische jedoch im Zuge der sogenannten Belarussisazyja eine nie dagewesene Förderung. Insbesondere wurde das Belarusische als Schul- und Verwaltungssprache eingeführt und auch in beträchtlichem Maße durchgesetzt.

Doch die liberale Sprachenpolitik der frühen Sowjetunion, die das Ziel verfolgte, nationale Minderheiten und ihre Eliten in den neuen Staat und die neue Ideologie einzubinden, sollte nicht lange andauern. Unter Stalin wurde 1934 das Russische zur alleinigen Sprache der innersowjetischen Kommunikation erklärt, bereits ein Jahr zuvor war es die alleinige Sprache der Armee geworden. 1938 wurde es Pflichtfach in den Schulen aller Sowjetrepubliken. Ein neues Regelwerk, die nach dem Volkskommissariat (narodny kamissaryjat) benannte Narkamauka, ersetzte 1933 die Taraschkewiza. Sie nähert das Belarusische in Grammatik, Wortbildung und Orthographie dem Russischen an. Diese Maßnahmen lesen sich heute recht nüchtern. Gleichzeitig fiel aber dem Großen Terror der 1930er Jahre auch fast die gesamte belarusischsprachige Intelligenz zum Opfer. Sich für das Belarusische einzusetzen oder lediglich Belarusisch zu sprechen, während der Kampf gegen „nationale Abweichler“ wütete, erforderte beträchtlichen Mut.

Doch nicht nur die Sowjetisierung, sondern auch der Zweite Weltkrieg hatte Folgen für die Stellung der belarusischen Standardsprache. Zwar gingen mit der sowjetischen Annexion Ostpolens 1939 große Teile des in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden belarusischen Sprachgebiets an die BSSR. Der Umstand, dass die deutschen Besatzer die belarusische Sprache im Zweiten Weltkrieg – wie auch schon im Ersten Weltkrieg – in gewissem Umfang für ihre Zwecke gefördert hatten, trug jedoch dazu bei, das Belarusische in der Sowjetunion zu diskreditieren. Vor allem aber verlor die belarusische Standardsprache ihren stärksten Trumpf gegenüber dem Russischen, nämlich die größere Nähe zur Alltagssprache der breiten Bevölkerung. Denn mit der Ermordung von Millionen Menschen und der vollständigen Vernichtung von etwa 9000 Dörfern durch die Deutschen war auch die dialektale Landschaft zu großen Teilen zerstört worden. Nach dem Krieg wurden Städte im Zuge einer raschen Industrialisierung schneller wiederaufgebaut als Dörfer. Zahlreiche junge Sprecher*innen belarusischer Dialekte zogen daher als dringend benötigte Arbeitskräfte vom Land in die rasant wachsenden Städte, wo sie sich der sozial dominanten russischen Sprache zuwandten. Hieraus resultiert die weite Verbreitung der sogenannte Trassjanka im Lande, einer gemischten Rede, die Elemente des Belarusischen und des Russischen aufweist.

Dass insbesondere in den Städten das Russische dominierte, lag einerseits daran, dass nach dem Krieg viele Russ*innen und Sprecher*innen des Russischen aus anderen Teilen der Sowjetunion in die belarusischen Städte gezogen waren, um dort Führungspositionen einzunehmen. Vor allem blieb aber auch unter Stalins Nachfolgern das Russische die Sprache des ideellen Wegs zum Kommunismus – und damit auch die Sprache des individuellen Wegs nach oben auf jedweder Karriereleiter. Seinem Ärger über eine belarusischsprachige Rede, die er wohlgemerkt auf dem 40. Jahrestag der BSSR hatte hören müssen, soll Chruschtschow mit den Worten Luft gemacht haben: „Je eher wir alle Russisch sprechen, desto eher haben wir den Kommunismus aufgebaut“.4 Das Russische hatte nun die „zweite Muttersprache“ aller nicht-russischen Ethnien zu sein. Trotz allem war das Belarusische als Unterrichtssprache bis in die Nachkriegszeit hinein aber noch recht gut vertreten. Als Eltern ab 1958 jedoch die Unterrichtssprache ihrer Kinder frei wählen durften, optierten die meisten für das in der Sowjetunion unverzichtbare Russische, nicht für das verzichtbare Belarusische.

Belarusisch im unabhängigen Belarus

Zum Ende der Sowjetzeit sah es für das Belarusische düster aus. Erst in der Perestroika-Stimmung der 1980er Jahre konnten sich national orientierte Intellektuelle für das Belarusische stark machen. Als alleinige Staatssprache der nun unabhängigen Republik Belarus erlebte es dann Anfang der 1990er Jahre einen vorerst letzten Aufschwung. Insbesondere der Anteil der Schüler*innen, die auf Belarusisch unterrichtet wurden, stieg stark an. Der Rückhalt in der Bevölkerung für die allgemeine Durchsetzung einer Sprache, die von vielen kaum benutzt und eher mittelmäßig beherrscht wurde, war jedoch nicht allzu groß. Vielen ging es zumindest zu schnell und in der postsowjetischen Wirtschaftskrise waren vielen Belarus*innen andere Probleme dringlicher. Auf diese Stimmung bauend ließ Präsident Alexander Lukaschenko kurz nach seinem Antritt im Mai 1995 ein in seiner Rechtmäßigkeit umstrittenes Referendum durchführen, das unter anderem auch auf die Staatssprache abzielte. Die entsprechende Frage war geschickt formuliert: Es ging nicht etwa darum, die Förderung des Belarusischen zurückzunehmen oder es gar zurückzudrängen, sondern darum, „dem Russischen den gleichen Status wie dem Belarusischen“ einzuräumen. Offiziell 87 Prozent der gültigen Stimmen zeigten sich damit einverstanden.

Heute sind Belarusisch und Russisch rechtlich gleichberechtigte Staatssprachen der Republik Belarus. Personen, die sich für eine stärkere Position des Belarusischen einsetzen, kann die offizielle Seite entgegnen, dass man das Belarusische ja keinesfalls zurückdränge. Man sei – so etwa Lukaschenko – lediglich dagegen, eine der beiden Sprachen mit Zwang durchzusetzen.5 Ganz ähnlich wie bei der freien Wahl der Unterrichtssprache in den 1950er Jahren ist das Belarusische ohne eine positive Diskriminierung jedoch chancenlos. Denn ob im alltäglichen Gebrauch, im öffentlichen Leben, den Medien, dem Bildungswesen, dem Buchmarkt, bei Regierungs- und Verwaltungsorganen, im Geschäftswesen, in der Wissenschaft – überall dominiert das Russische, das Belarusische spielt allenfalls eine marginale Rolle.
So gab im Zensus von 2019 zwar immerhin ein gutes Viertel der knapp acht Millionen ethnischer Belarus*innen6 an, zu Hause für gewöhnlich das Belarusische zu benutzen. Dass sich dahinter aber nicht die Standardsprache verbirgt, wird in anderen Umfragen deutlich. Können die Befragten nicht nur Belarusisch oder Russisch ankreuzen, sondern auch „Trassjanka“ oder „belarusisch-russisch gemischt“, dann sinkt der Anteil der Belarusischsprecher*innen auf unter fünf Prozent.7
 

Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt.8

Der zweifellos marginale Status des Belarusischen im Gebrauch wird zuweilen sogar in ein Argument gegen dessen Förderung umgemünzt: Dass niemand es im Alltag benutze, zeige, dass diese „Sprache der Schriftsteller“ nicht für den Alltag tauge. Das verkennt allerdings, dass das Belarusische für einige, wenn auch wenige, durchaus die praktikable und normale Alltagssprache ist. Bei dieser Gruppe handelt es sich um eine national gesinnte Minderheit, oft mit einer Vorliebe für die erste, nicht-russifizierte Norm des Belarusischen, die Taraschkewiza. Der Gebrauch des Belarusischen in der Öffentlichkeit ist ungewöhnlich und damit als Statement zu verstehen. Umgekehrt ist es jedoch keineswegs so, dass der Gebrauch des Russischen auf eine regierungstreue Haltung oder die Ablehnung einer belarusischen Eigenständigkeit schließen lässt. Die Sprachenfrage ist entsprechend auch in den gegenwärtigen Protesten „seltsam abwesend“9


Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt.10

Die Situation des Belarusischen ist heute von vielen Widersprüchen geprägt. So betrachten etwa viele Belarus*innen das Belarusische als ihre Muttersprache11, obwohl sie es kaum sprechen. Auch sehen viele die Sprache noch als wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Belarus*innen zu den Russ*innen, stimmen jedoch der Aussage zu, dass man auch Belarus*in sein könne, ohne die Sprache zu sprechen. Grundsätzlich beherrschen solle man sie jedoch schon, auch wenn für die allermeisten das Belarusische heute eine lediglich im Klassenzimmer erlernte und auf schulische Kontexte beschränkte Sprache ist. Nach wie vor hegen aber viele junge Belarus*innen den Wunsch, dass ihre eigenen Kinder einmal nicht nur das Russische, den jasyk, beherrschen, sondern auch: die belarusische mowa.12 Ob den Belarus*innen in ihrer Mehrheit die symbolischen, aber letztlich homöopathischen Dosen des Belarusischen in Metro, Schule und anderswo ausreichen, wird sich zeigen müssen.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

 

Zum Weiterlesen
Bieder, H. (2001): Der Kampf um die Sprachen im 20. Jahrhundert, in: Beyrau, D./Lindner, R. (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen, S. 451–471
Hentschel, G./Kittel, B. (2011): Zur weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit in Weißrussland – nicht zuletzt aus der Sicht der Weißrussen, in: Bohn, Th. et al. (Hrsg.): Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld, S. 49–67
Woolhiser, Curt (2013): New speakers of Belarusian: Metalinguistic Discourse, Social Identity, and Language Use, in Bethea, David M./Bethin, Christina Y.  (Hrsg.): American Contributions to the 15th International Congress of Slavists, Minsk, August 2013, Bloomington, S. 63–115
Zaprudski, S. (2007): In the grip of replacive bilingualism: The Belarusian language in contact with Russian, in: International Journal of the Sociology of Language 183, S. 97–118

1.Moser, M. (2005): Mittelruthenisch (Mittelweißrussisch und Mittelukrainisch): Ein Überblick, in: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 50, S. 125–142; Bunčić, D. (2006): Die ruthenische Schriftsprache bei Ivan Uževyč unter besonderer Berücksichtigung der Lexik seines Gesprächsbuchs Rozmova/Besěda, München 
2.Kohler, G.-B. (2014): Selbst, Anderes Selbst und das Intime Andere: Adam Mickiewicz und Jan Čačot, in: Studia Białorutenistyczne 8, S. 79–94, hier S. 83 
3.Brüggemann, M. (2014): Zwischen Anlehnung an Russland und Eigenständigkeit: Zur Sprachpolitik in Belarus', in: Europa ethnica 3-4/2014, S. 88–93, hier S. 89 
4.zit. nach: Korjakov, Ju. B. (2002): Jazykovaja situacija v Belorussii i tipologija jazykovych situacij, Moskva, hier S. 39 
5.nach Brüggemann, M. (2014): Die weißrussische und die russische Sprache in ihrem Verhältnis zur weißrussischen Gesellschaft und Nation: Ideologisch-programmatische Standpunkte politischer Akteure und Intellektueller 1994–2010, Oldenburg, hier S. 112 
6.Mit ethnischen Belarus*innen sind dabei belarusische Staatsbürger*innen gemeint, die sich nicht als Russ*innen, Pol*innen, Ukrainer*innen etc. identifizierten. 
7.Kittel, B./Lindner, D./Brüggemann, M./Zeller, J. P./Hentschel, G. (2018): Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel: Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede „Trassjanka“ in Weißrussland, Berlin, hier S. 180; Informacionno-analitičeskij centr pri Administracii Prezidenta Respubliki Belarus’ (Hrsg.) (2018): Respublika Belarus’ v zerkale sociologii: Sbornik materialov sociologičeskich issledovanij, Minsk, hier S. 46 
8.Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt. Vgl. Kittel et al. 2018, S. 180 
9.Brüggemann, M. (2020): Demokratie nur auf Belarusisch? Eine Reise in die sprachpolitischen „Befindlichkeiten“ der Belarus, in: Bohn, T./Rutz, M. (Hrsg.): Belarus-Reisen: Empfehlungen aus der deutschen Wissenschaft, Wiesbaden, S. 53–69, hier S. 69 
10.Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt. Vgl. Hentschel, G./Brüggemann, M./Geiger, H./Zeller, J. P. (2015): The linguistic and political orientation of young Belarusian adults between East and West or Russian and Belarusian, in: International Journal of the Sociology of Language 2015/236, S. 133–154, hier S. 151 
11.In der Entsprechung zum deutschen Wort „Muttersprache“ ist weder im Belarusischen noch im Russischen von „Mutter“ die Rede. Im Belarusischen ist es „rodnaja mova“, im Russischen „rodnoj jazyk“. Das Attribut „rodnaja“ bzw. „rodnoj“ ist am ehesten vergleichbar mit dem englischen „native“. In anderen Kontexten kann es mit „leiblich verwandt“, „Heimat‑“ oder „angeboren“ übersetzt werden. Abgeleitet ist es von der Wurzel „rod“, zu übersetzen unter anderem mit „Stamm, Geschlecht“, die auch im Wort „narod“ „Volk“ vorkommt. Vgl dazu: Zeller, J. P./Levikin, D. (2016): Die Muttersprachen junger Weißrussen: Ihr symbolischer Gehalt und ihr Zusammenhang mit sozialen Faktoren und dem Sprachgebrauch in der Familie, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch (Neue Folge) 4, S. 114–144 
12.Hentschel, G et al. 2018, S. 151 
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