Nasha Niva
Nasha Niva
Sie war so prägend für die belarussische Kulturgeschichte, dass Historiker sogar eine ganze Epoche nach ihr benannt haben: die „Nasha Niva“-Periode, Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Zeitung Nasha Niva (belarus. Nascha Niwa; deutsch: „Unser Acker“) wurde 1906 in Vilnius gegründet und ist damit die älteste belarussische Zeitung. Schon damals verstand sie sich als Sprachrohr für jene, die ein unabhängiges Belarus wollen. Das tut sie bis heute – auch gegen Widerstände durch die belarussischen Behörden, die das Online-Medium im Januar 2022 für extremistisch erklärt haben.
Nasha Niva hatte großen Einfluss auf die Herausbildung einer modernen belarussischen Kultur und eines Nationalbewusstseins, in einer Zeit, als Belarus noch zum Zarenreich gehörte. Ihre Autoren, dazu zählten etwa die berühmtesten belarussischen Schriftsteller und Dichter ihrer Zeit, wie Maxim Bogdanowitsch (belarussisch: Maksim Bahdanowitsch) oder Jakub Kolas, bemühten sich um eine moderne belarussische Standardsprache. Dadurch wurde Nasha Niva zu nichts weniger als einem Zentrum der so genannten „belarussischen Wiedergeburt“.
Aber obwohl die Zeitung ursprünglich von Linken gegründet wurde – Vorbild war die revolutionäre Iskra der russischen Sozialdemokraten – konnte Nasha Niva in der Sowjetunion nicht erscheinen. Konterrevolutionär, bürgerlich liberal oder gar nationalistisch – so lautete das vernichtende Urteil der Sowjet-Propaganda. Viele der Nasha Niva-Mitarbeiter fielen den Repressionen unter Stalin zum Opfer.
Erst 1991 wurde Nasha Niva wieder in Vilnius aufgelegt, 1996 zog die Redaktion nach Minsk um. Seither haben das Blatt und ihre Macher aber wieder mit massiven Repressionen zu kämpfen: Gerichtsverfahren, Razzien, Gefängnisstrafen, KGB-Verhöre. Aufgrund von Schikanen durch das staatliche Distributionssystem musste die Zeitung zwischendurch sogar von Freiwilligen verteilt werden. In den 2010-er Jahren stieg die Homepage von Nasha Niva mit rund 350.000 täglichen Besuchern („unique user“) zur beliebtesten Website auf Belarussisch auf, die Artikel können online aber auch auf Russisch gelesen werden.
Nasha Niva ist heute eines der wichtigsten Medien der belarussischen Intelligenzija, mit Interviews, Berichten, Essays und literarischen Veröffentlichungen, für ein vorwiegend junges Publikum zwischen 25 und 35 Jahren. Chefredakteur der Zeitung ist seit 2017 Jegor Martinowitsch. Über die Massenproteste gegen die offensichtlich gefälschte Wiederwahl des Präsidenten Alexander Lukaschenkos im August 2020 hat Nasha Niva breit berichtet.
Mit dem Jahr 2020 brach für die traditionsreiche, aber auch leidgeprüfte Nasha Niva eine neue Zäsur der Repressionen an, mit Verhaftungen und Blockaden. Am 8. Juli 2021 haben die Behörden die Website geblockt, Martinowitsch und drei weitere Mitarbeiter wurden festgenommen; Martinowitsch und der Marketing-Leiter Andrej Skurko gelten als politische Gefangene. Die meisten anderen Redakteure von Nasha Niva haben inzwischen das Land verlassen und führen die Online-Zeitung aus dem Ausland weiter, unter einer anderen Domain, um die Blockade im Internet zu umgehen.
Am 15. März 2022 hat ein Minsker Gericht Martinowitsch und Skurko zu 2,5 Jahren Straflager verurteilt. Das Urteil wurde auf Grundlage eines Paragraphen verhängt, der Sachbeschädigungen (ohne Anzeichen von Diebstahl) regelt. Den beiden wurde vorgeworfen, Nebenkosten der bei einem staatlichen Unternehmen angemieteten Räume von Nasha Niva entsprechend der Tarife für private Personen und nicht der von juristischen Personen gezahlt zu haben. Internationale Beobachter kritisieren die Anschuldigungen und das Urteil als politisch motiviert.
Am 27. Januar 2022 war die Online-Zeitung bereits als „extremistische Organisation“ eingestuft worden. Die Redaktion will sich aber auch 116 Jahre nach ihrer Gründung nicht unterkriegen lassen. „Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Macht des Bösen immer weiter und weiter nach neuen Möglichkeiten suchen wird, unabhängige Medien zu zerstören“, hieß es in einer ersten Stellungnahme der Redaktion dazu auf der Website. Aber gelingen könne das nicht: „Wir geben nicht auf. Und morgen werden wir wieder unsere nächsten exklusiven Recherchen veröffentlichen. Bleibt dran!“
Eckdaten
Gegründet: 1906
Chefredakteur: Jegor Martinowitsch (belarussisch: Jahor Marzynowytsch)
URL: https://nashaniva.com
Text: Simone Brunner
Stand: Januar 2022