Medien
Gnosen
en

Anna Netrebko

„Schande! Schande!“, klingt es die Berliner Prachtstraße Unter den Linden hinauf. Die Staatsoper spielt an jenem Abend im September 2023 Giuseppe Verdis Macbeth. In der Hauptrolle der Lady Macbeth: Anna Netrebko – und an dieser Besetzung entzündet sich Widerstand. Die Sängerin hatte sich in der Vergangenheit bereitwillig in die Dienste des Kreml gestellt und sich nur halbherzig vom Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert. Einige Protestierende haben sich in ukrainische Flaggen gehüllt. Sie halten Schilder mit der Aufschrift „Nonetrebko“ in die Höhe. Auf einem Plakat ist eine Ballerina in Russlands Nationalfarben mit umgehängtem Maschinengewehr zu sehen. Auf einem anderen steht: „Wer Putin und die Terroristen unterstützt, ist auf Berliner Bühnen nicht willkommen.“ 

Anna Netrebko während ihres Auftritts auf dem New Wave Song Contest 2019 anlässlich des 65. Geburtstags des Komponisten Igor Krutoi in Sotschi / Foto © Vyacheslav Prokofyev/Imago/Itar-Tass

In der Welt der klassischen Musik sind Superstars selten geworden. Anna Jurjewna Netrebko ist eine Ausnahme und seit Anfang des Jahrtausends eine der erfolgreichsten Sopranistinnen. Ihr Gesicht ziert zahlreiche Alben in Nahaufnahme, ihr Name ist oft größer geschrieben als der des Komponisten oder des begleitenden Orchesters. Seit der Krim-Annexion im Jahr 2014 ist dieser Name jedoch – mit Hashtag als #Nonetrebko versehen – zur Chiffre geworden: für die Verantwortlichkeit von Kunstschaffenden in Diktaturen und für den Umgang mit der russischen Hochkultur im Westen. Aber auch für das Spannungsverhältnis zwischen Musik und Politik, das in den Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs aus dem Blick geraten war. Diese Entwicklung ist eng mit Anna Netrebko, ihrer Biografie und ihren Entscheidungen verbunden.  

Netrebko wurde 1971 in Krasnodar als Tochter eines Geologen und einer Ingenieurin geboren. Ihre Ausbildung erhielt sie während der Perestroika-Zeit am Leningrader Konservatorium. Gerade rechtzeitig, um noch von der staatlichen Kultursubvention und der überragenden Qualität der Künstlerausbildung in der Sowjetunion zu profitieren, die nach 1991 in sich zusammenfiel.  

Im 20. Jahrhundert war der Konzertsaal über Jahrzehnte ein Schlachtfeld des Kalten Kriegs gewesen.1 In der sowjetischen Zeit investierte der Staat Unsummen in die Förderung von Pianistinnen, Dirigenten, Sängerinnen und Musikern. Er schuf ein System der Musikausbildung, das heute noch seinesgleichen sucht. Wer es durchlaufen hatte, dem winkten Ruhm und Ehre – in der Heimat wie auch international. Dafür hatten die Absolventinnen und Absolventen eine wichtige Aufgabe: Sie sollten fortan von der Überlegenheit des sozialistischen Systems, der Kultiviertheit des Sowjetmenschen und seinem friedliebenden Charakter zeugen.  

Als Anna Netrebko im Jahr 1993 in Moskau mit 22 Jahren den Internationalen Glinka-Gesangswettbewerb gewann, schien diese politische Indienststellung von Künstlerinnen bereits ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Ihre Karriere führte sie schnell um die ganze Welt; als Ljudmila in Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ an der San Francisco Opera gelang ihr 1995 der internationale Durchbruch. Anfang der 2000er Jahre war Netrebko ein Klassikstar, mit Wohnsitzen in Wien und New York. Dem russischen Publikum, insbesondere am Petersburger Mariinskii-Theater, blieb sie dennoch eng verbunden.  

Neben ihrer dunklen, voluminösen Stimme sorgte auch ihr sorgsam inszeniertes Aussehen dafür, dass ihre Alben zu Kassenschlagern werden. Verträumt blickt sie mit großen Augen vom Cover herab ihre potenziellen Käufer an, ihre langen Haare kunstvoll verzwirbelt oder offen und wild um ihr Gesicht herum drapiert. Zusammen mit dem Dirigenten Waleri Gergiew steht sie für eine neue Generation russischer Kulturbotschafterinnen und Kulturbotschafter, die erstmals nach den Maßstäben westlicher Popkultur vermarktet werden. Wladimir Putin nutzt sie, um seit dem Ende des Zweiten Tschetschenienkriegs mit denkwürdigen Konzertauftritten seine Charmeoffensive im Westen zu befeuern. 

Netrebko nahm die Rolle einer populären Unterstützerin des Präsidenten bereitwillig an, auch als sein politischer Kurs immer stärker ins Autoritäre drehte. 2011 unterzeichnete sie eine Petition, in der Prominente im Stil einer Eingabe des Volkes an den Zaren die Kandidatur Wladimir Putins für eine weitere Amtszeit unterstützten. Es sei Putins „Engagement für die Kunst“ gewesen, das sie zu diesem Schritt bewogen habe, erklärte die russische Vorzeige-Künstlerin. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits in Österreich. Von ihrer Nähe zum Regime profitierte sie zuvor bereits mehrfach: 2005 wurde sie mit dem auf mehrere Millionen Rubel dotierten Staatspreis der Russischen Föderation ausgezeichnet. 2008 verlieh ihr Putin persönlich den Ehrentitel einer „Volkskünstlerin Russlands”.2 Bei der Auftaktveranstaltung der Olympischen Winterspiele in Sotschi durfte sie die Olympische Hymne singen – offensichtlicher konnte ihre Indienststellung durch den Staat kaum inszeniert werden.3  

Im Dezember 2014 spendete Netrebko eine Million Rubel (knapp 19.000 Euro) an die Oper im russisch besetzten Donezk. Bei einem Pressetermin tritt sie mit dem Sprecher des „Parlaments“ von „Neurussland“, Oleg Zarjow, auf. Gemeinsam halten sie eine Flagge des Separatisten-Staates / Foto © Imago/Russian Look

Im Dezember 2014 ging ein Foto von Netrebko um die Welt, das sie im festlichen Abendkleid und mit roten Rosen neben dem vom Kreml unterstützten Separatistenführer Oleg Zarjow zeigte. Gemeinsam entrollten sie eine Flagge des Pseudostaates Neurussland, einer kurzlebigen Verbindung der beiden selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Bereits vier Jahre zuvor hatte ein Auftritt von ihr in Wien Empörung ausgelöst: Zu einem anschließenden Pressetermin erschien sie in einem weißen Kleid mit der Aufschrift „Na Berlin“ (dt. Nach Berlin!) und einem angehefteten St. Georgs-Band. Die Losung und die Schleife sind beide unmissverständliche Chiffren russischer Militärpropaganda. In Interviews beteuerte Netrebko jedoch stets, von Politik wenig zu verstehen und sich eigentlich nur ihrer Kunst widmen zu wollen – eine oftmals von Kunstschaffenden ins Feld geführte rhetorische Strategie, um die eigene Indifferenz apologetisch zu verklären. 

Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 beendete endgültig eine kulturpolitische Epoche der russländischen Geschichte, in der Kunst auch ohne politische Positionierung möglich gewesen war. Russische (und mit ihr auch das Erbe der sowjetischen) Kultur ist seitdem wieder untrennbar mit nationaler Ideologie verknüpft. Kulturschaffende sehen sich mit der unausweichlichen Frage konfrontiert, wie sie dem Regime gegenüberstehen. Negativ? Dann bleibt ihnen nur das Exil. Positiv? Dann müssen sie sich von einer internationalen Karriere im Westen verabschieden. Dazwischen ist kein Platz mehr. 

Anna Netrebko aber wollte beides: Eine glitzernde Karriere auf den Bühnen der Welt und ein ungetrübtes Verhältnis zu ihrem Förderer Putin. Dieser Spagat war nicht zu halten: Am 1. März 2022 schrieb sie auf ihrem Instagram-Profil: „Ich rufe Russland auf, diesen Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden“. Noch am selben Tag wurde der Beitrag wieder gelöscht.4 Für die polarisierte Gesellschaft in ihrem Heimatland war das genug, vielen gilt sie seitdem als Verräterin. Von einem geplanten Auftritt in Nowosibirsk wurde sie prompt ausgeladen, die Kreml-treue Wochenzeitung Argumenty i Fakty bezeichnete sie als „schwache Frau“. 

Bis heute hat Netrebko gleichwohl nicht klar Stellung gegen den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bezogen. Der faustische Pakt, den sie mit dem Regime einging, ließ sie nicht mehr los. Die New Yorker Metropolitan Opera und die Berliner Staatsoper verlangten von ihr, sich öffentlich vom Angriffskrieg zu distanzieren. Doch der Forderung wollte sie nicht nachkommen, verklagte die Met sogar auf Schadensersatz. In der Folge luden europäische und amerikanische Opernhäuser sie aus und besetzten ihre Rolle neu.  

Proteste gegen Netrebkos Engagement an der Berliner Staatsoper im September 2023 / Foto © Imago/Frank Gaeth

Diese Entscheidungen wurden von einer heftigen öffentlichen Debatte begleitet, die bis heute andauert und die nicht nur Netrebko betrifft: Wie soll der Konzertbetrieb mit Künstlerinnen und Künstlern aus Russland umgehen, die er vor 2014 gefeiert hat? Die Diskussion bewegt sich zwischen zwei Polen: Auf dem einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die einen Boykott aller russischen Kulturschaffenden fordern; die Gegenseite setzt die Kunstfreiheit absolut. 

Im Zentrum dieser Debatte steht – auch in Deutschland – Anna Netrebko. Matthias Schulz, der Intendant der Staatsoper Unter den Linden begründete seinen Entschluss damit, dass Netrebko Russlands Krieg deutlich kritisiert habe. Man könne es als Zeichen sehen, dass Netrebko auf einer pro-ukrainischen Bühne wie der Staatsoper auftrete, weil sie dafür in Russland mit Konsequenzen rechnen müsse, sagte Schulz dem SWR2.5 Anlässlich eines Auftritts von Netrebko bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden verteidigte der damalige Intendant Uwe-Eric Laufenberg seine Entscheidung, die Sängerin nicht auszuladen: „Das gehört für mich aber auch zur Kunstfreiheit, dass man auch Kunst machen kann, indem man sich eben nicht politisch äußert. Das muss ja auch eine Art von Freiheit und von Möglichkeit sein“, sagte er zu Festivalbeginn.  

Im Berliner Fall stellten sich 38 Organisationen und etwa 100 Wissenschaftlerinnen (darunter der Autor dieser Gnose) und Prominente dieser fragwürdigen Entpolitisierung des Kunstschaffens entgegen. Sie verwiesen auf die herausragende kulturpolitische Bedeutung Netrebkos für die russische Propaganda und forderten die Leitung der Staatsoper auf, Netrebko auszuladen.6 Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und sein Kultursenator Joe Chialo kritisierten den Auftritt. Das Publikum der Berliner Aufführung allerdings ließ sich weder von politischen Bedenken noch durch den lautstarken Protest vor dem Operngebäude beeindrucken und bejubelte die Sopranistin. Für die Saison 2024/2025 kehrt Netrebko nach Berlin zurück – als Abigaille in Verdis Nabucco.  


1. Caute, David, The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy During the Cold War, Oxford 2003. 
2. https://www.classicalmusicnews.ru/news/anna-netrebko-stala-narodnoi-artistkoi-rossii/ 
3. https://www.youtube.com/watch?v=pFqEKpjw-ns 
4. https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/anna-netrebko-2022-wie-sie-sich-zu-putin-und-ukraine-verhaelt-100.html 
5. https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/kontroverse-um-anna-netrebko-intendant-staatsoper-berlin-matthias-schulz-netrebko-...
6. https://vitsche.org/news/offener-brief-keine-buhne-fur-putin-unterstutzerin-anna-netrebko/ 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose

Alla Pugatschowa

Schon seit den 1980er Jahren gilt sie als die Ikone des russischsprachigen Pop, als lebende Legende mit Millionen von Fans. Nun kritisiert sie öffentlich den russischen Krieg gegen die Ukraine. Ingo Grabowsky über „the Goddess of Russian Pop“, die 1987 mit Udo Lindenberg das Lied „Wozu sind Kriege da“ gesungen hat.

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)