„In einigen Jahren wird man Exkursionen hierher machen“, schreibt ein Rezensent bei Google-Maps und vergibt fünf Sterne für einen unscheinbaren Hinterhof inmitten riesiger Plattenbauten in einem gewöhnlichen Minsker Wohnviertel. Die Geschichte des Hofes in der Orschanskaja-Straße im Minsker Norden zeigt einmal mehr, dass sich der Protest in Belarus nicht nur bei den großen Demonstrationsmärschen und Streiks abspielt – und dass er viele kreative Gesichter hat.
Ulad Schwjadowitsch schildert in der belarussischen Traditionszeitung Nasha Niva seine Eindrücke aus dem legendären Hinterhof.
Die Geschichte vom Platz des Wandels beginnt am 18. August 2020: Ein unbekannter Künstler bemalte an diesem Tag das Trafohäuschen mit den Porträts von Ulad Sakalouski und Kiryl Halanau: Die DJs hatten [die Protesthymne von Viktor Zoi – dek] Peremen (dt. Wandel) bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung aufgelegt und dafür jeweils 10 Tage Arrest bekommen.
Graffitis haben gewöhnlich eine kurze Lebensdauer, erst recht, wenn es sich dabei um Malereien mit einer eindeutig politischen Aussage handelt. Es schien als würde ein solches Schicksal auch dieses Wandgemälde ereilen: Bereits am nächsten Tag wurde es in einem operativen Einsatz übermalt. Aber das war, wie sich herausstellte, erst der Anfang …
Der gewöhnliche Minsker Innenhof – umringt von Hochhäusern – ist innerhalb weniger Wochen zu einer echten Kultstätte avanciert: Die Anwohner sprühten das Konterfei der DJs Sakalouski und Halanou auf eine Wand, hängten eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern auf, schmückten den Zaun mit hunderten von bunten Bändchen und brachten am Trafohäuschen ein Schild an: Platz des Wandels.
Zum Platz des Wandels kommen jeden Tag Silowiki und Stadtmitarbeiter, sie entfernen die Fahnen, reißen die Bändchen ab und überstreichen das Wandgemälde. Doch die Anwohner lassen nicht locker: Sie waschen die Farbe von den Porträts der DJs, knüpfen neue Bändchen und hängen wieder Fahnen auf. Abends versammeln sich die Leute auf dem Platz, knüpfen Kontakte, tanzen, singen und treffen Freunde. Musiker und Schauspieler des Kupalauski-Theaters traten hier bereits auf, der Hof bekam seinen eigenen Instagram-Account und den Platz des Wandels kann man sogar bei Google-Maps und Yandex-Taxi finden.
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Am Abend des 9. Septembers ist es auf dem Platz des Wandels wie gewohnt belebt: Einige Dutzend Menschen haben sich im Hof versammelt. Tagsüber hatten Stadtmitarbeiter versucht, das Konterfei der DJs zu übermalen, doch die Anwohner haben es fast unverzüglich wiederhergestellt.
Nun prangen die DJs an der Wand, oben drüber die weiß-rot-weiße Flagge mit der Flagge von Minsk, Kinder laufen umher und Hunde ebenso. Die Erwachsenen warten auf das Konzert: Heute soll Smizer Waizjuschkewitsch in dem Kult-Innenhof auftreten.
„Das passiert hier quasi jeden Tag. Es begann um den 12. August herum. Die Menschen fingen an sich im Hof zu treffen, lernten sich kennen. Später tauchte das Wandgemälde auf, die Leute richteten eine gemeinsame Chatgruppe ein, nicht nur für Anwohner, sondern auch für Leute aus der Nachbarschaft“, erzählt eine Anwohnerin. „Mit der Zeit haben sich alle kennengelernt. Die Menschen fingen an, gemeinsam zu den Demonstrationen zu gehen, sich gegenseitig zu unterstützen, ganz nachbarschaftlich. Einige Anwohner haben sich über den Lärm beschwert. Wir haben darauf Rücksicht genommen und treffen uns seitdem nur noch bis 22 Uhr. Nun, es gab auch eine Babuschka, die die Bändchen abgeschnitten hat. Wir haben mit ihr gesprochen und diskutiert, dass sie ihre Meinung hat und wir eben eine andere, das ist ja nichts schlimmes. Sie hat versprochen, keine weiteren Sabotagen mehr durchzuführen. Das war’s, mehr Probleme gab es nicht.“
Die Bändchen sind am Zaun um den Spielplatz angebracht. Bis vor Kurzem hing noch eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern, doch die Silowiki haben sie bereits entfernt – und mussten dafür die Tür zum Dach aufsägen.
Statt der Fahne gibt es nun den Zaun, der komplett mit Bändern verziert ist: teils mit weiß-rot-weißen, teils mit roten und grünen Bändern. Auch die versucht man regelmäßig zu entfernen.
„Heute haben sie drei Arbeiter geschickt, dahinter noch vier mit Masken. Haben einen Teil der Bänder entfernt und sind dann einfach wieder gegangen. Vielleicht hat es was gebracht, dass die Anwohner kamen, ihnen ins Gewissen redeten, sodass es ihnen unangenehm wurde“, erzählen die Menschen.
Nun hängen die Anwohner die Bänder wieder auf. Gemeinsam mit ihren Kindern.
Sie sagen, dass das alles ohne jegliche Organisation abläuft. Für den Stoff der Bänder wird kein Geld gesammelt – die Leute bringen es von selbst, wie sie es für nötig halten. Um die Wiederherstellung der Wandbemalung kümmert sich wer gerade Zeit und Lust hat.
„Die große Fahne haben die Frauen genäht. Aber wir entschieden, sie vorerst nicht aufzuhängen, weil sie angefangen haben, unsere Hausgemeinschaften mit Strafen zu bedrängen. Insgesamt 18.000 Rubel [etwa 5.800 Euro – dek] für drei Häuser“, berichten die Anwohner.
Das Schild mit der Aufschrift Platz des Wandels haben die städtischen Bediensteten zwar ebenfalls entfernt, aber es besteht kein Zweifel, dass schon bald ein neues auftauchen wird.
Währenddessen kommen immer mehr Menschen auf den Platz. Kiryl und Darja warten mit ihren zwei Kindern auf das Konzert.
„Die Kinder fragen, was passiert, aber wir erzählen ihnen natürlich nicht alle Einzelheiten. Einmal kam mein Sohn, ein Zweitklässler, aus der Schule und sagte: ,Ein Mädchen aus unserer Klasse ist für Lukaschenko, krass oder?‘ Für ihn ist es komisch, dass es Menschen gibt, die für Lukaschenko sind. Wir sagen, dass er darüber nicht in der Schule sprechen soll, aber die Kinder kriegen ja eh alles mit. Vor allem, weil wir keine Omis und Opis hier haben, deswegen nehm ich den Kleinen mit zu den Demos. Dann bleiben wir nur bis 18 Uhr und stehen auch nur am Rand. Aber er hört ja da die Losungen wie ,Lukaschenko, ab in den awtosak‘, wobei ich ihm verbiete das nachzusagen. Ich erkläre, dass darüber nur Erwachsene diskutieren, die schon wählen dürfen“, sagt Darja. „Aber ich kann nicht nicht rausgehen. Ich finde, jeder muss seine Meinung kundtun.“
Einige Eltern sehen das anders.
„Ich sage meinem Sohn offen: Die weiß-rot-weiße Flagge ist unsere historische Flagge. Unsere jetzige Staatsflagge ist eine andere, die weiß-rot-weiße hat man uns 1994 genommen. Wir erklären, dass die Leute aufgebracht sind, weil sie bei der Wahl einfach betrogen wurden. Warum sollten wir nicht ehrlich mit ihm sein?“, sagt Wadsim, dessen Sohn noch in die Kita geht.
Es sind auch viele Menschen fortgeschrittenen Alters da.
„Mich stören diese Partys gar nicht, im Gegenteil. Ich höre diese Musik selbst seit 34 Jahren und gehe zu den Demos“, sagt einer der Anwohner stolz. Der Mann ist 56 Jahre alt und Ingenieur in einem Staatsbetrieb. Er sagt, dass er neulich für eine Nacht festgenommen wurde und man ihm auf der Arbeit mit Kündigung gedroht hat: „Dann haben sie es sich nochmal anders überlegt, unter der Bedingung, dass ich nicht nochmal geschnappt werde. Ich sagte: ,Ich versuche es, aber garantieren kann ich das nicht.’ Den Job würde ich ungern verlieren, aber wie soll man zuhause bleiben, wenn man sieht, wie sie 17-jährige Mädchen verhaften?“, fragt der Mann.
Jetzt beginnt der Auftritt von Waizjuschkewitsch, gleich mit [der Protesthymne – dek] Mury. Die Leute singen mit.
Noch ist es im Hof ruhig. Vor zwei Tagen, am 7. September, kamen OMON-Einheiten hierher, allerdings erst, als alles schon vorbei war. Dennoch haben sie zwei Menschen festgenommen.
„Ich wollte den Müll vom Spielplatz einsammeln, da kamen mehrere Fahrzeuge der Silowki angefahren und haben mich umzingelt, so dass ich nicht entkommen konnte. Sie haben mich mitgenommen und auch einen Nachbarn, der einfach nur auf dem Heimweg war“, berichtet Wasil, der auch Anwohner ist.
Er kam verhältnismäßig glimpflich davon: Sie brachten ihn und den Nachbarn zur Wache, am nächsten Tag hat man sie freigelassen.
„Ein Protokoll wegen Rowdytums wurde aufgesetzt, aber sie sagten, wenn die Miliz nicht innerhalb von 10 Tagen anruft, dann ist alles gut“, erinnert sich Wasil.
Wasil ist IT-Spezialist und arbeitet mit deutschen Geschäftspartnern. Er sagt, als diese von den Internet-Blockaden und den Festnahmen erfahren haben, hätten sie ihm zunächst eine Dienstreise nach Deutschland für ein bis zwei Monate angeboten, später dann einen kompletten Umzug.
„Noch will ich das nicht. Ich liebe dieses Land, ich möchte gerne hier leben. Hier ist es wunderbar, die Menschen sind wunderbar“, sagt Wasil: „Aber wenn sich nichts ändert, dann werde ich im schlimmsten Fall ausreisen. Ich habe einen kleinen Sohn und ich möchte, dass er in einem Land aufwächst, wo Menschen wertgeschätzt werden.“
Eine halbe Stunde nach dem Konzert fahren zwei Kleinbusse mit OMON-Einheiten in den Hof. Ein großer Linienbus steht außerdem etwas weiter entfernt. Die Leute verfallen in Panik, aber sie bleiben. Waizjuschkewitsch singt weiter, die Kinder rennen umher. Die Silowiki sitzen noch in ihren Fahrzeugen.
„Die OMON-Leute sind gekommen!“, warnt ein Zehnjähriger auf seinem Fahrrad die Anwesenden.
Lange warten die Silowiki nicht. Zum Lied Kupalinka, das die Menschen im Chor singen, besetzen die Figuren in Schwarz den Spielplatz. Der Gesang bricht mittendrin ab, die Leute rufen Waizjuschkewitsch „Danke!” zu. Einige verlassen den Spielplatz, andere werden dort blockiert.
Die Silowiki warnen über ihr Megafon über die „nicht genehmigte Veranstaltung“, worüber sich die Leute empören und entgegnen, dass sie hier wohnen.
„Ihr verängstigt unsere Kinder, haut ab!“, rufen die Frauen.
Die OMON-Leute lassen diejenigen passieren, die weggehen wollen. Zu Festnahmen kommt es nicht, aber die Menschen gehen noch nicht endgültig auseinander. Einige bleiben vor den Hauseingängen, andere kehren in ihre Wohnung zurück und schauen aus dem Fenster.
Währenddessen tauchen außer den Menschen in Schwarz noch weitere Silowiki in grüner Uniform auf. Sie umzingeln das Trafohäuschen, jemand übermalt das Konterfei der DJs schnell mit schwarzer Farbe.
„Schande!“, brüllen ihnen die Menschen entgegen. Darauf empören sich die OMON-Leute demonstrativ untereinander, nach dem Motto: Die schleppen ihre Kinder um diese Uhrzeit nach draußen und beschweren sich dann auch noch – was wollen die eigentlich?
Die Anwohner rufen immer wieder: „Das ist unser Hof!“ und „Es lebe Belarus!“, doch die Silowiki bewegen sich nicht vom Fleck, solange, bis das Wandgemälde endlich zerstört ist. Danach gehen die Menschen in Schwarz, es bleibt noch ein Dutzend Silowiki in Miliz-Uniformen ohne Erkennungszeichen und in grünen Uniformen. Die Anwohner bitten sie, sich vorzustellen oder auszuweisen, aber die Uniformierten reagieren nicht.
Nach und nach kehren einige Dutzend Anwohner auf den Platz zurück. Einige versuchen, mit den Silowiki ins Gespräch zu kommen. Die antworten: Unterhaltet euch untereinander. Einer der Männer holt eine Bibel hervor und fängt an, den Silowiki aus der Offenbarung des Johannes vorzulesen. Ein Silowik mit GoPro-Kamera auf dem Kopf filmt den Vorleser mit seinem Handy.
„Und ich sah: Als es das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut“, liest der Mann vor.
Nebenan schaukeln die Kinder, die Anwohner bieten sich gegenseitig Tee und Kaffee an. Die Hunde beschnuppern sich. Vor ihnen stehen die Silowiki auf dem Spielplatz. Die Luft riecht nach der Farbe, mit der das Wandgemälde überstrichen wurde.
Wenn das Ausmaß des Protests abnimmt in diesen Tagen, dann nimmt das Ausmaß der Absurdität offensichtlich zu.
Anschließend bringen die Silowiki ein paar Kerle, deren Gesichter müde vom Alkohol wirken, angebliche Arbeiter in Zivil. Die Arbeiter bringen eine Leiter, ein Tichar klettert auf das Dach des Trafohäuschens und werkelt lange, um die weiß-rot-weiße Fahne zu entfernen. Schließlich ist die Mission erfüllt: Sie haben die Nationalflagge entfernt und sogar die Flagge von Minsk.
Der Platz leert sich. Die Anwohner gehen nach Hause und sagen einander: „Bis morgen!“ und „Danke, Nachbarn! Schlaft gut!“.
Auch die Silowiki gehen. Wo eben noch die Kinder spielten, ist nun nun Leere, wo die Menschen sangen, ist nun Stille. Und anstelle der DJs sind da zwei Silowiki mit Maske, die dort abgestellt sind, bis die stinkende Farbe getrocknet ist.
Einmal mehr haben die heldenhaften Silowiki den inkompetenten tschechischen Puppenspielern einen Nasenstüber verpasst.