Aufrecht sitzend und mit verschränkten Armen schaut sie in die Kamera oder zu den vor Pulten stehenden Diskutanten, der Blick stets changierend zwischen herausfordernd und desinteressiert: Margarita Simonjan tritt regelmäßig in politischen TV-Talkshows auf – und ist eine der wenigen Frauen in der von Männern dominierten russischen Fernsehwelt. Häufig erhält sie als Erste das Wort, von den ständigen Unterbrechungen des Moderators oder der anderen Gäste lässt sie sich nicht beirren. Anders als ihre männlichen Kollegen schreit und schimpft sie nicht lautstark, sondern bleibt ruhig und analytisch. Gleichzeitig ist das, was Simonjan sagt, oftmals zynisch, aggressiv und menschenverachtend. So schlug sie im Herbst 2023 in ihrer eigenen Sendung „Was zu beweisen war“ vor, eine Atombombe „irgendwo über Sibirien” zu zünden – zur Abschreckung des Westens.1 Und bei nächster Gelegenheit behauptet sie wieder: „Ich glaube an Gott. Ich könnte mich niemals auf die Seite von Ungerechtigkeit und Grausamkeit stellen.”2
Für besondere Verdienste um das Vaterland: Wladimir Putin zeichnet seine Chef-Propagandistin mit dem Alexander-Newski-Orden aus / Foto © IMAGO / ITAR-TASS
Ihre Position ändert Simonjan je nach Bedarf – mal zeigt sie sich als brutale Hardlinerin, die die Bombardierung der ukrainischen Infrastruktur unterstützt, mal gibt sie sich als Verteidigerin der Menschenrechte und behauptet, sie sei gegen Gewalt und empfinde Mitleid mit den Zivilisten in der Ukraine.3 Dann wiederum tritt sie als Patriotin und Nationalistin auf und dankt den russischen Soldaten, die ihr Leben an der Front lassen.4 Simonjans Loyalität folgt keiner persönlichen Moral: Nach eigener Aussage gelten all ihre Tätigkeiten nur dem Dienst an ihrer Heimat.
Vom Blumenmarkt in den Kreml
Margarita Simonjan, geboren 1980, war 25 Jahre jung, als sie im April 2005 den Chefposten beim neu gegründeten Auslandssender Russia Today übernahm. Dabei deutete zunächst nichts darauf hin, dass aus dem Kind einer armenischen Familie aus Krasnodar einmal die mächtigste Propagandistin der russischen Staatsmedien werden sollte: Ihr Vater verdiente sein Geld mit der Reparatur von Kühlschränken, die Mutter verkaufte Blumen auf dem Markt. Die junge Margarita besuchte die beste Schule der Stadt und begann früh, Gedichte zu schreiben. Als Zehntklässlerin ging sie 1995 im Rahmen des Austauschprogramms Future Leaders Exchange für ein Jahr in die USA und wohnte bei einer amerikanischen Familie. Diese wollte Margarita adoptieren, doch sie lehnte ab – angeblich, weil sie in Russland bleiben wollte.5 Im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Max Seddon sagte sie elf Jahre später, sie habe sich desillusioniert gefühlt von ihren Erlebnissen in den Staaten: „Aus irgendeinem Grund glauben wir in Russland, ein ganzes Land sei anders, als es eigentlich ist. Ich hatte angefangen mich zu fühlen, als wären wir angelogen worden”. Diese Erkenntnis habe sie dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie Medien die Wahrnehmung beeinflussen.6
Zurück in Krasnodar schloss Simonjan 1997 als Klassenbeste die Schule ab. Anschließend besuchte sie die Meisterschule für Fernsehen des bekannten russisch-amerikanischen Journalisten Wladimir Posner sowie die Fernsehschule Internews der 2022 verstorbenen Manana Aslamazjan, die von der Moscow Times als „Patin des russischen Fernsehens” bezeichnet wurde. Danach studierte Simonjan Journalismus an der staatlichen Universität des Kubangebiets. Bereits während des Studiums stand sie für den lokalen Fernseh- und Radiosender Krasnodar vor der Kamera. Mit nur 19 Jahren berichtete Simonjan für Krasnodar als Korrespondentin im Zweiten Tschetschenienkrieg. Ein beruflicher Erfolg folgte dem anderen: Zuerst stieg sie zur Chefredakteurin von Krasnodar auf, dann wechselte sie als Berichterstatterin zur allrussischen staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK in Rostow am Don. 2002 zog Simonjan nach Moskau und begann, als Sonderkorrespondentin des Nachrichtenprogramms Westi zu arbeiten. In dieser Funktion wurde sie in den Pressepool des Kreml aufgenommen.
Eine Geiselnahme als Karriereanschub
Ein Schlüsselmoment in Margarita Simonjans Karriere aber war der 1. September 2004. Am ersten Tag des neuen Schuljahres nahmen tschetschenische Terroristen in einer Schule im nord-ossetischen Beslan mehr als 1100 Kinder und Erwachsene als Geiseln. Sie forderten einen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Simonjan war eine der ersten Journalistinnen vor Ort und wusste von der großen Zahl der Geiseln. Trotzdem wiederholte sie über drei Tage die Zahl von lediglich 354 Gefangenen, die Putins damaliger Pressesprecher Alexej Gromow und dessen damaliger Stellvertreter Dimitri Peskow vorgegeben hatten. Dass die Terroristen von der Regierung verlangten, ihre Soldaten aus Tschetschenien abzuziehen, verschwieg sie.
Am dritten Tag der Geiselnahme ließ der Kreml die Schule stürmen. Mehr als 300 Menschen wurden getötet, die genaue Anzahl der Opfer ist bis heute unklar. Menschenrechtsvertreter und Angehörige der Opfer beklagen: Wäre bekannt gewesen, dass die Geiselnehmer mehr als 1000 Kinder und Eltern in ihrer Gewalt hatten, hätte der Kreml sich schwergetan, den Sturm der Schule vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Jahre später räumte Simonjan selbst ein, dass sie in Beslan Desinformation betrieben hatte: „Vielleicht wollten sich diejenigen, die die offizielle Version bestätigten, selbst davon überzeugen, dass es nur 354 Geiseln gab... In Zeiten wie diesen braucht die Gesellschaft die Wahrheit”.7
In Putins Präsidialverwaltung aber war die junge Frau positiv aufgefallen, die zwei nützliche Eigenschaften in sich vereinte: Talent und absolute Loyalität. Ein Jahr nach der Tragödie verlieh ihr das russische Verteidigungsministerium für ihre Berichterstattung in Beslan die Medaille für die „Stärkung der Kampfgemeinschaft“.
Als Alexej Gromow ein Jahr nach der Geiselnahme von Beslan den Auslandssender Russia Today (heute RT) gründete, machte er Margarita Simonjan zur Chefredakteurin. 2013 erhielt sie zusätzlich den Posten als Chefredakteurin der neu geschaffenen staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja.
Keine Lüge zu groß
Seit ihrem Aufstieg zu einem der wichtigsten Propagandasprachrohre des Kreml steht auf Simonjans Schreibtisch ein Telefon mit direkter Verbindung in den Kreml.8 Dass ihr Einfluss mit ihrer Loyalität zum Staatsapparat und ihren Kontakten zu wichtigen Personen verflochten ist, weiß sie. Und sie lässt keinen Zweifel daran, für wen sie arbeitet: Obwohl sie de facto an der Spitze ihrer Organisation steht, bezeichnet sie Wladimir Putin als ihren Natschalnik (dt. Kommandeur). „Früher war er einfach nur unser Präsident und man konnte ihn austauschen. Jetzt ist er unser Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er ausgetauscht wird. Das habt ihr (der Westen – dek) mit euren eigenen Händen erwirkt”, schrieb Simonjan 2018 in einem Tweet – und benutzt mit Woschd (dt. Führer) einen Begriff, der bis dahin Stalin vorbehalten war.9 Während eines Talkshowauftritts beschrieb sie Putin zudem als „unwiderstehlich“ und „animierend”.10
RT produziert nicht nur am Fließband verzerrende oder falsche Meldungen über den verkommenen Westen, sondern auch gern erfundene Geschichten über Putins angebliche Popularität im Ausland. Berühmt wurde die Geschichte über ein New Yorker Burger-Restaurant, das angeblich aus Anlass von Wladimir Putins Geburtstag einen „Putin-Burger“ kreiert habe. Tatsächlich hatte der Reporter selbst den Burger in Auftrag gegeben.11 RT spielt eine Schlüsselrolle dabei, Moskaus Verantwortung für Verbrechen auf internationaler Ebene abzustreiten und Verwirrung zu stiften: Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Interview, das Simonjan nach der Vergiftung des britischen Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter 2018 mit den zwei Hauptverdächtigen führte. Unhinterfragt konnten die beiden erzählen, sie seien lediglich als Touristen nach Salisbury gereist, um sich die schöne Kathedrale anzusehen.12
Tigran Keosajan und Margarita Simonjan bei einer Premiere im Oktober 2024 in Moskau. Die Filme, die das Paar zusammen produziert, fallen regelmäßig beim Publikum durch, werden vom Staat aber üppig gefördert / Foto © IMAGO / Russian Look
Neben ihrer Tätigkeit als Senderchefin schreibt Margarita Simonjan Bücher und fungiert als künstlerische Leiterin der Comedy-Talkshow Meschdunarodnaja Pilorama (dt. Internationales Sägewerk) ihres Ehemannes Tigran Keosajan. Simonjan hatte eine offizielle Ehe zuvor stets abgelehnt, im März 2022 jedoch beschlossen, mit der Hochzeit angeblich die gegen sie und ihren Mann verhängten Sanktionen zu feiern.13 Meschdunarodnaja Pilorama läuft zur Hauptsendezeit auf dem Sender NTW und ist bekannt für seine rassistischen und chauvinistischen Witze. Pro Folge bezahlt der aus staatlichen Geldern finanzierte Kanal NTW 3,4 Millionen Rubel, davon sind 370.000 Rubel Produktionskosten – der Rest wandert in die Taschen des Ehepaars Simonjan-Keosajan. Zusätzlich haben die beiden einen exklusiven Werbevertrag mit der staatlichen russischen Fluggesellschaft Aeroflot, der ihnen laut Recherchen der Stiftung zur Korruptionsbekämpfung (FBK) bereits über eine Milliarde Rubel eingebracht hat.14
Erfolg beim Publikum ist keine Voraussetzung dafür, dass das Duo Simonjan und Keosajan aus der Staatskasse reich belohnt wird. 2018 drehten sie gemeinsam den propagandistischen Spielfilm Krymskij Most. Sdjelano s ljubowju (dt. Die Krimbrücke. Mit Liebe gemacht), der sowohl bei Kritikern als auch Zuschauern floppte. Dem FBK zufolge gingen 46 Millionen Rubel und somit mehr als 30 Prozent der Gesamtkosten des überwiegend aus staatlichem Budget finanzierten Films auf die Konten des Ehepaars und weiterer Familienmitglieder.15 Derartige Summen ermöglichen der Mutter dreier Kinder ein luxuriöses Leben. In Interviews gibt sie sich jedoch volksnah und großzügig und behauptet, ihr Gehalt für Wohltätigkeitszwecke zu spenden.16
Auch den Erfolg ihres Senders RT – der auf YouTube mit über drei Milliarden Views vor seiner Löschung zu den meistgeklickten Nachrichtenkanälen gehörte – sichert sie mit dubiosen Tricks: Der FBK fand heraus, dass RT die Aufrufe seiner Videos künstlich in die Höhe getrieben und Kommentare an Internetbörsen gekauft hat.17 Über die Finanzierung ihres Senders muss sich Simonjan allerdings keine Gedanken machen: In den vergangenen Jahren hat der Kreml das Budget für den Desinformationskanal kontinuierlich erhöht – 2022 erhielt der Sender ein Budget von fast 30 Milliarden Rubel, umgerechnet etwa 284 Millionen Euro.18
„Wir haben uns eingemischt. Wir mischen uns ein. Wir werden uns einmischen“
Dass die russische Regierung so viel Geld in RT steckt, zeigt, welch hohen Stellenwert der Kanal als Propagandamaschine einnimmt. Das leugnet auch Simonjan nicht, die RT als Informationswaffe und somit als Instrument der staatlichen Verteidigungspolitik sieht.19 In der Anfangsphase bemühte sich der Kanal um ein professionelles Auftreten. Man wollte sich als ernstzunehmende Ergänzung zu etablierten Sendern präsentieren und stellte bekannte US-amerikanische und britische Moderatoren ein. Als Gäste in Talkshows waren besonders Personen gefragt, die aus dem Westen kommen und dort polarisieren: der WikiLeaks-Gründer Julian Assange etwa oder der Brexit-Politiker Nigel Farage.
Ging Russia Today bei seiner Gründung 2005 noch vorgeblich mit dem Ziel an den Start, ein positives Russlandbild im Ausland zu vermitteln, änderte sich das seit dem Russland-Georgien-Krieg 2008. Gemäß dem Motto „Question more“ ging es nun darum, die Berichterstattung westlicher Medien in Zweifel zu ziehen und Akteuren mit anti-westlicher Agenda eine Plattform zu bieten.
Margarita Simonjan selbst hat immer wieder öffentlich ihre persönliche Abneigung gegen den Westen betont. So habe ihr das Austauschjahr als Schülerin in den USA gezeigt, dass es im „patriarchalen, konservativen und polizeistaatlichen Amerika“ viel weniger Freiheit als im Krasnodar des Jahres 1995 gegeben habe.
2008 wurde der Sender in RT umbenannt. Er trägt jetzt Russland nicht mehr offen im Namen.20 Die Inhalte drehen sich ohnehin nur selten um Ereignisse im eigenen Land, meistens geht es stattdessen um Fehler und Versagen des Westens. Mehrere Tochtergesellschaften verbreiten RT-Produktionen, ohne für die Nutzer erkennbar mit dem Sender in Verbindung zu stehen.21 Dazu gehörte die Social Media-Agentur In The Now, die mit ihrer Mischung aus Politik und komisch-emotionalen Kurzvideos auf Facebook über 5,6 Millionen Follower gesammelt hat.
Simonjan kokettiert offen mit ihrer Rolle als Speerspitze russischer Desinformation. Zum Beginn des Superwahljahrs 2024 veröffentlichte RT ein mit KI erstelltes Video, in dem der amerikanische Präsident Joe Biden als Ded na povodke (dt. Opi an der Leine) den russischen Propagandasong Ja Russki (dt. Ich bin ein Russe) im Oval Office singt und dabei von russischen Wissenschaftlern gesteuert wird. Anmoderiert wird die Szene von Margarita Simonjan selbst. Der Clip schließt mit den Worten: „Wir haben uns eingemischt. Wir mischen uns ein. Wir werden uns einmischen.“22
Seit Beginn des Angriffskriegs ist RT aufgrund seiner offensiven Propaganda in zahlreichen Ländern und auf vielen Plattformen verboten. Der Sender verbreitet seine Videos und Inhalte in den sozialen Netzwerken und auf YouTube deshalb unter anderem Namen.23 Wie das funktioniert? Margarita Simonjan erklärt’s: „Manchmal wachst du morgens auf und sie haben schon 600 unserer Kanäle geschlossen. Aber während sie noch dabei sind diese zu schließen, haben wir schon längst wieder neue aufgemacht.“24