Mitte November hat Putin die russische Atomdoktrin verschärft, wenige Tage später hat Russland eine Mittelstreckenrakete gegen die ukrainische Großstadt Dnipro eingesetzt. Dies ist der vorläufige Schlusspunkt der nuklearen Eskalation, die Russland seit der Krim-Annexion 2014 vorantreibt. Schon 2016 bemerkte der russische Journalist Andrej Loschak, dass „kaum eine Ausgabe der Nachrichten heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands auskommt.“ Mit der Vollinvasion 2022 hat sich die Gangart nochmals verschärft, auch der Kreml droht seitdem zunehmend mit dem Einsatz des Atomkoffers: Der Westen solle bloß die „roten Linien“ nicht überschreiten.
Viele dieser Kreml-Linien wurden seitdem aber schon mehrfach überschritten: So hat die ukrainische Armee westliche Waffensysteme gegen Gebiete eingesetzt, die Russland als eigene beansprucht. Konsequenzen blieben aus, was mit dem inflationären Gebrauch von Drohungen zu einer „Immunität“ gegenüber der atomaren Abschreckung geführt hat, so eine Quelle von The Washington Post.
Vor diesem Hintergrund gibt es nun auch im Westen zahlreiche ernstzunehmende Stimmen, die vor weiterer Eskalation warnen. Eine atomare Apokalypse halten zwar auch sie für derzeit unwahrscheinlich, der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine rücke durch die neue Wendung aber näher, so das Szenario. Der russische Journalist Michael Nacke hält davon nichts, auf YouTube argumentiert er Punkt für Punkt dagegen.
Graffiti mit Putin und Atompilz, 06.04.2024, Mitte, Berlin © IMAGO / Steinach
Der Krieg dauert bald drei Jahre, und Russland hat keines seiner proklamierten Ziele erreicht. Dabei waren das nicht wenige Ziele, sie wechselten nur ständig: vom Sturz der Regierung in Kyjiw über die Errichtung eines loyalen Regimes bis hin zur Besetzung der gesamten Oblast Donezk. Russland hat vier ukrainische Oblaste zu seinem Eigentum erklärt: Cherson, Donezk, Luhansk und Saporishshja. Dabei hat es zu keinem Zeitpunkt auch nur eine dieser Regionen komplett kontrolliert.
Im Verlauf dieses Krieges wurde Wladimir Putin mehr als einmal gedemütigt. Die russische Armee galt einst als eine der stärksten der Welt, auch unter vielen westlichen Beobachtern und renommierten Medien. Aber mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine veränderte sich diese Sicht: Seitdem wurde die Professionalität der russischen Armee immer öfter in Zweifel gezogen.
Also hat Putin mehrmals zu nuklearen Drohgebärden gegriffen und damit unter anderem die US-Regierung unter Joe Biden unter Druck gesetzt. Putin bediente sich dabei verschiedener Methoden, beispielsweise ließ er Atomwaffen nach Belarus verlagern, und immer wieder behauptete er, ein Atomschlag stünde kurz bevor. Leider ist Biden auf diese Bluffs hereingefallen.
Zwei Faktoren für die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlags
Ich möchte behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Angriffs von genau zwei Faktoren abhängt, die eng zusammengehören: den Vorteilen, die Russland sich davon versprechen kann, und den Nachteilen, die es davontragen könnte. Alles andere spielt meiner Ansicht nach keine Rolle.
Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung.
Derzeit hört man oft das Argument, Russland hätte seine Nukleardoktrin geändert und behalte sich von nun an das Recht vor, im Rahmen eines Präventivschlags Atomwaffen einzusetzen, wenn sein Territorium von einem Staat angegriffen wird, der mit einer Atommacht zusammenarbeitet. Dabei erlaubte bereits die alte Nukleardoktrin den Einsatz von Atomwaffen, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht wurde. Es bleibt also dabei, dass es lediglich darauf ankommt, was man als Bedrohung deklariert.
Aus formaler Sicht hat sich also nichts geändert. Aber selbst wenn es formale Beschränkungen gäbe, wären sie völlig bedeutungslos. Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung. Putin wird tun, was er will, unabhängig davon, was und wo etwas geschrieben steht. Es ergibt daher grundsätzlich keinen Sinn, Doktrinen, neue Gesetze oder ähnliches zu analysieren.
Rationaler Irrer mit Falschinformationen
Wenn sich aus formaler Sicht nichts geändert hat, so hat es doch wohl Veränderungen bei Handlungen gegeben? Der jüngste Angriff mit einer Interkontinentalrakete auf die Ukraine zeigt doch: „Schaut alle her, was wir können. Wir können eine Rakete abfeuern, die potenziell einen nuklearen Sprengsatz tragen könnte.“ Aber ist das etwa neu? Wussten wir noch nicht, dass Russland Raketen besitzt, die nukleare Sprengsätze tragen können? Russland ist nicht Nordkorea, daran hat niemand gezweifelt. Es ist bloß eine weitere russische Rakete – grausam genug, aber nichts, was uns wirklich einer nuklearen Eskalation näherbringt.
Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!
Warum denke ich, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Putin im Moment ausgeschlossen ist? Weil ihm das keinerlei Vorteile bringen würde. An dieser Stelle hört man oft das Argument, Putin sei ein Wahnsinniger, der in die Enge getrieben wurde, und so weiter. Erstens stimmt das nicht; alle möglichen internationalen Medien, politischen Autoritäten und andere Persönlichkeiten schätzen Putins momentane Position besser ein als beispielsweise im Herbst 2022: Es gibt keine neue Mobilisierungswelle, die ukrainischen Truppen stecken in der Verteidigung fest und verlieren sogar Gebiete. Ja, in der Oblast Kursk kommt Russland nicht weiter, aber die Ukraine ebenfalls nicht.
Insgesamt steht Putin besser da als damals, als seine Soldaten aus der Oblast Charkiw geflohen sind und so viel Technik zurückgelassen haben, dass Russland zahlenmäßig kurz zum zweitgrößten Waffenlieferant der Ukraine aufstieg. Im Herbst 2022 hat sich Putin buchstäblich ein halbes Jahr lang versteckt, er sparte das Thema Krieg aus, sagte Presskonferenzen und den Direkten Draht ab. Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!
Das zweite Argument, er sei wahnsinnig und ein blinder Fanatiker, dem alles zuzutrauen ist, halte ich ebenfalls für einen großen Irrtum. Meines Erachtens handelt Putin durchaus rational. Man wird mir widersprechen, sagen, er zerstöre gerade Russlands Vergangenheit und Zukunft, und es ist wirklich schwer vorstellbar, wie man das alles stoppen und wiederaufbauen soll. Natürlich zerstört er jetzt in diesem Moment auch Russlands Gegenwart, von der Wirtschaft bis hin zum physischen Verlust von etwa 200.000 Menschenleben und 400-500.000 Verwundeten.
Und trotzdem ist Putin nicht wahnsinnig. Er ist allenfalls größenwahnsinnig. Er lässt sich von völlig anderen Werten leiten. Er hat Komplexe, er will, dass man ihn respektiert und fürchtet. Er will Macht, und er will sie behalten und mehren. Deshalb handelt er aus seiner Position rational: Er wählt den schnellsten Weg von A nach B. Die Sache ist allerdings, dass er wie jeder andere totalitäre Leader ein großes Problem mit den Informationen hat, die ihm zugetragen werden: Putin verfügt nicht über ausreichend objektive Daten, weil er ein System um sich herum aufgebaut hat, in dem jeder, der schlechte Nachrichten bringt, sofort einen Kopf kürzer gemacht wird.
Genau aus diesem Grund hat er 2022 versucht, mit 180.000 Mann in die Ukraine einzumarschieren, Kyjiw einzunehmen und die Macht im Land an sich zu reißen. Damals haben ihm Medwetschuk und die Agenten des FSB weisgemacht, in der Ukraine stehe alles bereit, die russischen Soldaten würden mit Blumen erwartet und so weiter. Mit dieser Information und seinen Ambitionen ausgestattet, zählte Putin eins und eins zusammen und zog los. Der Westen ist schwach, dachte er sich, und die Ukraine wartet nur darauf, sich uns zu unterwerfen. Also marschieren wir kurz ein und fertig. Aus seiner Sicht war auch das keineswegs irrational. Es war eiskalte Berechnung, die allerdings von falschen Voraussetzungen ausging.
Vorteile? Nichts als Nachteile!
Kommen wir also zu den Vor- und Nachteilen eines Atomschlags. Stellen wir uns vor, morgen wirft Putin eine Atombombe über, sagen wir, einem Stützpunkt der ukrainischen Armee ab. Würde das die ukrainische Armee vernichten? Nein. Würde das die Ukraine so sehr schwächen, dass sie kapitulieren würde? Nein. Im Gegenteil: Die Ukrainer würden noch enger gegen den Feind zusammenrücken: Uneinigkeit tritt gerade dann auf, wenn die Bedrohung abzuebben scheint. Wenn sie jedoch ein Ausmaß erreicht, wie es 2022 der Fall war, als russische Truppen buchstäblich vor den Toren Kyjiws standen, wenn die Bedrohung also offensichtlich wird, steht die Ukraine zusammen, genau wie die westliche Welt. Wenn die Bedrohung nicht mehr ganz so akut ist, wenn zum Beispiel lange Zeit nicht mehr geschossen wurde, dann fängt das Gerede an: „Was soll das alles? Ist doch alles in Ordnung, wir leben doch“ und so weiter. Daher wird ein Atomschlag auf einzelne Einheiten nicht das gewünschte Ergebnis bringen.
Wir müssen aber auch einen Atomangriff auf Städte in Betracht ziehen. Selbst das würde Putin jedoch nicht plötzlich zum Sieg verhelfen. Die Geschichte der Menschheit kennt bisher zwei Beispiele hierfür, nämlich die Bomben auf Nagasaki und Hiroschima. Dennoch sind sich viele Experten einig, dass Japans Kapitulation keine direkte Folge dieser Schläge war. Als die Bomben fielen, war die japanische Armee bereits zerschlagen, und Japan nicht im Stande, den Krieg noch lange fortzuführen. Das kann man von der Ukraine nicht behaupten.
Ja, die Russen machen Landgewinne in Kurachowe, Pokrowsk, Donezk, Tschassiw Jar. Aber diese Gewinne gehen erstens mit gigantischen Verlusten einher, zweitens hat Russland nicht einmal in den vier Oblasten, die jetzt in die russische Verfassung eingeschrieben sind, eine Großstadt einnehmen können. Im Gegenteil, Russland kontrolliert weniger Großstädte als zu Beginn der großangelegten Invasion. Cherson, die einzige Metropole, die die Russen erobern konnten, haben sie wieder verloren. Es kann also keine Rede davon sein, dass die ukrainische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht. Ein Atomschlag auf ein dichtbesiedeltes Gebiet mit einer gigantischen Zahl von zivilen Opfern löst aus dieser Sicht also weder das Problem, noch bringt es Putin auch nur einem seiner gesetzten Ziele näher.
Was wäre, wenn?
Welche Probleme würden sich andererseits für Putin ergeben? Wir dürfen nicht vergessen: Für ihn ist die Unterstützung seiner Verbündeten entscheidend. Wenn das 2020 nicht so sehr ins Gewicht gefallen ist, sieht das jetzt, 2024, ganz anders aus. Wenn russische Medien unken, die Ukraine sei abhängig von westlichen Waffen, wirkt das lächerlich, denn Russland hängt selbst zu 70 Prozent von ausländischer Artilleriemunition ab: 60 Prozent kommen aus Nordkorea, zehn Prozent aus dem Iran. Zudem ist Russland, um seine Raketen zu produzieren, auf westliche Komponenten angewiesen, die es an den Sanktionen vorbei illegal einkauft. Und jetzt lässt Russland auch noch Nordkoreaner für sich kämpfen. Damit ist Putin von seinen Partnern nicht weniger abhängig als die Ukraine von ihren.
Viele von Putins Verbündeten, nicht zuletzt Handelspartner wie Indien, sind entschieden gegen den Einsatz von Atomwaffen. Und das ist ja auch klar, denn ein Präzedenzfall von welcher Seite auch immer wäre wie ein grünes Licht. Indien bereitet zum Beispiel Pakistan große Probleme. China ist ebenfalls grundsätzlich gegen jeden Einsatz von Atomwaffen, weil es die nukleare Abschreckung an sich außer Kraft setzt und ein Go für die Entwicklung von Atomwaffen und nukleare Aufrüstung bedeuten würde. Kein Land will das. Deshalb tritt China als Russlands Beschwichtiger auf: Als Russland sagte, es sei kurz davor, den Knopf zu drücken, da sagte China „stop“. Indiens Premier Modi sagte sogar ein Treffen ab, als Putin wieder mal öffentlich mit Atomwaffen drohte. Sollte Putin ernst machen, würden sich die allermeisten Partner von Russland abwenden, was wiederum Russland von Einnahmequellen und Produktionsmöglichkeiten abschneiden würde. Dabei ist der Import aus China für Russland ein lebenswichtiger Faktor. In diesem Sinne würde Russland mehr verlieren, als es gewinnen könnte.
Und dann sind da noch die Atommächte im Westen. Mit einem nuklearen Schlag würde Putin sich selbst zur Hauptzielscheibe machen. Viele westliche Politiker sowie der Großteil der Bevölkerung betrachten den Krieg heute immer noch als einen lokalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Deshalb hat er für viele nicht oberste Priorität – siehe zum Beispiel Donald Trump. Sollte Putin seine Drohungen allerdings wahrmachen, wäre Russland damit sofort Feind und Bedrohung Nr. 1, denn Putin verfügt über Raketen, die jeden europäischen Staat und jede beliebige Stadt in den USA erreichen können. Wenn die NATO in den Krieg eintritt, würde Russland umgehend am eigenen Leib erfahren, was es wirklich bedeutet zu kämpfen.
Die Risiken, die der Einsatz von Atomwaffen birgt, sind also ungleich höher als die potenziellen Vorteile. Das beantwortet auch die Frage, warum Putin diesen Schritt noch nicht gegangen ist.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Putin ...
Zum Abschluss noch ein einfaches Gedankenexperiment. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Wladimir Putin. Ja, ich weiß, das tut weh, aber dennoch. Sie haben also einen roten Knopf, und Sie glauben aufrichtig, dass ein Knopfdruck genügt, um den Krieg zu gewinnen. Die Ukraine kapituliert, der Westen stellt sofort seine Unterstützung ein und Sie gehen als Sieger aus dem Ganzen hervor. Achtung, Frage: Warum haben Sie ihn immer noch nicht gedrückt? Es ist doch ein Zauberknopf, der alle Probleme auf einen Schlag lösen könnte? Sie müssten sich nicht mit Mobilisierung unbeliebt machen, die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben. Sie müssten keine personellen Engpässe ertragen, weil ein Teil der Bürger, der gerade am meisten in der Wirtschaft gebraucht würde, an der Front oder im Grab ist, und ein anderer großer Teil auf dem Weg dorthin.
Warum haben Sie den Knopf immer noch nicht gedrückt? Vielleicht, weil Sie nicht an seine magischen Kräfte glauben? Könnte es sein, dass sich Putin all dieser Risiken, die ich beschrieben habe, bewusst ist? Das ist der Punkt: Putin macht bloß einen auf dicke Hose und schafft es damit, dem Westen immer wieder Angst einzujagen.
Thema Trump
Und zum Thema Trump: Die Ukraine vor dessen Inauguration mit Atomwaffen anzugreifen, wäre völlig absurd. Trump sagt offen, dass er mit Putin reden will. Und Putin scheint nichts dagegen zu haben, wie verschiedene Quellen nahelegen. Die Situation durch einen Nuklearschlag zu eskalieren, kurz bevor Trump den Krieg beenden oder zumindest einfrieren will, käme einem Komplettausfall gleich. Zumindest würde Trump sich sehr genau überlegen, ob er die Situation nicht doch falsch einschätzt und er Putin nicht lieber mit Gewalt zum Frieden zwingt, als Gespräche mit ihm zu führen. Deshalb glaube ich, die Möglichkeit eines nuklearen Angriffs ist [mit Trumps Wiederwahl – dek] nicht gestiegen, sondern gesunken. Putin weiß, dass bald eine Regierung im Weißen Haus sitzen wird, die mit sich reden lässt, und ein Atomschlag seine Gesprächsposition beträchtlich schwächen würde.
Die nukleare Holzkeule über Sibirien
Diese Argumente sind kein Versuch, jemanden zu beruhigen: Wie auch immer Sie die atomare Bedrohung einschätzen, so wird sie für Sie bleiben. Ich bestehe nur darauf, dass sich der Grad der Bedrohung nicht verändert hat. Wenn Sie glauben, die Chance ist gleich Null, dann bleibt sie das auch. Wenn Sie von einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgegangen sind, dann ist sie immer noch da. Ich sage nur, es ist nichts geschehen, was das Risiko eines Atomkriegs erhöht hätte. Mehr noch – das kann es gar nicht, weil sich das Saldo der Vor- und Nachteile nicht verändert hat.
Ich denke, es könnte in diesem Krieg noch zu weiteren Versuchen kommen, den nuklearen Holzknüppel zu schwingen, zum Beispiel in Form von Atomtests in Russland selbst. Ich hoffe natürlich nicht, dass Simonjans Forderung, „eine Atombombe auf Sibirien zu schmeißen“, in die Tat umgesetzt wird, wofür auch immer sie Sibirien damit bestrafen wollte. Dass es zu Atomtests kommt, ist meines Erachtens aber nicht unwahrscheinlich, denn allzu viele Mittel stehen Wladimir Putin nicht mehr zur Verfügung, um die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen.