„Wir töten die Natur und arbeiten bei Rosprirodnadsor.“ Mit diesen Worten hat ein Mitarbeiter von Russlands zentraler Umweltbehörde im Mai 2020 seinen Arbeitgeber kritisiert: Er warf der Behörde vor, die ökologische Katastrophe in der Region um Norilsk zu vertuschen.1
Nahe der mittelsibirischen Stadt am Polarkreis sind Ende Mai 2020 aus einem Kraftwerkstank des Nickelproduzenten Nornickel über 20.000 Tonnen Öl ausgelaufen. Der Großteil des Öls gelangte in die Flüsse Daldykan und Ambarnaja, die in den Pjassinosee münden. Von hier aus könnte das Öl weiter in die Karasee abfließen, ein Randmeer des Arktischen Ozeans. Derzeit ist dieses Worst-Case-Szenario zwar unwahrscheinlich, für die Region um Norilsk – eine der ohnehin am stärksten verschmutzten Gegenden Russlands – bedeutet der Zwischenfall aber eine weitere verheerende Umweltkatastrophe.
Der Kreml zeigte sich empört über die Missstände, dabei ist die Vertuschung von Fehlern, die durch die grassierende Korruption noch verstärkt werden, charakteristisch für autoritäre Systeme. So hatte Moskau nur verzögert von der Umweltkatastrophe erfahren – nicht von den Zuständigen, sondern via Social Media. Auch die technische Aufsichtsbehörde Rostechnadsor hatte wohl seit 2016 keinen Zugang mehr zum Kraftwerk gehabt. Der Rosprirodnadsor-Mitarbeiter Wassili Rjabinin wurde nach seiner öffentlichen Kritik allerdings suspendiert. Außerdem sorgt derzeit eine Recherche der Novaya Gazeta – die diese gemeinsam mit Rjabinin durchgeführt hat – für weiteres Aufsehen: Sie belegt, dass der Konzern Nornickel giftige Abwasser direkt in die Natur leitet.
Die Katastrophe von Norilsk jedenfalls zwang den russischen Präsidenten, den Notstand auszurufen. Denn der (Selbst-)Anspruch Russlands auf die Rolle der arktischen Gestaltungsmacht wird auch davon abhängen, wie das Land mit ökologischen Katastrophen im Speziellen und mit der Umwelt im Allgemeinen umgeht.
In der arktischen Region stellt das durch den Klimawandel bedingte Auftauen der Permafrostböden eine besondere Belastung für die Umwelt dar. Und treibt die Erderwärmung durch die Freisetzung von Kohlendioxid und Methan zusätzlich voran. Erst 2019 erreichte die Zahl an Überschwemmungen und Waldbränden in der russischen Arktis und in Sibirien ihren bisherigen Rekord. Für die nach dem Amazonas Regenwald zweite grüne Lunge der Welt eine alarmierende Entwicklung.
Arktische Gestaltungsmacht
2021 wird Russland den Vorsitz im Arktischen Rat übernehmen – eine zwischenstaatliche Organisation, die Klimaschutz und Sicherheit (nicht-militärischer Art) in der Region fördern will. Zu den Mitgliedern gehören die arktischen Anrainerstaaten sowie Schweden, Finnland und Island. Der international besetzte Rat wirkt ausdrücklich nicht politisch, Kritiker bezeichnen ihn teilweise als „zahnlosen Tiger”, da er keine Macht habe, die gefällten Entscheidungen umzusetzen. Dennoch gilt er als wichtigstes Forum für Arktis-Fragen, der Rat wurde 1996 auf Grundlage der fünf Jahre zuvor vereinbarten Arctic Environmental Protection Strategy2 gegründet. Der Vorsitz rotiert alle zwei Jahre, Russland hatte ihn zuletzt von 2004 bis 2006 inne. Etwa seit dieser Zeit hat Russland gegenüber den anderen Ratsmitgliedern durchaus Akzente gesetzt – und stetig seine Ansprüche unterstrichen.
So haben Tauchkapseln 2007 in einer Tiefe von 4302 Metern eine russische Flagge aus Titan aufgestellt. Damit verdeutlichte Moskau wiederholt den Anspruch auf Teile der Mendelejew- und Lomonossow-Rücken. In den Gebieten, die Russland als Fortsetzungen seiner Festlandsockel betrachtet, werden reiche Rohstoffvorkommen vermutet. Sie liegen jedoch jenseits von Russlands 200-Seemeilen-Zone, eine sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone, in der der jeweilige Küstenstaat besondere Hoheitsrechte genießt.
Ebenfalls 2007 nahm der Kreml seine militärische Präsenz in der Arktis in vollem Umfang wieder auf, diese war seit dem Zerfall der Sowjetunion faktisch ausgesetzt. Einzelne Stimmen aus dem Westen bewerteten den Schritt schon damals alarmistisch, zahlreiche Beobachter schätzen die Situation dennoch als stabil ein.3 Tatsächlich konnte 2010 ein 40-jähriger Grenzstreit zwischen Russland und Norwegen in einem bilateralen Abgrenzungsvertrag beigelegt werden.
Geopolitik
Die „Wende nach Osten“, die der Kreml seit etwa 2012 vollzieht, geht jedoch auch am Nordpolarkreis nicht vorbei. Die Ende 2014 angepasste russische Militärdoktrin sieht erstmals explizit den Einsatz von Streitkräften in der Arktis vor, zur „Gewährleistung der nationalen Interessen“4. Eigens zu diesem Zweck wurden parallel Arktische Streitkräfte und ein fünfter „nördlicher“ Militärbezirk eingerichtet. Diese Entwicklungen spiegeln sich auch im am 5. März 2020 erneuerten Hauptdokument der russischen Arktispolitik – Die Grundlagen der Staatspolitik der Russländischen Föderation in der Arktis für den Zeitraum bis 2035. Zu den nationalen Interessen Russlands in der Arktis gehört demnach an erster Stelle die „Gewährleistung der Souveränität und territorialen Integrität“ Russlands in der Nordpolarregion.5 Zur Verteidigung dieser Interessen sieht das Dokument eine Reihe nicht näher bestimmter militärischer Maßnahmen vor.
Insgesamt erhebt der Kreml den geopolitischen Anspruch auf ein Gebiet von neun Millionen Quadratkilometern – rund 40 Prozent der gesamten Arktis. Derzeit leben von den vier Millionen Menschen, die weltweit in der Arktis siedeln, zweieinhalb Millionen in Russland. Ihre Siedlungsgebiete sind nicht zuletzt wegen extremer Witterungsverhältnisse stark von Regionalförderung aus Moskau abhängig. Dabei werden hier bis zu 15 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts erzielt: Unter anderem erwirtschaftet Russland in arktischen Regionen rund ein Drittel seines Fischfangs sowie 80 Prozent der Gasförderung.
Rohstoffbasis
Die Region wird für Russland auch deshalb immer wichtiger, weil aller Voraussicht nach durch den Klimawandel der Wasserweg entlang der russischen Nordmeerküste bis 2050 eisfrei werden wird: Die Nordostpassage könnte so zur Handelsroute ausgebaut werden.
Vor diesem Hintergrund haben Russland und China 2018 das Projekt der Arktis-Seidenstraße gestartet. Nach dem Krieg in der Ostukraine verlor Russland seine Modernisierungspartnerschaft im Westen. So versucht Russland durch die Hinwendung nach China auch seine sanktionsbedingten Einbußen auszugleichen. Diese Partnerschaft ist für Russland jedoch nicht unproblematisch, denn Peking besteht darauf, dass die Schifffahrt auf der Nordostpassage nicht durch russische Gesetze geregelt wird und möchte darüber hinaus auch freie Durchfahrt für seine Kriegsschiffe durchsetzen. Sollte der Kreml darauf eingehen, würde Russland noch deutlicher in die Rolle eines Juniorpartners abrutschen – eine Konstellation, die viele Beobachter nicht selten als charakteristisch für die russisch-chinesischen Beziehungen bezeichnen.
Ob mit oder ohne China: Es bleibt zu befürchten, dass die Region vom Kreml auch in absehbarer Zukunft vornehmlich als Ressourcenbasis behandelt wird – trotz der im Februar 2015 initiierten Staatlichen Kommission für die Entwicklung der Arktis oder des am 26. Februar 2019 in seinem Kompetenzbereich um die Arktis erweiterten Ministeriums für die Entwicklung des Fernen Ostens. Vielleicht tragen aber auch unabhängige Einblicke wie sie etwa die Novaya Gazeta oder der populäre Vlogger Juri Dud mit seiner Reise nach Kamtschatka und Kolyma jüngst lieferten zu mehr gesellschaftlichem Druck und einem Umdenken bei – hin zu einer positiveren umwelt- und sozioökonomischen Entwicklung.6