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Vom Ökostrom-Vorreiter zum Erdöl-Junkie

Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion hatte das alles schon. Wie die UdSSR zunächst Vorreiter der erneuerbaren Energien wurde und weshalb daraus schließlich doch nichts wurde – das beschreibt Konstantin Ranks in einem Rückblick auf Republic.ru.

Quelle Republic
Der Sonnenofen „Sonne“ lenkte mit Hilfe von Heliostaten das Sonnenlicht auf einen Sammelspiegel / Fotos © Victor Borisov/Livejournal

Was erneuerbare Energien angeht, liegt Russland weit hinter den Weltmarktführern zurück. Was bei genauerer Betrachtung recht sonderbar ist: Denn noch vor einem halben Jahrhundert gehörte Russland zur Avantgarde innerhalb der Bewegung für eine neue Energiewirtschaft. Damals ging es allerdings noch nicht um ökologische Nachhaltigkeit – eher um eine billige Energievariante.

Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber bis Mitte der 1960er Jahre war die Sowjetunion im Grunde Erdölmangel-Land. Die Stromgewinnung aus erneuerbaren Energiequellen war eine objektive Notwendigkeit – zumal der Führer des Weltproletariats Lenin und seine Gesinnungsgenossen die saubere Elektroenergie als Hauptquell der neuen Industrialisierung ansahen – und nicht die durch Dampf oder Benzin erzeugte Energie. Der GOELRO-Plan zur staatlichen Elektrifizierung Russlands aus dem Jahr 1920, der von einem 200-köpfigen Wissenschaftlerkollektiv vorgelegt worden war, sah den Einsatz unterschiedlichster Energiequellen vor.

Exotische ingenieurtechnische Forschungen

Die Frage, wo die elektrische Energie herkommen sollte, um Industriebetriebe und die über das riesige Land verteilten Orte zu versorgen, regte zu recht exotischen ingenieurtechnischen Forschungen an, die bis Anfang der 1990er Jahre fortgeführt wurden. Im Moskauer Krshishanowski-Institut für Energietechnik erforschte man die Nutzung von Sonnenenergie mit dem Ziel, Sonnenöfen und Solarheizkraft­werke zu bauen.

Ein Solarofen namens Sonne in Taschkent

Ein Solarofen namens Sonne wurde 1981 in der Nähe von Taschkent errichtet. Der Ofen war mit 62 beweglichen Heliostaten ausgestattet, die die Sonnenstrahlen auf einen Sammelspiegel lenkten; dieser wiederum bündelte die Strahlen dann auf einem speziellen Versuchstisch. Innerhalb weniger Sekunden stieg die Temperatur im Brennpunkt des Systems auf über 3000 Grad Celsius. Das ermöglichte es, das Verhalten von Stoffen unter den Bedingungen des sogenannten thermischen Schocks zu untersuchen.

62 bewegliche Heliostaten bündeln das Sonnenlicht auf einem Versuchstisch – in kürzester Zeit steigt die Temperatur auf über 3000 Grad Celsius

Das Sonnenwärmekraftwerk SES-5 funktionierte nach dem gleichen Prinzip: Ein System von 1600 Heliostaten, die sich automatisch nach der Sonne ausrichteten, warf das Sonnenlicht auf einen in der Spitze des 99 Meter hohen Turms untergebrachten Dampfkessel. Der erhitzte Dampf wurde in den Turbinenraum im unteren Teil des Turms geleitet. Mit Hilfe der dort befindlichen Wärmespeicher konnte der Normalbetrieb des Kraftwerks für drei bis vier Stunden aufrecht­erhalten werden, etwa im Fall unerwarteter Bewölkung.

Das Kraftwerk stand im Osten der Krim, seine Leistung betrug 5000 kW, womit es damals (1985) zu den stärksten Solarkraftwerken der Welt gehörte. Im Übrigen war das Krim-Kraftwerk in erster Linie eine Versuchsplattform, dort sollte erarbeitet werden, welche Besonderheiten bei einem Kraftwerk mit erheblich höherer Leistung zu beachten wären. Doch als mit dem Zerfall der UdSSR die Finanzierung eingestellt wurde, stellte auch SES-5 seinen Betrieb ein und kam auf den Schrott.

Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft

Insgesamt hatte die Nutzung von Wasserkraft einen bedeutenden Anteil an der Energiebilanz des Landes (bis zu 20 Prozent). Doch die Gewinnung von Wasserkraft im Flachland erfordert den Bau von Staudämmen (und verursacht entsprechende Kosten), wohingegen die Nutzung von Windkraft nichts Derartiges notwendig machte.

Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion war lange Zeit Vorreiter in der Entwicklung erneuerbarer Energie

1923 hatte der sowjetische Staat für die Windkraftanlage des Kursker Erfinders Anatoli Ufimzew 5000 Rubel bereitgestellt. Im Februar 1931 ging das Kraftwerk an den Start. Die Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft – sie sprachen [in Anspielung auf Lenins Staatsplan zur Elektrifizierung] von der „Anemofizierung“ Russlands: das Ufimzewsche Windrad überlebte sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch seine Erbauer und gab erst in den 1950er Jahren seinen Geist auf.

Nach dem Krieg wurden serienmäßig kleinere Windaggregate für den Betrieb von Rundfunkstationen und für die Ortsbeleuchtung hergestellt. Damals kamen auch die sogenannten kombinierten Windkraftanlagen auf, bei denen Windgeneratoren mit Dieselanlagen kombiniert wurden (sobald der Wind nachließ, sprangen automatisch die Dieselgeneratoren an).

Auf der Suche nach dem Energie-Eldorado der UdSSR

In den 1950er Jahren weckte die Suche nach einem Energie-Eldorado in der UdSSR das Interesse an den unterschiedlichsten Energieformen. Neben industriellen Experimenten mit Atom-, Sonnen- und Windenergie wurde auch Exotischeres erforscht. So zum Beispiel im Jahr 1966 in einem Flusstal auf der Kamtschatka-Halbinsel, wo ein Geothermie-Kraftwerk mit einer Leistung von 5000 kW gebaut und in Betrieb genommen wurde – es war landesweit das erste und weltweit das erste mit Niedertemperatursystem. Solche Kraftwerke, die als Wärmeträger leichterhitzbare Flüssigkeiten benutzen, hätte man gut auch im Nordkaukasus, in Ostsibiren und sogar in der Ukraine errichten können.

Erdölmangelverwaltung

Offensichtlich konnte Sowjetrussland auf dem Gebiet der Erdölförderung mit den entwickelten Ländern nicht Schritt halten. Obwohl 1932 Öl in Baschkirien entdeckt worden war, kam die Erschließung nur schleppend voran. Zwar betonte die sowjetische Führung stets die Notwendigkeit, die Erdölförderung auszubauen, Öl galt als strategische Ressource, unter anderem für Verteidigungszwecke. Die Frage, weshalb sie damals dennoch prioritär auf Kohleförderung setzte, ist in der Geschichtsforschung Gegenstand zahlreicher Diskussionen.

Ende der 1960er Jahre hatte die Sowjetunion die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten

Der Entwicklung erneuerbarer Energien hingegen lag eine klare Logik zugrunde: Je mehr die nur knappen Erdölprodukte durch „kostenlose“ Elektrizität ersetzt werden konnten, desto mehr blieb für den Bedarf von Armee, Luftwaffe und Flotte sowie weitere nach Ansicht der sowjetischen Führung elementare Aufgaben übrig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schnell klar, dass großzügige Erdölreserven eine entscheidende strategische Ressource darstellten. Die USA schwammen in billigem Öl. Auch die Europäer hatten diese Quelle angezapft, aber das Fahren solcher Riesenschlitten, wie sie bei den Amerikanern mittlerweile beliebt waren, konnte man sich im vom Krieg zerstörten Europa und in der UdSSR nicht leisten. Der Bau von Wasserkraftwerken, eines leistungsstärker als das andere, die Errichtung des ersten Atomkraftwerks der Welt in Obninsk, Experimente mit Wind-, Erdwärme- und Flutkraftwerken waren weniger Ausdruck eines neuen Umweltbewusstseins, als vielmehr Konsequenz mangelnder Kohlenwasserstoff­reserven.

Das „große Öl“ in Westsibirien

Kurioserweise gab es nach der Entdeckung des „großen Öls“ in Westsibirien 1963 noch mehrere Jahre ein Gerangel mit den Wasserkraftanhängern, die im Flusstal des Ob ein neues Wasserkraftwerk bauen wollten. Doch Ende der 1960er Jahre und besonders nach dem Erdölembargo der arabischen Länder 1973 sah die sowjetische Führung im Öl eine einfache Lösung für den Berg von Problemen, mit denen sich die Wirtschaft der UdSSR konfrontiert sah.

Die Arbeit mit erneuerbaren Energieträgern verlor vor diesem Hintergrund für die Parteiführung an Reiz. Sie verteilte nun begeistert Öldevisen an Länder, die sich für den „sozialistischen Entwicklungsweg“ entschieden hatten. 

Entwicklung zum Erdöl-Junkie

Im Westen hingegen setzte ab Mitte der 1970er Jahre im Zuge der Vervierfachung des Erdölpreises ein rasanter Wettlauf um die Effektivierung der Ressourcennutzung ein. Letztlich hatte die Sowjetunion Ende der 1960er Jahre die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten. Sonnenöfen und Wärmekraftwerke, Windgeneratoren- und Hydrothermal­kraftwerke auf der Basis von Niedertemperatur-Kältemitteln – das alles war Weltniveau. Darüber hinaus war im Wolga-Automobilwerk jahrelang an der Entwicklung von Elektroautos gearbeitet worden.

Jahrelang arbeitete man im Wolga-Automobilwerk an der Entwicklung von Elektroautos / Foto © Sergey.G/flickr

Welches Verhängnis für Russland darin lag, sich zum „Öl-Junkie“ zu entwickeln, erkannte man sogar in der Erdölbranche. Der Entdecker des sibirischen Öls Salman Farmanow sowie der ehemalige Erdölindustrie-Minister und stellvertretende Vorsitzende des sowjetischen Ministerrats Nikolaj Baibakow hatten in den 1980er Jahren nachdrücklich davor gewarnt, dass eine Wirtschaft, die sich auf den Ölhandel gründet, das Land in die technologische Abhängigkeit führen werde. Doch um diese Gefahr abzuwenden, war es bereits zu spät, wie die folgende Entwicklung zeigte. Dass neue Generationen von russischen Ingenieuren in der Lage sein werden, auf dem Gebiet der regenerativen Energien Neuigkeiten vorzulegen – davon kann man ausgehen.

Das Problem liegt vielmehr darin, dass es eine Nachfrage für diese Entwicklungen nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern auch in Russland geben müsste. 

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Erdöl – kulturhistorische Aspekte

„Grund Ihres Aufenthalts?“
„Ich bin auf ethnographischer Expedition.“
„Verstehe. Suchen Sie Erdöl?“
„Nicht ganz. Ich suche Folklore.“

Diesen Dialog führen der Protagonist – ein Student, der für Feldstudien in den Kaukasus gekommen ist – und der Empfangschef eines Hotels in der berühmten sowjetischen Filmkomödie Kawkaskaja plenniza (Entführung im Kaukasus, 1966, Regie: Leonid Gaidai).
Der Dialog ist schon für sich genommen komisch. Er zeigt jedoch als typischer Dialog der Kulturen auf ironische Art auch feste Koordinaten, die das Verhältnis zwischen den Metropolen und Peripherien des Landes im Zarenreich bestimmten: Das Zentrum ist dabei nicht nur der Mittelpunkt der politischen Macht, sondern bündelt vielmehr auch das Wissen über die Peripherien. Die Peripherien wiederum sehen sich selbst als Quelle von Bodenschätzen, die für das Zentrum interessant sind. 
Allerdings ist in diesem Dialog nicht nur der koloniale Aspekt interessant, sondern auch ein gleichsam zufällig entstehender, Komik bergender Sinn-Rhythmus zwischen Erdöl und Folklore, zwischen natürlichen Ressourcen und der kulturellen Reflexion darüber.

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

Als ein für die Weltwirtschaft im 20. und 21. Jahrhundert grundlegender Rohstoff wurde Erdöl zu einem zentralen Gegenstand in Kunst und Kultur. Der westliche Diskurs über Erdöl ist in der Regel katastrophistisch: Erdöl wird zum Inbegriff menschlicher Habgier und führt perspektivisch zu einer ökologischen Katastrophe. Diese Tradition, die mit dem Roman Petroleum (1927) von Upton Sinclair begründet wurde, ist bis heute lebendig und hat nicht nur Schriftsteller und Filmemacher1 inspiriert, sondern auch Umweltaktivisten und Sozialwissenschaftler, die sich mit den Beziehungen zwischen transnationalen Konzernen und kleinen Völkern beschäftigen, die in den Ölfördergebieten leben.2

Der nationale Diskurs über Erdöl

Der nationale Diskurs über Erdöl in Russland zeigt ein ganz anderes Bild, und das nicht nur auf der offiziellen Ebene. Eine Besonderheit ist dabei, dass über das Phänomen Erdöl in Russland vor allem positiv reflektiert wird. Von den fettigen, dickflüssigen Erdölströmen sind bis auf wenige Ausnahmen auch jene fasziniert, die die Bedeutung des Öls für die russische Geschichte im letzten Jahrhundert kritisieren.

Erdöl war die Grundlage der Wirtschaft in der UdSSR und ist es im heutigen Russland immer noch. Metaphorisch auch als „Blut der Erde“ oder „Schwarzes Gold“ bezeichnet, gilt es nicht nur als wichtigste Energiequelle, sondern auch als Motor der Geschichte insgesamt, als Ressource für die Umsetzung eines nationalen Programms und als Materie, mit der man das sich leerende Reservoir für eine nationale Idee wieder auffüllen kann. 

So entstand seit Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre ein ganzer Korpus an literarischen Texten und Kinofilmen, die sich zwar in ihrer Poetik voneinander unterscheiden, jedoch alle die Problematik von Bodenschätzen und Naturressourcen mythologisieren (besonders erwähnenswert sind dabei unter anderem das Poem Erdöl [1998] von Alexej Parschtschikow; die Romane Der Perser [2009] von Alexander Ilitschewski; Der Tag des Opritschniks [2006], Der Zuckerkreml [2008] und Telluria [2013] von Vladimir Sorokin; Die mazedonische Kritik französischen Denkens [2003], Das Heilige Buch der Werwölfe [2004] und Das fünfte Imperium [2006] von Viktor Pelewin). Diese symbolischen Interventionen haben eine lange Vorgeschichte. 

Aus der Welt der Geologie in die Welt der Geschichte

Anfang der 1930er Jahre wurde das Problem der Energieressourcen zur Schlüsselfrage der sowjetischen Industrialisierung und der Fünfjahresplanung. Neben Steinkohle wurde Erdöl zu einer der wichtigsten Energiequellen. 1930 wurden in Moskau das Erdölinstitut und der Staatliche wissenschaftlich-technische Erdölverlag gegründet. Zwei Jahre später erschien ein Übersichtswerk des Institutsgründers Iwan Gubkin unter dem eher alchimistisch-metaphysischen und weniger naturwissenschaftlichen Titel Studium des Erdöls (russ. Utschenije o nefti). In diesem Buch wurden nicht nur geologische Fragen der Erkundung und Erschließung von Erdölvorkommen behandelt, sondern auch detailliert Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von Erdöl beschrieben. Gubkin zufolge ist die Genealogie des Erdöls ein Teil der allgemeinen Evolutionsprozesse – der Übergang vom Organischen (Pflanzen und Mikroorganismen) zum Anorganischen (chemische Verbindungen und Erdöl), das dann zum Sozialen umgewandelt werden muss und somit zur energetischen Grundlage für den Aufbau des Sozialismus wird. 
Erdöl stellt hier nicht nur eine der wichtigsten mineralischen Ressourcen dar, sondern auch einen symbolischen Shifter, der Prozesse der prähistorischen Naturentwicklung dialektisch in den Lauf der Geschichte  einfügt.3 Im Endeffekt wurde nun begonnen, über Erdöl in der Sprache des historischen Materialismus zu sprechen, und so gab es einen Sprung aus der Welt der Geologie in die Welt der Geschichte.

Diente das Erdöl in der Stalin-Zeit als Ressource für die Industrialisierung und den „Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land“, so wurden Erdöl und Erdgas ab Ende der 1950er Jahre zunehmend zu wirtschaftlichen Instrumenten für einen Kurs, mit dem ein geopolitisches sozialistisches Projekt umgesetzt werden sollte. Und eben dieses Erdöl, genauer gesagt der Erdölpreis, wird als einer der wesentlichen Faktoren für das Scheitern eben dieses Projekts betrachtet – und ist  damit verantwortlich für den politischen Zerfall der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks sowie für die Diskreditierung der gesamten sozialistischen Idee.4

Der Erdölpreis wird als einer der wesentliche Faktoren für das Scheitern der Sowjetunion betrachtet / Bild © TomTheHand/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0Mitte der 2000er Jahre verwandelte sich Erdöl dann in eine der Ressourcen für die nostalgische Erinnerung an den verlorenen sozialen Optimismus und die ehemalige politische Größe, die mit der sowjetischen Vergangenheit assoziiert werden.
Aus dieser historischen Perspektive kann man die aktive Entwicklung des Öl- und Gassektors im heutigen Russland sowohl als Versuch der Vergeltung wie auch als Abhängigkeits-Symptom von der jüngsten Vergangenheit verstehen.

Erdöl als nationale Idee

Im heutigen Russland ist die Öl- und Gasgewinnung nicht nur eine der wenigen Einnahmequellen, sie entwickelt sich auch zu einer wichtigen Komponente der nationalen Idee. Vereinfacht gesagt werden dabei natürliche Reichtümer als Beweis für eine nationale Überlegenheit verstanden und so der Anspruch auf eine politische Machtposition begründet. 
Wie in der Vergangenheit bilden natürliche Ressourcen die Grundlage für geopolitische Pläne zum Aufbau einer Supermacht. Aber im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren kann das Russland der 2000er und 2010er Jahre der Welt keine dem Kommunismus vergleichbare universalistische Idee mehr anbieten. Das Land hat sein gesamtes politisches und ideelles Potenzial in Öl, Gas und die entsprechende Transportinfrastruktur investiert und darauf seine strategischen Hoffnungen gegründet. 
War Erdöl in der sowjetischen Vergangenheit ein Mittel für die Umsetzung eines zukunftsgerichteten ideologischen Programms, ist es in der postsowjetischen Gegenwart zu einem eigentümlichen, das soziale Gewebe stärkenden Enzym geworden, zu einem universellen Schmiermittel, das das Funktionieren sozialer Interaktionen gewährleistet. 
Das System der staatlichen Sozialleistungen funktioniert ausschließlich dank der sogenannten Öl- und Gasrente. So werden die Einnahmen aus dem Verkauf von Energieträgern, die vor allem die Elite reich machen, zumindest teilweise auf alle Bürger der Russischen Föderation verteilt. Aber je weiter eine konkrete Person von der Quelle dieser Rente entfernt ist, desto weniger erhält sie. 
Der bekannte russische Historiker Alexander Etkind beschreibt die Situation folgendermaßen: Die politische Ökonomie eines Rohstoffstaates macht die Elite unabhängig von der Bevölkerung, in dem es ihr möglich ist, ihren eigenen Wohlstand und Stabilität nicht über Steuereinnahmen aufzubauen (die gegenseitige Verpflichtungen voraussetzen), sondern über die Kontrolle des Zugangs zu natürlichen Rohstoffen und über die Verteilung der Einnahmen aus deren Verkauf. Der besondere staatliche Verwaltungstyp, der auf Grundlage dieses politisch-ökonomischen Gebildes entstehen kann, macht aus der Bevölkerung ein redundantes Strukturelement, das lediglich die Effizienz der Öl- und Gaskonzerne beeinträchtigt: „Vom Standpunkt eines Staates aus gesehen, der vom Ölexport lebt, ist die Bevölkerung an sich überflüssig“.6

Aber selbst ein solch rohstoffabhängiger Staat kann nicht ausschließlich nach dem Prinzip eines Öl- und Gaskonzerns aufgebaut sein. Er braucht eine nationale Idee. Dabei gewährleistet die Ideologie des Rohstoffstaates nicht nur die symbolische Verschleierung der realen Verhältnisse zwischen Elite und Bevölkerung. Diese Ideologie kaschiert nicht einfach die raue und armselige Realität der Pipelines, sondern sie formatiert das Bewusstsein derer, auf die sie ausgerichtet ist, und sogar derer, die sie entwickeln. 

Nach dieser Logik ist die Welt wie ein Nullsummenspiel aufgebaut, das nicht auf gegenseitiger Vermehrung der Werte gründet, sondern auf dem Kampf um begrenzte Ressourcen. Ein Paradebeispiel für diese Art des Denkens ist eine der Botschaften Wladimir Putins an die Föderationsversammlung. Darin kündigt er den Beginn einer Epoche grundlegender Veränderungen an, die von einer verschärften Konkurrenz um Rohstoffe gekennzeichnet sein wird, „und ich kann Ihnen versichern … : nicht nur um Metalle, Öl und Gas, sondern vor allem um menschliche Ressourcen, um Intelligenz. Wer dabei besteht und wer Outsider bleibt und unweigerlich seine Selbständigkeit verliert, das wird nicht nur vom wirtschaftlichen Potenzial abhängen, sondern vor allem vom Willen einer Nation, von ihrer inneren Energie“.7

Erdöl und Kulturpolitik

Die Wechselbeziehung zwischen Erdöl, der russischen Wirtschaft und dem besonderen Problem der Vergangenheit war wiederholt Thema in Kunst und Kultur. In dem Roman Das Heilige Buch der Werwölfe von Viktor Pelewin gibt es folgende Schlüsselszene: Ein General des FSB, der über die mystischen Eigenschaften eines Werwolfs verfügt, wendet sich an ein eigenartiges Totemtier, an den Geist der russischen Erde, von dem das mit dem Erdöl verbundene Wohlergehen des Staates abhängt: „Bunte Kuh! Hörst Du, bunte Kuh? Ich weiß, man muss seine Scham komplett verloren haben, um nochmal bei Dir um Erdöl zu bitten. … Mir ist doch bekannt, wer Du bist. Du – das sind alle, die vor uns hier gelebt haben. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, und vorher, vorher … Du bist die Seele all derer, die gestorben sind im Glauben an das Glück, das in der Zukunft kommen wird. Und nun ist sie da. Die Zukunft, in der die Menschen nicht für irgendetwas leben, sondern für sich selbst.“ 
Dieser verzweifelte Ruf eines Vertreters aus dem Machtkern der russischen Elite enthält in kondensierter Form eine ganze Symbolkette: Erdöl – das ist die in einer Energieressource verkörperte Vergangenheit (Vielzahl der Generationen von Vorfahren), die sich die erfolgreichsten und am meisten begünstigten Nachfahren aus eigennützigen Interessen aneignen. 

Der Verweis auf die metaphysische Vergangenheit ist hier offensichtlich kein Zufall. Unter dem Terminus „begrenzte Ressourcen“, zu denen der Zugang im Interesse der nationalen Sicherheit monopolisiert sein muss, subsumiert man im heutigen Russland  auch kulturelle und historische Werte.8 Und wenn im modernen staatlichen Diskurs versucht wird, die Nation im Rückbezug auf die Vergangenheit und durch eine konservative Hinwendung zur Tradition zu formen, dann wird Erdöl, das  wirtschaftlich sowieso eine prioritäre Rolle spielt, nicht nur zu einer materiellen, sondern auch zu einer symbolischen Ressource, die es sich anzueignen gilt. 

Das für die moderne politische Elite in Russland charakteristische Interesse an Öl und Gas ist dem Interesse an der historischen und kulturellen Vergangenheit durchaus ähnlich. Es ist die Vorstellung von einem irgendwo in der Tiefe lagernden Reichtum, der zu Tage gefördert und kapitalisiert werden muss. 
Im Falle der modernen russischen Erinnerungspolitik und einer national-identitären Kulturpolitik haben wir es mit einer Vergangenheit zu tun, die den eigentlichen historischen Sinn verliert und zur Ressource wird, die man ausbeutet, um Patriotismus zu erzeugen (wie es beispielsweise mit der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs geschieht). Im Falle des Erdöls wiederum haben wir es mit der prähistorischen Vergangenheit zu tun – mit organischen Lebensformen, die im Laufe hunderter Millionen Jahre zu Kohlenwasserstoffen zerfallen sind und in sich ein gigantisches Energiepotenzial binden. Somit erweist sich die auf Erdölgewinnung ausgerichtete Rohstoffwirtschaft als eine Wirtschaft, die auf die Ausbeutung der fernen Vergangenheit abzielt und deren Symbol und Substanz eine zähe, klebrige, stark riechende Flüssigkeit ist. In diesem Sinne besteht der verhängnisvolle „Ressourcenfluch“9 nicht allein darin, dass er die Modernisierung der Wirtschaft und die Demokratisierung des politischen Lebens blockiert. Er blockiert vielmehr auch den Beginn der Zukunft, da die Gegenwart zur Verwertung der Vergangenheit herangezogen wird.


1.Upton Sinclairs Roman Petroleum wurde 2007 von Paul Thomas Anderson unter dem Titel There Will Be Blood verfilmt. Der Film erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter zwei Oscars in den Kategorien Bester Hauptdarsteller und Beste Kamera. 
2.Als wichtigste Arbeiten, die entsprechende Ansätze zusammenfassen, sind zu nennen: Barrett, Ross/Worden, Daniel (Hrsg., 2014): Oil Culture, Minneapolis; Wilson, Sheena/Carlson, Adam/Szeman, Imre (Hrsg., 2017): Petrocultures: Oil, Politics, Culture, London, Chicago 
3.„In diesem Buch habe ich versucht, den Prozess der Entstehung von Erdöl und den Prozess der Bildung von Erdöllagerstätten von einem dialektischen Standpunkt zu betrachten, und bin dabei von dem Gedanken ausgegangen, dass es sich bei diesem Prozess um eine der Strömungen im gesamten großen dialektischen Prozess der Entwicklung unserer Erde handelt.“ Gubkin I.M. (1932): Studium des Erdöls, Moskau-Leningrad, S. 6 
4.Der Ölpreis war seit seinem Höchststand 1980 bis 1986 um mehr als das Dreifache gefallen (Mouawad, Jad (2008): Oil Prices Pass Record Set in ’80s, but Then Recede, in: The New York Times, 8 March 2008) 
5.Diese Art nostalgischer Stimmung wird in der Fernsehserie Das große Öl (russ. Bolschaja neft) dargestellt, die unter der Regie von D. Tscherkassow 2010 für den Sender Erster Kanal gedreht wurde. 
6.Etkind, Alexander (2008): «Petromaččo, ili Mechanizmy demodernizacii v resursnom gosudarstve», in: Neprikosnowennyj sapas: Debaty o politike i kulture, 2008, Nr 2 
7.Botschaft des Präsidenten an die Föderationsversammlung am 12. Dezember 2012  
8.Deutlichstes Beispiel dafür ist die Gründung der Kommission zur Verhinderung von Versuchen der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands, die zwar nur von 2009 bis 2012 existierte, aber deren Funktionen später zwischen den Ministerien für Kultur und Bildung, den Historischen und Militärhistorischen Gesellschaften sowie zahlreichen weiteren staatlichen Institutionen von der Akademie der Wissenschaften bis zum Fernsehen aufgeteilt wurden. 
9.Resource curse – ein Begriff in der Wirtschaftstheorie, nach dem in Ländern mit einem großen Reichtum an natürlichen Ressourcen sowohl die Wirtschaft als auch die demokratischen politischen Institutionen weniger entwickelt sind. 
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