Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.
Ein Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.
Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.
Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen
Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt.
Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.
Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.
Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.
Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand
Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.
Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.
Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel.
Angegriffen werden nur Schwächere
Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen.
Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.
Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde.
Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren
Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten.
Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht.
Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.
Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren.
Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden
Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.
Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.
Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene.
Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.