Am Wochenende feierten die Einwohner Moskaus den 875. Geburtstag der russischen Hauptstadt. Es gab ein prächtiges Feuerwerk und Konzerte, wo die Menschen ausgelassen tanzten. Rund 900 Kilometer weiter südlich, in der Oblast Charkiw, erlitt die russische Armee zu diesem Zeitpunkt eine ihrer erschütterndsten Niederlagen im Angriffskrieg, den sie seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt.
Bis Sonntagabend, so vermeldete es der ukrainische Generalstab, habe man rund 3000 Quadratkilometer zurückerobert. Russische Soldaten flohen panikartig und ließen massenweise militärisches Gerät zurück. Viele Kommentatoren der westlichen Staatenwelt lobten die historische taktische Leistung der Ukraine, manche Medien sahen gar einen „Wendepunkt“ für diesen Krieg erreicht. Das russische Verteidigungsministerium sprach indes von einer „Umgruppierung“ und gab offiziell den Rückzug aus der Oblast Charkiw bekannt. Kreml-Propagandisten und Ultranationalisten schwankten in ihrer Reaktion zwischen offener Kritik an der russischen Führung und ihrer militärischen Strategie oder dem Herunterspielen der Ereignisse. Indes attackierte Ramsan Kadyrow den Kreml direkt. In einer Audioansprache, die er in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte, sagte das Oberhaupt der Republik Tschetschenien: „Wenn nicht heute oder morgen Änderungen an der Durchführung der militärischen Spezialoperation vorgenommen werden, bin ich gezwungen, zur Staatsführung zu gehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären.“
Am Sonntagabend reagierte der Kreml mit militärischen Mitteln auf die Erfolge der ukrainischen Armee. Es wurden Raketenangriffe auf Wärmekraftwerke und energietechnische Infrastruktur gemeldet. In vielen Gebieten der Ostukraine kam es zu flächendeckenden Stromausfällen. Ob der Druck auf Putin und die russische Staatsführung tatsächlich zunimmt, wird sich wohl in den kommenden Tagen zeigen.
In den russischsprachigen sozialen Medien wurden die Entwicklungen kontrovers diskutiert, mancherorts keimte gar Hoffnung auf, dass Putins System ins Wanken geraten könnte, gerade in der russischen Exilgemeinde. Auf Facebook verschafft Andrej Loschak in einem emotionalen Beitrag seiner Wut und Hoffnung Luft. In seinem vielfach geteilten Post erklärt der russische Journalist und Dokumentarfilmer, warum er Russland und der russischen Armee eine Niederlage geradezu wünscht.
Ich denke viel darüber nach, dass ich meinem Land, meiner Armee eine Niederlage wünsche. Aber eine Niederlage ist nicht Putins Tod, er wird da fest in seinem Bunker hocken, eine Niederlage – das sind tote Soldaten, viele davon ganz junge Burschen, die aus keinem guten Leben heraus noch vor Beginn der Kampfhandlungen einen Vertrag unterschrieben haben. Um diese jungen Menschen tut es mir ehrlich leid. Nichtsdestoweniger wünsche ich Putins Russland aufrichtig eine Niederlage. Das klingt monströs, doch nicht ich habe diese Situation geschaffen, in der es wahrhaft patriotisch ist, dem eigenen Land eine Niederlage zu wünschen.
Wisst ihr, wie es über gefährliche Verrückte heißt: selbst- und fremdgefährdend. Genau das kann man auch über Putins Russland sagen. Das aktuelle Regime ist das absolute Böse, das ist nicht meine persönliche Meinung, das ist seit dem 24. Februar weltweiter Konsens.
Nicht ich habe diese Situation geschaffen, in der es wahrhaft patriotisch ist, dem eigenen Land eine Niederlage zu wünschen
Das Land wurde gekapert von einer Gruppe gänzlich unmoralischer Menschen, die ihre miesen kannibalischen Werte nicht mehr nur Russland, sondern der ganzen Welt aufdrücken wollen. Die Putin-Elite bildet sich nach dem Prinzip der negativen Selektion: Karriere machen nur die, die es schaffen, sich beim „Chef” einzuschleimen (so nennt ihn Simonjan) – das heißt, die wirklich schlimmsten Menschen im Land, Arschkriecher, Mitläufer, mit denen derzeit der Staatsapparat auf allen Ebenen vollbesetzt ist. Freie, denkende Menschen, die etwas auf die Beine stellen, braucht dieses Land nicht. Der Streit mit Europa und die wahnsinnige Idee, die UdSSR wiederzuerrichten, hat ein vielfältiges imperiales Lumpenpack an die Oberfläche gespült, ein völlig cringes Publikum, das plötzlich zur kulturellen Elite Russlands wurde.
Freie, denkende Menschen, die etwas auf die Beine stellen, braucht dieses Land nicht
Auf das Leben der Menschen und die Entwicklung des Landes spucken sie. Sie haben nur Geopolitik im Kopf. Dass ein Drittel der Menschen in unserem Land keine Toilette im Haus hat, spielt keine Rolle – Hauptsache, man erbeutet so viel fremdes Land wie möglich und etabliert dort mittels blutiger Gewalt die eigene Ordnung (oder besser: Unordnung). Sie sind bereit, jeden dazugewonnenen Zentimeter Land mit Leichen zu pflastern – als hätte Russland zu wenig Land, als würden wir hier alle sterben vor Enge und fehlenden Bodenschätzen.
Sie nennen das „Russki Mir“ – verflucht seien sie dafür, dass das Wort „russisch“ jetzt mit einer solchen Scheiße assoziiert wird, von der man sich noch lange wird reinwaschen müssen. Putins Russland vernichtet physisch das eigene Volk, das Volk der benachbarten Ukraine, es lässt Belarus keine Chance auf Entwicklung, es droht anderen Nachbarländern ständig mit Einmarsch; das Land ist international der Verbrecher Nr. 1, der die ganze Welt als Geisel nimmt und ihr mit Atomwaffen droht.
Das ist wie eine Familie von Gopnik-Alkoholikern, die zu anständigen Leuten ins Haus ziehen und deren Leben zur Hölle machen. Ein solches Land zu unterstützen heißt, die Diktatur eines durchgeknallten Egomanen zu unterstützen, die totale Lüge, Korruption, Repressionen, den wirtschaftlichen Ruin und die Verelendung der Bevölkerung, die intellektuelle und kulturelle Degradierung, den Großmachts-Chauvinismus (der nichts gemeinsam hat mit Patriotismus, also der Liebe zur Heimat), die endlos steigenden Rüstungsausgaben, die Isolation und ständige Kriege.
Putins Russland vernichtet physisch das eigene Volk, das Volk der benachbarten Ukraine, es lässt Belarus keine Chance auf Entwicklung
Weil Putin, und mit ihm auch ein großer Teil der Bevölkerung, in einen abnormen Zustand gefallen ist, den Dimitri Bykow als „Sünde der Selbsttäuschung“ bezeichnete, ist die menschliche Zivilisation in ihrer Existenz bedroht. Ich denke, die genannten Gründe reichen aus, um Putins dunklem Mordor eine vernichtende Niederlage zu wünschen, die Russland als Teufelsaustreibung dienen könnte.
Eine vernichtende Niederlage, die Russland als Teufelsaustreibung dienen könnte
Es muss uns jedoch klar sein, dass der Sieg des heldenhaften ukrainischen Volkes innerhalb Russlands nichts ändern wird, falls die Russen weiterhin in diesem schlafwandlerischen Zustand verharren. Wir können nicht immer andere die Drecksarbeit für uns machen lassen: Die Ukrainer setzen zwar ihr Leben aufs Spiel, um uns die Chance zu geben, Russland zu heilen, es zur Besinnung zu bringen – doch schaffen können wir das nur selbst. Der Sieg der Ukraine könnte, so seltsam das auch klingen mag, eine heilsame Wirkung auf Russland haben – so etwa wie damals in Schweden, das nach seiner Niederlage bei Poltawa seine imperialen Ambitionen aufgab und heute eines der fortschrittlichsten Länder der Welt ist (im Gegensatz zu Russland, das sich nach Poltawa endgültig in ein Imperium verwandelte). Wir hatten bereits in den frühen 1990er Jahren die Chance, ein normales Land zu werden, und wir haben es versaut. Es wäre furchtbar dumm, es ein zweites Mal zu versauen.