„Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen.
Lukaschenkos Vision der belarussischen Geschichte, versinnbildlicht im neuen Nationalen Historischen Museum / Collage dekoder, Architekturentwurf © belta.by, Foto © Sergei Savostyanov/ Itar Tass/ Imago
Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig.
Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <...> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“
Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen.
Erinnerungspolitik als grelle Illustration
Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:
1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft.
2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.
In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“
Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich.
Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung.
Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.
Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis!
Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.
Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung.
Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht.
Großteil der Geschichte einfach abgehackt
3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.
Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.
4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet.
Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben.
Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <...> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <...> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <...> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert ...“
Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.)
5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.
Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.
Nach der imperialen Pfeife
6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen.
Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden.
Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.
In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu.
In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“
7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben.
Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.
So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik.