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„Die herausragendste Persönlichkeit in der gesamten belarusischen Kultur“1 – so fasst es der renommierte Slawist Arnold McMillin zusammen. Francisk Skorina (belarus. Francysk oder Francišak Skaryna), 1470 bis ca. 1551, war der erste Ostslawe, der Bücher druckte. Angetrieben wurde er von der revolutionären Idee, den „einfachen Menschen“ eine sprachlich zugängliche Bibel zu liefern, die Biblija ruska. Mit Skorinas Bibel beginnt in der belarusischen Literaturgeschichte zugleich die Epoche der Renaissance: Skorinas rhetorisch ausgefeilten Vorworte sind bis heute lesenswert und die Gedichte Pionierarbeiten. Er signierte seine Werke, im Geist einer neuen Zeit, völlig unbescheiden: Er platzierte seinen Namen in roten Großbuchstaben auf dem Titelblatt der Heiligen Schrift. In einigen Exemplaren findet man sogar einen Holzschnitt mit seinem eigenen Porträt.
Skorina ist für Belarus*innen ein wichtiger Teil ihrer kulturellen Identität, weil er aus der Region stammt. Er ist aber auch eine Symbolfigur für die multikulturelle Gesellschaft Litauens, denn er war zugleich der erste, der in Vilnius und damit im damaligen Großfürstentum Litauen Bücher druckte, und zwar im Jahr 1522, also genau vor 500 Jahren. Wer war Francisk Skorina?
Vielleicht sollte man Skorina vor allem als einen Tatmenschen und Geschäftsmann sehen: mehr Johannes Gutenberg als Martin Luther, mehr Drucker als Reformer, mehr Buchhändler als Poet. Er stammte aus Polazk, das um 1500 eine florierende Handelsstadt war, und sein Vater war Kaufmann. Anders als Luther war Skorina kein Geistlicher und hat auch nie Theologie studiert. Er durchlief das übliche Grundstudium in den „Freien Künsten“ (Abschluss 1506 in Krakau) und machte danach seinen Magister. Er studierte auf Latein, muss aber auch eine Schule besucht haben, an der er die kyrillische Schrift und Kirchenslawisch lernte. An einer der Eliteuniversitäten seiner Zeit, im italienischen Padua, erwarb er 1512 schließlich den Doktor der Medizin.2
Ohne zertifizierte theologische Expertise sollte Skorina sich weniger als fünf Jahre nach der Promotion daran machen, die Biblija ruska zu drucken – ein Mammutprojekt. Die Heilige Schrift sei „nicht nur für Doktoren“, schrieb er, sondern für jeden wichtig. Dabei hatte er vor allem ostslawisch-orthodoxe Gläubige im Blick.
Mit dieser Idee und bei der Umsetzung in die Praxis zeigte sich Skorina als kosmopolitischer Europäer: Er bezog das notwendige Wissen vorurteilsfrei aus verschiedenen Kulturräumen und kümmerte sich nicht um konfessionelle Grabenkämpfe oder politische Konflikte.
Die Arbeit an der Bibel, der Skorina seinen Ruhm verdankt, füllt allerdings einen recht geringen Teil seines bewegten Lebens. Seine intensive Drucker-Zeit dauerte (mit Unterbrechungen) nur von 1517 bis 1525. Dann wechselte er endgültig zurück in Brotberufe, denn als Nicht-Adliger und Nicht-Geistlicher musste er sich aktiv um seinen Lebensunterhalt bemühen: Er war zum Beispiel Arzt und Sekretär des Bischofs von Vilnius (vielleicht schon 1523, bis 1535). 1529 bis 1530 findet man ihn am Hof von Herzog Albrecht von Preußen. 1532 sitzt er wegen der Schulden seines verstorbenen Bruders im polnischen Posen im Gefängnis.3
Irgendwann zwischen 1525 und 1533 ist er offenbar nach Moskau gereist und erlitt bei dem Versuch, einen neuen Absatzmarkt zu eröffnen, Schiffbruch. Das legt ein Beschwerdebrief des polnischen Königs und litauischen Großfürsten Sigismund II. August nahe: Auf Befehl des Zaren, heißt es darin, seien im Moskauer Reich Bibeln „in rus(s)ischer Sprache“ vernichtet worden, die ein Untertan seines Vaters gedruckt habe. Wem sonst als dem damals einzigen ostslawischen Bibeldrucker Skorina kann das passiert sein?4
Die Hochzeit seines Druckerlebens verbrachte Skorina in Prag. Mit beeindruckender Geschwindigkeit wurde in den Jahren 1517 bis 1519 in einer angemieteten Werkstatt Buch auf Buch der Biblija ruska gedruckt. Jedes erschien als separate Einheit, mit der Option, alle zu einer Gesamtausgabe zusammenzufügen. Den Anfang machte der Psalter, danach Hiob, dann weitere Weisheitsbücher. Offenbar war hier die Nachfrage am größten: Der (manuell vervielfältigte) Psalter war damals das meistgelesene Buch überhaupt, erbauliche Lektüre für alle Lebenslagen, Gebetbuch und Lyrikband in einem. Mit Psalmen lernten Schüler die kyrillische Schrift lesen. Danach druckte die Prager Werkstatt weitere Teile des Alten Testaments, bald aus den Propheten, bald aus den Chroniken, dazwischen die fünf Bücher Mose – das Buch Genesis enthielt das repräsentative Gesamt-Titelblatt und ein umfangreiches Vorwort.
Der Herstellungsprozess war sicherlich Teamarbeit: Mitarbeiter bedienten den Setzerkasten und die Presse. Auch das Buchdesign der Biblija ruska stammt nicht allein von Skorina, all die Zeichnungen, die dann in Holz geschnitten wurden, die schmückenden Ornamentleisten, die verspielten Initialen.7 Offen bleibt, ob der Meister selbst die Muster für die im Ausland gefertigten kyrillischen Metalllettern entwarf. Konnten die Prager Mitarbeiter Kyrillisch lesen? Hat jemand seine Manuskripte lektoriert oder beim Setzen korrigiert?
Wer in den – heute digital zugänglichen – Originalen blättert oder das berühmte Skorina-Porträt auf dem Titel studiert, trifft auf sich wiederholende Symbole, die nach wie vor Rätsel aufgeben. Selbst beim bekanntesten Motiv, einer Kombination aus Sonne und Mond, ist noch nicht endgültig geklärt, welche biographischen Bezüge oder symbolischen Bedeutungen dahinterstecken. In jedem Fall handelt es sich aber um eine Art Markenzeichen, mit der Skorina eine Gesamtautorschaft beansprucht. Der tschechische Forscher Ilja Lemeschkin hat kürzlich ein anderes Element entschlüsselt: Die (kyrillischen!) Buchstaben МЗ auf dem berühmten Porträt sind als Zahlen zu lesen. Skorina war im Jahr 1517, in dem er porträtiert wurde, also 47 Jahre alt und man muss die bisherigen Schätzungen um zehn bis 20 Jahre korrigieren. Die ‚Kritzeleien‘ in den drei Kartuschen am unteren Bildrand sind ebenfalls kunstvoll verflochtene Buchstaben. Sie ergeben Skorinas Vor- und Nachnamen sowie den akademischen Titel.9
Nach Prag sollte Skorina 1535 zurückkehren. Seine letzte bekannte Anstellung war die als Gärtner auf der Prager Burg im Dienst von Ferdinand von Habsburg, dem späteren Kaiser. Er starb ungefähr 1551, wohlgemerkt im Königreich Böhmen.
Anfang der 1520er Jahre hatte Skorina Prag verlassen und begann, in Vilnius zu drucken. Sein zweites – und letztes – in der Hauptstadt des Großfürstentums Litauen produziertes Buch, erschien 1525. Es umfasste die Apostelgeschichte und Apostelbriefe, eine Art Fortsetzung seiner Biblija ruska, die sich noch auf Bücher des Alten Testaments beschränkt hatte. Das erste Buch der neuen Werkstatt verdient allerdings mehr Beachtung: Das Kleine Reisebuch (Malaja podoroshnaja knishka) ist 1522, also vor genau 500 Jahren, erschienen und war das erste gedruckte Buch im Großfürstentum. Dieses Jubiläum wird 2022 in der gesamten Region gefeiert, vor allem in Belarus und Litauen. Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine fallen die Festlichkeiten allerdings etwas ‚leiser‘ aus und mit weniger Kooperationen als geplant.10
Wie bei der Biblija ruska handelt es sich auch beim Kleinen Reisebuch um ein Konvolut von einzelnen Publikationen, die auch separat erworben werden konnten. Zusammen bilden sie eine Art universelles Andachtsbuch. Die komplette Version umfasste den nachgedruckten Psalter, Gebete und kunstvolle Hymnentexte (darunter zwei von Skorina selbst verfasste Gedichte), komplettiert mit kalendarischen Übersichten. Zusammengebunden ergibt sich ein Kompendium vom Format eines dicken Reclam-Buchs, das sich trotz des Umfangs von mehr als 700 Seiten gut in der Reisetasche verstauen ließ. Das einzige vollständig erhaltene Exemplar befindet sich heute in Kopenhagen.11
In Belarus ist Skorina heute eine markante Größe im literarischen Kanon und im kollektiven Gedächtnis. Es gibt Denkmäler, Straßen und Schulen, die nach ihm benannt sind. So wertgeschätzt wurde er allerdings nicht immer. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Sowjetzeit bewusst erlebt haben, notieren, dass Skorinas Bedeutung in der UdSSR lange Zeit heruntergespielt worden sei, um die Leistungen eines Anderen nicht zu überschatten: Iwan Fjodorow hatte 1564 – also mehrere Jahrzehnte nach Skorina – als erster Ostslawe in Moskau gedruckt.
In einem erklärtermaßen atheistischen Staat galt es zudem zu übertünchen, dass Skorinas Lebenswerk im Kern darin bestand, möglichst vielen Menschen einen Zugang zum Wort Gottes zu eröffnen. Außerdem verwies der Name „Francisk, Franciscus“, mit dem er unterschrieb, eigentlich auf ein katholisches und damit polnisch beeinflusstes Milieu. Dies kam ihm insofern nicht zugute, da die sowjetische Geschichtspolitik polnischen und polonisierten Adeligen sowie der katholischen Kirche die Rolle der Bösewichte zuwies.12 In der belarusischen Forschungslandschaft brachten die Jahre 1988 bis 1990 die endgültige Wende. Der (falsch datierte) 500. Geburtstag Skorinas motivierte zu Editionsprojekten, Quellensammlungen und Monografien; zeitgleich bröckelte dank Glasnost und Perestroika das ideologische Zwangskorsett.
Neben den in der belarusischen Sowjetrepublik betriebenen Gedenk- beziehungsweise Vergessens-Praktiken gab es weitere Erinnerungsdiskurse, die ganz anders gelagert waren: Die belarusische Diaspora, die antikommunistisch gesinnt war, fand in Skorina – quasi als gebürtigem Belarusen – während des Kalten Krieges einen wichtigen identitätsstiftenden Bezugspunkt. Das 1951 in New York gegründete Belarusian Institute of Arts and Sciences wählte etwa das Skorina-Porträt als Logo. Und in London entstand die Francis Skorina Belarusian Library.13
Obwohl Skorina heute in der offiziellen belarusischen Erinnerungskultur einzementiert erscheint, fallen gewisse Unstimmigkeiten auf. So wurde 1995 die wichtigste Magistrale der Hauptstadt (erneut) umbenannt: von Francisk-Skaryna-Prospekt in Unabhängigkeitsprospekt. Und es dauerte Jahre, bis entschieden war, dass das monumentale Minsker Skorina-Denkmal vor der Nationalbibliothek stehen sollte. Es erweist sich als schwer zu fabrizierende Quadratur des Kreises, den europäischen Grenzgänger und Freigeist Skorina in das vom Lukaschenka-Regime propagierte Wertesystem einzupassen, das zurück in die Sowjetzeit strebt.14
Aber auch der euphorische Skorina-Kult, dem sich die national und Lukaschenka-kritisch gesinnte belarusische Intelligenzija verschrieben hat, hat seine Schattenseiten. Man will in Skorina den Patrioten sehen, einen, der seiner „belarusischen“ Heimat und Muttersprache zutiefst verbunden gewesen sei. Man spricht über ihn in Superlativen, die den Blick auf seine Leistungen und sein Werk nicht weniger verstellen, als die ideologischen Vorgaben der Sowjetzeit.
Tatsächlich besteht in der Wissenschaft bis heute bei grundlegenden Fragen Uneinigkeit und Klärungsbedarf. Kann man Skorina überhaupt als vollwertigen Bibel-Übersetzer bezeichnen? Denn anders als Luther übersetzte er nicht aus den Originalsprachen, sondern aus zweiter oder sogar dritter Hand, unter Zuhilfenahme verschiedener Textvorlagen. Daran schließen sich weitere Fragen an: Inwieweit hat er sich an vorhandene kirchenslawische Bibelversionen gehalten, von tschechischen Übersetzungen inspirieren lassen oder vielleicht auch nur Vorlagen klug umgearbeitet? Und: Übersetzte Skorina wirklich in die Volkssprache? Oder ist die Sprache der Biblija ruska ein – vereinfachtes – Kirchenslawisch? Linguisten gehen noch weiter und fragen ganz grundsätzlich: Macht die Unterscheidung Volkssprache und Kirchenslawisch bei seinen Büchern überhaupt Sinn, liegt die von Skorina verwendete Sprache nicht eher im stilistischen Dazwischen?15
Es greift zu kurz, Skorinas Leistung pauschal darin zu sehen, die Bibel in die Volkssprache übersetzt und das „Altbelarusische“ auf ein neues Niveau gehoben zu haben. Viele Probleme, an denen sich die Forschung abarbeitet, waren für Skorina selbst wohl nur wenig relevant und seine Äußerungen sind widersprüchlich. Sehr leicht kann man daher grundlegende Fakten missverstehen: Vorsicht ist schon bei dem scheinbar so verständlichen Titel Biblija ruska geboten, der suggeriert, dass wir es mit einer „russischsprachigen“ Bibel im Verständnis des 21. Jahrhunderts zu tun hätten. Auf Deutsch sollte man Skorinas Meisterwerk besser als „Ruthenische“, „Rusʹische“ oder sogar „Ostslawische Bibel“ bezeichnen. Das Adjektiv ruski verwendete er in verschiedensten Bedeutungen. Das Schlüsselzitat, mit dem Skorina in einem Vorwort die von ihm verwendete Sprache charakterisierte, macht die Sache nicht leichter: Was meint ruskymi slowami a slowenskym jasykom? – „Mit rusʹischen (ruthenischen) Worten und slawischer (kirchenslawischer) Sprache“ klingt unsinnig. Die Linguistin N.B. Metschkowskaja hat die bisher beste Interpretation vorgeschlagen. Sie setzt beim Wort slowo an. Bis heute meint es ‚Wort‘, hatte damals aber auch eine zweite Bedeutung: ‚Schrift, Buchstabe‘. Dann ergibt sich folgende Übersetzung: Die Biblija ruska wurde „mit ruthenischen B u c h s t a b e n und in (kirchen-)slawischer S p r a c he“ gedruckt.
In der Tat ist das Design der verwendeten kyrillischen Lettern sehr spezifisch und natürlich unterscheiden diese sich von „lateinischen“ oder „polnischen“ Buchstabensätzen. Der linguistische Befund zeigt, dass Skorinas Sprache sich zumindest stark am Kirchenslawischen orientierte.16 In der Forschung werden all diese Ansätze bis heute kontrovers diskutiert, während sich in populärwissenschaftlichen Beiträgen auch viel Unsinn findet.
Über das Gesamtwerk dieses kosmopolitischen Grenzgängers lässt sich dagegen eindeutig urteilen: Was es in Text und Bild zeigt, ist, dass er die Errungenschaften der orthodoxen und der lateinischen Kultur souverän zu einer Synthese gebracht hat. Damit hat dieser Visionär in der Kulturgeschichte einer ganzen Region Spuren hinterlassen.
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.