Medien

„Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.

Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.  

Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren. 

Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?

Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen. 

Quelle The New Times

Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?

Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.

Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie

Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.

Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben ...

Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.

W.G.: China ebenfalls.

M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland. 

Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht

Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang  der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?

Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.

Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?

M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert? 

Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen

Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.  

Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?

M.K.: Sogar mehr.

Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?

M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen. 

Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant

Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.

Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen. 

M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.

Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur

Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann. 

Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?

Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat

Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf  ...

W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.

Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan

Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten –  dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür. 

Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.

Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel ...

W.G.: Wir haben Landwirtschaft ...

Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?

M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts ... Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.

Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht ... Sie ist komplett ausgelastet

W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch. 

M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten. 

Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?

M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘

Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen

Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.

M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.

W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.

Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat. 

M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.

Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.

W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer. 

Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme

Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme.
Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnosen
en

Russland und China

Wie tief geht die bromance zwischen Putin und dem chinesischen Staatschef Xi? Diese Frage stellte die BBC 2015,1 rund ein Jahr nach der Krim-Annexion. Als Reaktion auf westliche Sanktionen forcierte Russland damals den 2012 eingeleiteten „Schwenk nach Asien“. Mit diesem Schwenk wollte Russland laut Beobachtern vom Westen unabhängiger werden und seine Wirtschaftsbeziehungen zu China intensivieren. 2014 kam eine neue Dimension hinzu: Die Hinwendung nach China sollte die sanktionsbedingten Einbußen ausgleichen. So jedenfalls das Kalkül des Kreml.

Tatsächlich trafen sich die beiden Präsidenten nun öfter, unterzeichneten viele bilaterale Verträge und setzten Großprojekte wie die Gaspipeline Sila Sibiri in Gang. Putin und Xi sollen sich auch persönlich gut verstehen.

Doch wie tief sind die russisch-chinesischen Beziehungen nach der Annexion der Krim tatsächlich?

 

Putin und Xi – Wie tief geht die bromance? / Foto: kremlin.ru

Die ersten bilateralen Beziehungen zwischen dem russischen Zarenreich und China wurden wohl im 17. Jahrhundert angebahnt.2 1689 unterzeichneten beide den Vertrag von Nertschinsk, der zum ersten (aber bei weitem nicht zum letzten) Mal die Grenze zwischen beiden Reichen definierte. Während Russland sich nach den Reformen von Alexander II. sehr dynamisch entwickelte, war das chinesische Imperium am Schwächeln – sowohl geopolitisch als auch wirtschaftlich. Diese Schwäche ermöglichte Russland damals, große Stücke Land von China zu pachten – die das russische Imperium im Zuge des Russisch-Japanischen Kriegs 1904-1905 allerdings wieder verlor.

Engste Freunde – beste Feinde?

Nach Gründung der Volksrepublik 1949 entwickelten die beiden sozialistischen Länder eine enge Beziehung. Die Sowjetunion unterstützte die Volksrepublik China (VRC) beim Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg und der japanischen Besatzung: Es gab eine enge militärische Kooperation, sowjetische Ingenieure halfen beim Bau von Kernkraftwerken und Atomwaffen.

Doch nach dem Tod Stalins 1953 war es vorbei mit der sowjetisch-chinesischen Freundschaft: Mao verstand sich als Nachfolger Stalins, während sich Chruschtschow ab dem XX. Parteitag der KPdSU gegen den Personenkult um den Diktator wandte. In den 1960er Jahren kam es sogar zu militärischen Zusammenstößen an der sowjetisch-chinesischen Grenze. Ende der 1970er Jahre sanken die Beziehungen auf einen neuerlichen Tiefpunkt: Nachdem der sowjetische Verbündete Vietnam zur Beendigung des Terrorregimes der Roten Khmer 1978 in Kambodscha einfiel, wandte sich China gegen Vietnam und erklärte dessen Verbündeten, die Sowjetunion, zum „Feind Nummer 1“.

Diese Feindschaft währte jedoch nicht lange: Seit der Mitte der 1980er Jahre verbesserten sich die Beziehungen wieder allmählich. 1991 besuchte Generalsekretär und Präsident Jiang Zemin die UdSSR und unterzeichnete mit Michail Gorbatschow einen Vertrag, der die Grenze zwar weitgehend festlegte, einige Stücke jedoch weiterhin als strittig festhielt. Endgültig wurde die Grenzfrage von Wladimir Putin und Hu Jintao in einem Vertrag von 2005 geklärt. Dabei übergab Russland an China einige Inseln im Grenzfluss Amur, insgesamt rund 337 Quadratkilometer Land.  

Der Zerfall der Sowjetunion war für die chinesischen Eliten ein Schock. Russland wandte sich ab vom Sozialismus und hin zum Westen, dabei vernachlässigte es den östlichen Nachbarn. Erst als Jewgeni Primakow 1996 Außenminister wurde, brachte er die östliche Dimension der russischen Außenpolitik zurück auf die Agenda.

2001 gründeten China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Gleichzeitig wurde die Annäherung zwischen China und Russland 2001 in dem Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit festgehalten. Der Schwerpunkt russischer Außenpolitik lag dabei allerdings immer noch auf der Zusammenarbeit mit dem Westen.

„Schwenk nach Asien“

Jäh gestoppt wurde diese Zusammenarbeit nach der Krim-Annexion: Russland intensivierte den 2012 proklamierten „Schwenk nach Asien“ und suchte damit, die wirtschaftlichen Einbußen durch die westlichen Sanktionen auszugleichen.

Bereits 2013 hatte Xi Jinping seine Seidenstraßen-Initiative präsentiert: ein großes Infrastrukturprojekt, das vor allem schnellere und sicherere Handelsrouten zwischen China und Europa zum Ziel hat. Die neue Seidenstraße soll – wie schon die alte – durch Zentralasien führen: Eine Region, die der Kreml dezidiert als eigene geopolitische Interessensphäre begreift. Doch obwohl die Initiative unter anderem auch größeren Einfluss Chinas in Zentralasien vorsieht, macht man sich darüber im Kreml demonstrativ keine Sorgen3. Laut Beobachtern soll der Kreml dabei keine bittere Pille geschluckt, sondern folgendermaßen kalkuliert haben: China konzentriert sich auf wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Region, während Russland Garantiemacht bleibt und seinen politischen Einfluss behält.

Außerdem versprach man sich in Russland von der Seidenstraße vor allem chinesische Investitionen. So unterzeichneten Gazprom und der chinesische Energiekonzern CNPC 2014 einen Vertrag über russische Gaslieferungen nach China. Beim Baustart am 1. September 2014 nannte Putin das Pipeline-Vorhaben Sila Sibiri „das größte Bauprojekt der Welt“. China stieg auch bei Jamal SP ein – ein Unternehmen, das Erdgas auf der Jamal-Halbinsel fördern und verflüssigen soll.  

Viele Verträge in Milliardenhöhe, große Worte über die neue russisch-chinesische Freundschaft, neue Männerfreundschaft zwischen Xi und Putin, Xis Teilnahme an der Siegesparade am 9. Mai 2015 in Moskau – 2014 und 2015 sah es aus, als ob ein neues Tandem der Weltpolitik geboren wäre.

Vertane Chancen

Doch ist in der Sache seitdem nicht viel passiert. Sila Sibiri wurde zwar tatsächlich umgesetzt, ein erstes Teilstück ging im Dezember 2019 in Betrieb. Auch bei Jamal kam chinesisches Geld an, wenn auch erst 2016. Jedoch ist die russisch-chinesische Partnerschaft weder allumfassend, noch nachhaltig. So machen zwar die chinesischen Staatsbanken gelegentlich Geld für Großprojekte locker, doch private chinesische Firmen vermeiden es angesichts der US-Sanktionen mit den russischen Staatskonzernen zusammenzuarbeiten. Die Rentabilität von Sila Sibiri ist fraglich: Manche Kritiker glauben, dass die Pipeline 30 Jahre brauchen wird, um sich zu amortisieren. Der bilaterale Handel ist seit 2014 zwar offiziell um rund 54 Prozent gewachsen, seine Struktur ist für Russland allerdings nicht gerade schmeichelhaft: 71 Prozent russischer Exporte machen fossile Energieträger aus, umgekehrt sind 50 Prozent der Importe aus China Maschinen.4 Russlands Anteil an Chinas Außenhandel beträgt offiziell etwa 2,4 Prozent,5 China deckt aber rund 17 Prozent des russischen Außenhandels ab. Das Handelsvolumen zwischen den USA und China ist etwa fünfmal höher als das russisch-chinesische.

Auch auf symbolischer Ebene tun sich Asymmetrien auf: So hat der Bau einer Brücke über den Grenzfluss Amur wegen Problemen auf russischer Seite viel länger gebraucht, als ursprünglich geplant. Monatelang endete die chinesische Seite der Brücke mitten über dem Fluss, das Bild dieser abrupt endenden Brücke ging durch die Zeitungen in der ganzen Welt und schien Sinnbild für die Unfähigkeit Russlands, das chinesische Wachstum anzuzapfen.6

Auch bei dem wichtigsten Element der Seidenstraße – dem Ausbau der Eisenbahnschiene – war Russland außen vor. Seine ursprüngliche Erwartung, dass der Ausbau der Belt and Road Initiative (BRI) die russische Transsib zur Grundlage nehmen würde, wurde von China enttäuscht: Die meisten chinesischen Züge fahren nun durch Westchina und Kasachstan, auf die russische Schiene kommen sie erst relativ weit im Westen, in der Oblast Kurgan. Der östliche Teil der Transsib, der ohnehin am wenigsten ausgelastet ist, geht leer aus.7

Unter dem BRI-Label sollten auch innerrussische Projekte umgesetzt werden. Doch auch diese stocken und werden mitunter ad acta gelegt: So soll es jetzt unter anderem doch keine Schnellzugverbindung zwischen Moskau und Kasan geben.

Russland ist nur Juniorpartner

Und auch in der militärischen und Sicherheitszusammenarbeit setzt sich die Asymmetrie fort. Seit den 1990er Jahren ist China zwar einer der wichtigsten Absatzmärkte russischer Waffen. Doch durch den (nicht immer legalen) Technologietransfer stellt es immer mehr Waffen selber her, sodass es unklar ist, wie lange China noch auf russische Waffensysteme angewiesen sein wird.

Auch mit der Gründung der SCO intensivierten die Länder ihre militärische Zusammenarbeit. Bei den Militärübungen Wostok 2018 waren chinesische Militärs dabei, für einige Experten war es „noch keine Allianz, aber engere Zusammenarbeit.“8

Eigentlich ist China aber kaum an einer nachhaltigen militärischen Zusammenarbeit mit Russland interessiert9, und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der SCO wurde durch deren Erweiterung um Indien und Pakistan massiv erschwert. Hinzu kommt auch, dass Indien und Vietnam, beides wichtige Absatzmärkte für russische Waffen, für China als Feinde gelten. Außerdem hat China auch seine militärische Präsenz in denjenigen Regionen ausgebaut, die Russland als eigene Interessensphäre begreift: So wurde im Februar 2019 bestätigt, dass China eine Militärbasis in Tadschikistan betreibt, von der aus es Patrouillen in Afghanistan durchführt. Die neue Seidenstraße, so könnte man aus chinesischer Perspektive meinen, braucht keinen russischen Schutz.

„Gelbe Gefahr“

Neben wirtschaftlichen, militärischen und symbolischen Asymmetrien erschwert auch der innerrussische Diskurs die Zusammenarbeit. Spätestens seit 2005 ist er vermehrt durch Begriffe wie „gelbe Gefahr“ oder „chinesische Bedrohung“ geprägt.10 In Medien sowie sozialen Netzwerken gibt es regelmäßig Berichte von zehntausenden illegalen chinesischen Einwanderern im fernen Osten Russlands, die den Russen ihre Jobs wegnehmen würden. Auch Berichte über die chinesische Abholzung der Taiga und die dramatische Verschmutzung der Böden durch eingewanderte chinesische Bauern sind verbreitet.

Ebenso mangelt es in der russischen Elite an Kenntnissen um Chancen und Risiken einer Zusammenarbeit mit China: Die Optimisten sehen darin eine Möglichkeit, russische Außenpolitik und Wirtschaft vom Westen unabhängiger zu machen. Die Pessimisten warnen davor, dass Russland sich in volle Abhängigkeit Chinas begäbe und dies noch teuer zu stehen komme, da China vor allem eigene, nicht russische Interessen durchsetze.11 

Aktualisiert am 02.02.2022


1.BBC: Brothers again? How deep is the Xi-Putin bromance? 
2.Urbansky, Sören (2015): Grenze im Fluss. China-Russland: Das Echo des Territorialdisputs, in: Osteuropa, Heft 5-6
3.vgl. ru.reuters.com: Rossija i Kitaj protiv "vmešatel'stva izvne" v dela Srednej Azii – Kreml'
4.ru-stat.com: Ėksport iz Rossii v Kitaj / Import v Rossiju iz Kitaja.
5.telsgroup.ru: Torgovlja Kitaja s Rossiej i SŠA: sopostavimaja dinamika pri nesopostavimych ob''emach.
6.Rivers without Boundaries: OBOR: One Bridge – One River ? Sino-Russian Cooperation in Infrastructure Failed the First Test
7.Zuenko, Ivan/Zuban, Semyon (2016): Torgovlja meždu Rossiej i Kitaem v 2018 g., in: Mirovaja ėkonomika i meždunarodnye otnošenija, Nr. 7, S. 70-76
8.Carlson, Brian (2018): Vostok-2018: Another Sign of Strengthening Russia-China-ties: Not an Alliance, but Defense Cooperation is growing, in: Stiftung Wissenschaft und Politik: SWP Comment, Nr 47
9.Ibid.
10.Djatlov, Viktor (2008): Ot „želtoj opasnosti“ k „kitajskoj ugroze“: ėvoljucija odnoj migrantofobii v Rossii, in: Larjuėl', Marlen (Hrsg.): Russkij nacionalizm: Social'nyj i kul'turnyj kontekst, S. 73- 86
11.Echo Moskvy: Uniženie deržavy
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose

Eurasische Wirtschaftsunion

Die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ist das jüngste und bisher umfassendste Integrationsprojekt zwischen den großen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Bereits in den 1990er Jahren wurde im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und der Gemeinschaft Integrierter Staaten, später dann als Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EURASEC) das Ziel einer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit verfolgt. Im Vergleich zu diesen Unionsbemühungen ist die EAWU allerdings mit deutlich tiefer greifenden Veränderungen verbunden.

Gnose

Russische Wirtschaftskrise 2015/16

Die Wirtschaftskrise im Herbst 2014 hatte Russland ökonomisch vor eine unsichere Zukunft gestellt. Drei unabhängige Entwicklungen setzten die russische Wirtschaft gleichzeitig unter Druck: der Einbruch des Ölpreises, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sowie strukturelle Probleme, das heißt fehlende Anreize zu Investitionen und zur Steigerung der Produktivität. Erst mit der Erholung des Ölpreises 2017 kam es wieder zu einem leichten Wirtschaftswachstum.

Gnose

Der Samowar

In Russland trägt man keine Eulen nach Athen, sondern reist mit dem eigenen Samowar nach Tula: Boris Belge über den „Selbstkocher“, die Russifizierung des Tees und die Niederlage des Samowars im Kampf gegen elektrische Kleingeräte.

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)