Melitopol im Süden der Ukraine war eine der ersten großen Städte, die im Frühjahr 2022 von russischen Truppen eingenommen und besetzt wurden. Bis dahin lebten dort fast 150.000 Menschen. Im September 2022 veranstaltete der Kreml ein Scheinreferendum. Seitdem betrachtet er das Gebiet als Teil Russlands. Anfangs wehrten sich die Bewohner gegen die Besatzung. Dann wurden die Aktivsten deportiert, wer nicht freiwillig ging, wurde bedroht oder gefoltert. Olga Mussafirowa hat mit einigen von ihnen gesprochen. Sie schildert, wie Russland eine Stadt nach und nach in seine Gewalt bringt.
An der Stadtgrenze von Melitopol hat sich im Frühjahr 2022 eine lange Schlange gebildet. Wenige Kilometer entfernt verläuft die Front. Der Fahrer dieses Wagens hat groß das Wort „Kinder” auf die Frontscheibe geschrieben / Foto © Imago, SNA
Im frontnahen Saporishshja heulen Tag und Nacht die Sirenen, oft schlagen Artilleriegeschosse ein. Vierzig Kilometer von hier Richtung Orichiw wird gekämpft, aber leider nicht nur dort …
Iwan Fedorow, gebürtig aus Melitopol und Gouverneur der Oblast Saporishshja, nennt es im ukrainischen Fernsehen seine Hauptaufgabe, eine Verteidigungslinie und Befestigungsanlagen zu bauen. Daran wird, sagt Fedorow, rund um die Uhr gearbeitet.
Am 11. März 2022 wurde der 33-jährige Fedorow (damals Bürgermeister von Melitopol, der sich weigerte, sich zu ergeben) vom russischen Militär entführt. Die Aufnahme einer Überwachungskamera zeigt, wie er von Männern mit Maschinenpistolen aus dem Amtsgebäude gezerrt wird.
Trotz der Besatzung reagierte die Stadt sofort: Die Bewohner gingen auf die Straße und forderten die Freilassung ihres Bürgermeisters. Die „Befreier“ wunderten sich: Haben die keine Angst zu protestieren? Von wem werden sie bezahlt? Am nächsten Tag verkündete Präsident Selensky, dass Fedorow gefoltert werde, damit er vor laufender Kamera sage: Russland bleibt für immer, und Widerstand ist zwecklos. Bald wurde der Entführte gegen mehrere 2002 und 2003 geborene russische Soldaten im Grundwehrdienst eingetauscht. Vor kurzem [im Februar 2024 – dek] wurde er zum Verwaltungschef der Oblast ernannt.
Den neuen Verwaltungschef nennen die Ukrainer „Gauleiter“
Melitopol hingegen wurde zur „Hauptstadt“ des okkupierten Teils der Oblast Saporishshja. Als Verwaltungschef (in der Ukraine nennen sie solche Leute „Gauleiter“) bestimmten die Russen einen Einheimischen mit militärischem Stammbaum, Jewhen Balyzky. Er war Volksdeputierter der Ukraine und des Rats der Oblast Saporishshja, Mitglied von Janukowitschs Partei der Regionen und in weiterer Folge des Oppositionsblocks. Als einer der Ersten in der Oblast erhielt er einen russischen Pass und schloss sich Putins Partei Einiges Russland an. Er war es, der sich die „Operation Deportation“ in Melitopol und anderen besetzten Gebieten ausdachte und sie auch umsetzte.
„Wir haben zahlreiche Familien ausgesiedelt. Das war alles andere als einfach“, erinnerte sich der „Gauleiter“ kürzlich und meinte damit offensichtlich moralische Hürden, mit denen sein Team zu kämpfen hatte. „Und zwar die, die gegen die Spezialoperation waren, die die russische Flagge, die Hymne oder den Präsidenten der Russischen Föderation diffamiert haben. Wir nutzten den Status, den wir damals hatten – rechtlich gehörten wir noch nicht zur Russischen Föderation –, und wiesen solche Leute mitsamt ihren Familien aus. Das taten wir, weil wir wussten: Die können wir nicht umstimmen. Und dann müssten wir noch brutaler gegen sie vorgehen. Es könnte höchste Gefahr für ihr Leben bestehen, deswegen sollen sie sich doch lieber in ihren Banderastaat verziehen und sich dort ihre ideale Welt zusammenbauen.“
„Was meinen Sie mit Lebensgefahr?“, fragte eine Journalistin eines staatlich kontrollierten Senders.
„Sie hätten einfach von Nachbarn umgebracht werden können“, erklärte Balyzky. „Leider gab es in der ersten Phase der Spezialoperation bedauerliche Fälle von Selbstjustiz. Wo Leute fremde Wohnungen bezogen, fremde Häuser ausraubten, es gab Plünderungen, auch von Einkaufsläden … Wir ließen sie gehen. Manche mussten wir dazu zwingen. Die brachten wir bis zum ‚Bändchen‘ [gemeint ist der Checkpoint, hinter dem die graue Zone beginnt – dek], dort verlasen wir den Aussiedelungsbescheid, gaben ihnen eine Flasche Wasser mit und … Aber was macht man mit einer Frau mit drei Kindern, die andere Überzeugungen hat? Die Russland eben nicht als ihre Heimat sieht. Die das, was passiert, nicht richtig findet. Sollen wir die etwa umbringen?“ Der neue russische Regionalchef wirbt beim Publikum um Verständnis. „Wir haben unseren Bescheid verlesen und sie losgeschickt. Sollen sie machen, was sie wollen.“
„Sind Ihnen solche Entscheidungen schwergefallen?“, fragte die Interviewerin.
„Ja, was denn sonst? Wenn ich doch gerade erst mit diesen Leuten Silvester gefeiert habe!“ Balyzky wirkte direkt ein bisschen gekränkt. „Wir haben an einem Tisch gesessen. Wir leben doch alle in derselben Stadt, ich bin seit 1998 in der Lokalpolitik. Ich kenne 15.000 Menschen persönlich, per Handschlag.“
Jahrelang saßen sie an einem Tisch. Heute kollaboriert der eine mit den Russen, der andere ist ins Ausland geflohen
Einen der Ersten, die aus Melitopol ausgewiesen wurden, konnte ich in Israel ausfindig machen. Mychailo Wolodymyrowytsch Kumok passt genau in die Beschreibung des „Gauleiters“: „Wir haben an einem Tisch gesessen.“ Wenn man nämlich an die Tische im Sitzungssaal des Regionalrats denkt, an denen offizielle, aber auch andere Veranstaltungen stattfanden. Eigentlich sahen sie sich fast täglich. Die Adresse der Medienholding Melitopolskije wedomosti (dt. Melitopoler Nachrichten), die Kumok gegründet und als fortschrittlichster Herausgeber der Region drei Jahrzehnte lang geleitet hat, befand sich unmittelbar neben dem Amtsgebäude des Exekutivkomitees mit dem Empfangszimmer des Volksdeputierten Balyzky. Noch dazu waren die Ehefrauen der beiden befreundet – bis zur russischen Invasion.
Auf die Besatzung von Melitopol reagierte Kumoks Familie eher verärgert als verängstigt. Tatjana, die älteste Tochter, wurde sogar zur Chronistin der Ereignisse. Sie war gerade erst nach vielen Jahren in Israel in die Ukraine zurückgekehrt, um eine Zweigstelle ihres Unternehmens zu eröffnen, ein Geschäft für Brautmode. Ihre Blogeinträge und Facebook-Postings über tägliche Entführungen, Enteignungen und andere Errungenschaften der „neuen Staatsgewalt“ wurden von Medien weltweit aufgegriffen.
Die Familie nahm an proukrainischen Demonstrationen teil, zu der größten kamen 7000 Menschen. Tatjana stellte oft Livestreams davon ins Netz. Dann begannen die Besatzer, die Proteste gewaltsam aufzulösen, und die Menschen standen vor der Wahl, entweder stillzuhalten oder über die Krim das Weite zu suchen. Eine Überquerung der hart umkämpften Frontlinie wäre wohl keine gute Idee gewesen.
Die Website der Medienholding war weiterhin in Betrieb, dort wurden die Dinge beim Namen genannt. Auch der redaktionsinterne Chat wurde weitergeführt. Mitte März wurden in einer Vorstadt zwei Journalisten festgenommen. Es war klar, es würden alle drankommen, auch der „Chef der ganzen Bude“, meinte Kumok selbstironisch.
Mychailo Kumok bekam am 21. März 2022 Besuch von den Besatzungsbehörden. Nicht nachts, sondern gegen zehn Uhr vormittags. Seine Tür wurde nicht aufgebrochen, man wartete draußen auf ihn.
Kumok schlussfolgerte: Wenn sie ohne Türaufbrechen und sonstige Special Effects auskommen, dann ist das hier die Light-Version. Er ließ die fünf Bewaffneten in Sturmhauben ein.
Während der Hausdurchsuchung mussten er und seine Frau in getrennte Zimmer gehen. Die Männer packten den Rechner und diverse Geräte ein und forderten Kumok auf, mitzukommen – „gleich hier um die Ecke“. Tatjana, die ein bisschen aufmüpfig war, musste auch zum Verhör.
„Es begann ganz klassisch mit: ‚Wir befreien euch doch …‘“, äfft Mychailo Kumok, ein fabelhafter Erzähler, sein damaliges Gegenüber nach. „‚Warum nennt ihr uns in eurer Zeitung Orks und Okkupanten?‘ – ‚Die Orks sind eine Metapher. Aber Okkupanten – was seid ihr denn sonst? Meine Festnahme macht in Israel bereits Schlagzeilen. Viel Spaß mit dem internationalen Skandal. Bald kriegt ihr den Befehl aus Rostow – freilassen!‘ So kam es dann auch, nach sechs Stunden Nervereien. Unsere Geräte bekamen wir aber erst nach und nach zurück.“
Kumok beriet sich mit der Geschäftsführerin seiner Holding, und gemeinsam beschlossen sie, die Website „stillzulegen“, um die Mitarbeiter nicht zu gefährden. Israelische Pässe hatte nur seine Familie. Dafür veranstalteten die „Befreier“ in seinem Betrieb ein Pogrom: Sie ruinierten die Überwachungskameras und klauten aus allen Büros die alkoholischen Getränke. Tatjana blieb ihrer Mission treu und stellte ein Video mit entsprechenden Kommentaren zum ‚Appetit des Russki Mir‘ ins Netz. Bei Mychailo Kumok klingelte danach wieder das Telefon: „Wir müssen uns treffen!“ – „Zweck?“ – „Bezüglich Ihrer Tochter.“ – „Das überzeugt mich. Wann sehen wir uns?“ Tatjana engagierte sich damals mit einem Wohltätigkeitsfonds für alte Menschen in Melitopol. Das „Rendezvous“ fand auf dem Friedhof statt, für die passende Atmosphäre.
Flucht oder Folterkeller – Sie haben die Wahl
Der Repräsentant der neuen Herrschaft bot ein paar Varianten zur Auswahl an, die „direkt mit Balyzky“ abgestimmt waren. Erstens: Wohltätigkeit schön und gut, aber aus der Politik soll Tatjana sich raushalten, wenn Sie in Melitopol bleibt. Zweitens: Als Geste des guten Willens bekommt die Familie die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Oder drittens: Die ganze Familie ab in den Keller. Wofür entscheiden Sie sich?
Die meisten, die ausgewiesen wurden, durften sich das nicht aussuchen.
Im Netz findet man einiges an Videomaterial zur letzten Etappe der Deportation. Diese Beiträge mit immergleicher Handlung verbreitet die Okkupationsverwaltung, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Es gibt weder Ermittlungen noch Gerichtsverfahren, nicht einmal pro forma: Balyzky entscheidet allein über jedes Schicksal.
Flüchtlinge müssen zu Fuß die Front passieren
„Vom russisch besetzten Tokmak bis nach Saporishshja sind es 80 Kilometer. Auf der Strecke liegen noch die okkupierte Bezirksstadt Wassyliwka und Dörfer, die ebenfalls von den Okkupanten kontrolliert werden“, erzählte mir Olha Bohlewska, Journalistin aus Saporishshja. „Dahinter liegt die graue Zone, dann die Zone, die von der Ukraine kontrolliert wird, Dörfer und Felder. Da wird überall geschossen, praktisch verläuft da die Front. Die Leute werden in der nackten Steppe ausgesetzt, ohne Gepäck. Wenn sie Glück haben, haben sie ihre Dokumente dabei. Sie müssen die weiteren feindlichen Checkpoints auf eigene Faust passieren und sich einen Weg durch vermintes Gelände bahnen, das jederzeit aus der Luft beschossen werden kann.“
September 2022. Angesehene ältere Bürger werden ausgewiesen. Der 74-jährige Viktor Romanow, ein bekannter Unternehmer aus Melitopol, Eigentümer der Mineralwassermarke Mirnenskaja, Inhaber von Baufirmen, Cafés und Verkaufsstellen. Außerdem der 76-jährige Nikolaj Kischko, Direktor des Agrarunternehmens Mogutschi, verdienstvoller Landwirt der Ukraine, Abgeordneter im Regional- und Bezirksrat, Ordensträger. Vor seiner Ausweisung wird Kischko drei Tage lang eingesperrt. Betroffen sind auch Wassili Massalabow, Chef der landwirtschaftlichen Genossenschaft Drushba, emeritierter Professor an der Universität für Agrotechnik in Melitopol und Doktor der Ingenieurwissenschaften, und Anatoli Hrybko, Abgeordneter des Dorfrats von Wessele und Leiter von Irida, einem Kommunalbetrieb für Wasserversorgung.
„Alles klar? Naaach rechts! Lauft!“ Die Alten lassen sich Zeit. Romanow trägt eine Wasserflasche. Seine Firma kann er nicht mitnehmen. Heute meins, morgen deins. Wie viele Menschen sich in die Ungewissheit begeben mussten und wie viele von ihnen es bis zu den ukrainischen Checkpoints geschafft haben, ist statistisch nicht erfasst. Die Melitopoler schätzen die Zahl auf Hunderte. Nicht alle sind bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen oder gar mit Journalisten zu sprechen.
Das Dorf Wessele im Bezirk Melitopol liegt versteckt abseits der Autobahn. Bis April 2022 – die umliegenden Siedlungen waren bereits von Russen besetzt – wehte auf dem Amtsgebäude die blau-gelbe Flagge. Doch gerade diese Zeit brachte eine schwere Enttäuschung, sagte Anatoli Hrybko:
„Die Hälfte der Bevölkerung hatte offenbar auf Russland gewartet. Der Rest sah bedrückt drein.“
Der ehemalige Militärkommissar im Ruhestand glaubte nicht, dass die Besatzung lange dauern würde.
„Meine Firma Irida kümmerte sich um die Wasserversorgung und den Export von Industrieabfällen. Ich komme zum Stützpunkt und treffe auf beunruhigte Schlosser: Die Russen haben Sie schon gesucht, die Pistolen im Anschlag, wir sollen bloß nicht auf die Idee kommen, kein Wasser zum Checkpoint zu leiten. Auch das benachbarte Nowoolexandriwka, wo an die sechzig Soldaten im Sportsaal einer Schule lagerten, sollen wir mit Wasser beliefern. Und sie wollten einen Bagger zum Schützengräben ausheben. Aber das geht endgültig zu weit“, Hrybko zieht mit der Handkante eine Linie über den Tisch, „keine Schützengräben für die Raschisten. Da habe ich unbezahlten Urlaub bis Kriegsende beantragt.“
Doch hin und wieder besuchte er seine Kollegen, machte ihnen Mut: „Das geht vorbei, die Ukraine wird wiederkommen.“ Und er beobachtete, was in Wessele geschah.
Die Metzgerin läuft von Haus zu Haus und sammelt Unterschriften für den Anschluss an Russland
Da wurde gerade das Referendum über den Anschluss an Russland vorbereitet. Als Agitatorin lief die Metzgerin mit Heft und Kugelschreiber von Haus zu Haus: „Wofür werden Sie stimmen?“ Auch bei Hrybko klingelte sie. Und wurde weggeschickt. Die Kampagne für die Dumawahlen verlief noch revolutionärer. Mitglieder der Wahlkommission brachten die Wahlurnen in Begleitung von MP-Schützen zu den alten Leuten nach Hause: „Hier ankreuzen!“
„Einerseits hat die Bevölkerung Angst, ihre Jobs und ihr Einkommen zu riskieren. Andererseits sind sie es gewohnt, den Mund aufzumachen: ‚Sind die Wahlen denn frei?‘ – ‚Na klar …‘ – ‚Dann bin ich für die Kommunisten und nicht für Einiges Russland!‘“, erinnerte sich Anatoli Hrybko an die Aneignung der „neuen Gebiete“ und die Einführung einer neuen Ordnung durch die Russische Welt. „Wessele ist sehr dicht mit russischem Militär bevölkert. Leerstehende Häuser werden sofort von Soldaten besetzt, die von ihren Positionen im Wald abgelöst werden und sich ausruhen wollen.“
Alles, was Anatoli Hrybko, der immer noch als Abgeordneter wahrgenommen wurde, tun konnte, war, bei freiwilligen Evakuierungen nach Saporishshja zu helfen und von dort aus humanitäre Hilfe zu organisieren. Er musste konspirative Fähigkeiten entwickeln, um weder sich noch seine Landsleute zu gefährden. Gegen Denunziation aber war er machtlos.
An einem frühen Samstagmorgen Anfang September 2022 rollten drei Autos vor Hrybkos Haus. Fünfzehn MP-Schützen stellten sich rund um den Hof auf. „Habt ihr euch nicht in der Adresse geirrt?“, fragte seine Frau im Hinausgehen.
Valentyna war Sachwalterin im Bezirksrat und verfügte über eine beneidenswerte Gelassenheit. Es war die erste demonstrative Hausdurchsuchung im Dorf.
Ein altes Abzeichen mit dem ukrainischen Wappen? Aha, ein Nazi-Symbol!
Abgesehen von Computern, Handys und Dokumenten nahmen sie auch Hochschul-Abzeichen mit, zum Beispiel die Anstecknadel des Dnepropetrowsker Regionalinstituts für staatliche Verwaltung, das Hrybko abgeschlossen hat.
„Da ist ein ukrainisches Wappen drauf, also war es für die gleich Nazi-Symbolik. Sie krallten sich auch die sowjetischen Medaillen mit Hammer und Sichel, aber dann fanden sie ein Namensschild und einen Souvenir-Pin von der UNO! Was sich über die Jahre eben so in den Schubladen ansammelt. Na, das war der Knüller: ‚Aha, du bist an dem Biolaboratorium beteiligt?!‘ Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte“, Hrybko hob ratlos die Schultern. „Zum Lachen war mir nicht. ‚Los, erzähl mal, was da gemacht wurde, wird‘s bald!‘ Die glauben das allen Ernstes. Dann entdeckten sie das Abschlussalbum von dem bereits erwähnten Regionalinstitut. Einige Kollegen trugen auf den Fotos Uniform. ‚Der ist beim SBU, und ihr habt Kontakt! Was ist sein Deckname?‘“
Sie verbanden Anatoli Hrybko mit einem Handtuch die Augen, brachten ihn nach Melitopol und sperrten ihn in eine Zelle. Er wusste nicht, wo genau er sich befand – auf der Polizeidienststelle oder im Untersuchungsgefängnis.
„Am nächsten Morgen verhörten sie mich, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie schlossen mir irgendwelche Kabel an, angeblich einen Lügendetektor.“
„Und wozu die Tüte?“
„Damit mich keiner erkennen konnte. Den, der mich verhörte, nannten sie Jegor. Ich hatte den Eindruck, dass sie aus mir einen Partisanenführer machen wollten, den sie somit entlarvt hatten. Offenbar hatten die Denunzianten ihnen das so berichtet.“
Anatoli ist bereit, alles zu sagen, wenn nur die Stromschläge aufhören
Bei den nächsten Verhören schalteten sie dann den Strom ein. Sie fesselten ihm die Hände mit Klebeband und steckten ihm Klemmen an die Finger. Er konnte nicht sehen, was passierte, er spürte es nur:
„Der Strom geht an. Aua! ‚Mit wem hast du kooperiert?‘ Sie lesen die Chats in meinem Handy, verstärken den Strom bis ich zu zucken begann. Und wieder fragen sie nach dem Biolaboratorium. Am nächsten Tag dasselbe noch einmal. Ich bin herzkrank, leide an Bluthochdruck, ich hatte keine Medikamente dabei und sie gaben mir keine.“
Anatolis Frau Valentyna warf einen Blick in das Zimmer, wo wir uns unterhielten. Sie war besorgt: Erinnerungen sind genauso schmerzhaft wie Stromschläge. In der Zelle war seine größte Angst, dass sie auch Valentyna festnehmen würden.
„Das ging so weit, dass ich selbst den Vorschlag machte: ‚Sagt mir an, was ihr hören wollt‘“, seufzte Hrybko. „Ich schwärzte mich selbst an, nach dem Motto, ja, ich habe Informationen zu russischen Truppenbewegungen weitergegeben, Flugrouten und dergleichen. Darauf steht laut geltender russischer Gesetzgebung eine Haftstrafe von mindestens 15 Jahren. Sie fragten mich auch nach meiner Haltung zur ‚militärischen Spezialoperation‘. Als ich sagte, dass ich dagegen sei, wurde ich dafür sofort mit Strom bestraft. Also schrieb ich jetzt: ‚Neutrale Haltung.‘ Ich wiederholte meinen Text vor der Kamera. Damit war die Folter vorbei.“
Auf Befreiung hoffte er gar nicht mehr. Er lebte von einem Tag auf den anderen und erwartete nichts Gutes.
„Die Zeit vergeht. Die Tür fliegt auf, ich höre ein Kommando: ‚Gesicht zur Wand!‘ Sie ziehen mir einen Plastiksack über den Kopf, legen mir Handschellen an, setzen mich in einen Wagen“, zählt Hrybko auf. „Wir fahren über eine Stunde. An der Stimme erkenne ich Jegor, der mich verhört hat: ‚Balyzky hat dir das Leben geschenkt!‘“
Denunzianten werden reich belohnt. Auf einmal haben die Nachbarn ein neues Auto
Am Checkpoint Wassyliwka drängten sich die Journalisten. Kameras der russischen TV-Sender umzingelten ihn: Eine Deportation, wie interessant, wie brandheiß! Die Urteile gegen Romanow, Kischko und Massalabow waren schon vorher veröffentlicht worden. Der völlig entkräftete Hrybko in seiner abgewetzten Kleidung wurde als Letzter gebracht. Am Schluss ertönte das übliche Kommando: „Lauft!“
In seiner schönen Villa in Wessele haben sich FSB-Leute einquartiert. Sein Elternhaus ist völlig leergeplündert. Schade um all die schönen Dinge, aber das ist nicht das Schlimmste. Hrybko plagte eine andere Frage: Wie kann er nach der Befreiung zurückkehren und mit Leuten zusammenleben, die denunziert oder sonstwie dem Feind zugearbeitet haben?
„Denunzianten werden mit 50.000 Rubel [knapp 500 Euro – dek] belohnt“, mischte sich Verwaltungssekretärin Iryna Kabanowa, eine ehemalige Ortsvorsteherin von Oserne, in unser Gespräch ein. „Die Rente beträgt 10.000 [knapp 100 Euro – dek]. So lieben die Leute eben Russland, auch wenn sie in der Ukraine geboren sind. Dabei sollten wir zusammenhalten wie Pech und Schwefel!“
Iryna Kabanowa forderte das Schicksal lieber nicht heraus. Gleich nach dem ersten Besuch des FSB, dem jemand „signalisiert“ hatte, dass Kabanowa Spitzel sei und der ukrainischen Armee Koordinaten durchgebe, ließ sie Haus und Besitz zurück und ging weg. Die Frage, wer es gewesen ist, versucht sie sich gar nicht erst zu stellen, aber die Gedanken drängen sich von selbst auf. Die einen Nachbarn haben auf einmal neue Haushaltsgeräte, die anderen ein schickes Auto. Aber das Dorf sieht aus wie tot, sagt sie. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Sie haben Angst.