In der russischen Duma haben unerwartet zwei Parteien Gesetzesentwürfe zur Bekämpfung häuslicher Gewalt eingebracht. Womöglich um Aktivistinnen das brisante Thema zu entreißen und es für eigene Regierungs-PR zu benutzen. Vorgesehen sind: höhere Strafen für Gewaltverbrechen, aber auch für Verleumdung. Und geschützt werden sollen besonders auch Männer. Das russische Onlineportal Glasnaja analysiert Chancen und Schwachpunkte der Entwürfe.
Verliert Belarus seine Unabhängigkeit? Was passiert, wenn Lukaschenko stirbt? Gibt es noch eine Chance für einen demokratischen Wandel? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski gibt Antworten auf schwierige Fragen.
Zwei kürzlich erschienene Bücher offenbaren, wie weit sich das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen von den Lehren des Christentums entfernt hat – zugunsten einer Staatsideologie.
Ihre Prognosen werden oft als pessimistisch kritisiert, doch von Militärs geschätzt: Marija Berlinska ist eine scharfsinnige Analytikerin und setzt sich für die Technologisierung der ukrainischen Armee durch Drohnen ein. Im Interview mit der Ukrajinska Prawda spricht sie über dringend notwendige militärpolitische Entscheidungen, das Worst-Case-Szenario und realistische Auswege daraus.
Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt.
Politik – von Anastassija Bahalika , Olena Rebryk , Olha Stepanjuk
Kurz nach seiner Befreiung spricht der ukrainische Menschenrechtler und Journalist Maxym Butkewytsch mit seinen Kolleginnen von Hromadske Radio erstmals über Luhansker Gefängnisse, russische Gewalt und seine persönlichen Perspektiven.
Mitte 2021 setzte Lukaschenko an der östlichen EU-Außengrenze eine Migrationskrise in Gang. Bis heute gelangen Flüchtlinge über die belarussische Grenze in die EU. Warum gibt es so wenig Interesse der westlichen Staaten, mit Minsk darüber zu verhandeln? Waleri Karbalewitsch analysiert.
Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2025. Warum gibt es im Westen so wenig Interesse für Belarus und welche Folgen hat dies für die belarussische Literatur? In diesem Essay gibt er Antworten und macht sich Luft.
Wie eine jüdische Ukrainerin die sexuelle Gewalt unter deutscher Besatzung öffentlich macht. Die siebte Folge der dekoder-Doku Der Krieg und seine Opfer.
Täglich erhalten russische Medien Leitfäden, wie Nachrichten präsentiert werden und welche Emotionen sie wecken sollen. Für diese Vorgaben sind zwei Männer aus der Präsidialadministration zuständig: Sergej Kirijenko und Alexej Gromow.
Mit viel Empathie hat der Potsdamer Fotograf Frank Gaudlitz die gesellschaftlichen Umbrüche seit dem Ende der Sowjetunion begleitet. Sein letztes Projekt hat er nach dem Überfall auf die Ukraine vorzeitig beendet. Nach Russland will Gaudlitz vorerst nicht mehr fahren. Ein Gespräch über Annäherung und Entfremdung.
Viele Kulturschaffende mussten aus Belarus fliehen, andere sind im Gefängnis. Bücher, Lieder und Kunstwerke wurden verboten. Wie kann die belarussische Kultur in solch einer Lage überhaupt bestehen? Ein Gespräch mit Sjarhei Budkin vom Belarusian Council for Culture.
Wie erinnert man sich in Deutschland an den Zweiten Weltkrieg – und wie in anderen europäischen Ländern? Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg in Russlands Krieg gegen die Ukraine heute – wie wird Erinnerungspolitik hier und da diskutiert? Und wie kann man das Kriegsgedenken heute neu denken?
„Hier liegen solche Typen, schrecklich“, sagen die Krankenschwestern. Und behaupten: „Dass einer vom Krieg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, gibt es hier nicht.“ Die Patienten sehen das anders. Eine Reportage aus der russischen Militärpsychiatrie, wo Soldaten behandelt werden, die in der Ukraine gekämpft haben.
Ein Kapitel des deutschen Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion, das oft übersehen wird, ist die Politik der „verbrannten Dörfer“ in Belarus. Die NS-Besatzer zerstörten im ganzen Land über 9.000 Dörfer – viele davon wurden für immer ausgelöscht.
Eine Reporterin des Portals Verstka hat die Bewerber an einer Rekrutierungsstelle in Moskau gefragt, warum sie in den Krieg ziehen. Die meisten sind arm, viele verzweifelt – einige nennen auch Patriotismus als Grund.
Die ukrainischen und belarussischen Staatsführungen pflegen weiterhin ein pragmatisches Verhältnis. Obwohl Alexander Lukaschenko in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verstrickt ist. Eine Analyse von Olga Loiko.
Suche nach Identität - darum dreht sich das Fotoprojekt des belarussischen Fotografen Pavel Kritchko. Er war im Osten Polens unterwegs, wo eine belarussische Minderheit zuhause ist. Wir haben mit ihm gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Haftbefehle gegen eine Handvoll Vertreter der russischen Führung ausgestellt. Welche Hoffnung gibt es, dass die Kriegsverbrechen in der Ukraine je gesühnt werden?
1000 Tage führt Russland großen Krieg gegen die Ukraine. 1000 Tage kämpfen die Menschen in der Ukraine gegen den Riesen-Nachbarn – und ihre eigene Angst. Von ihr erzählt das gar nicht so sehr fiktive Märchen des Dramaturgen Oleg Michajlow und der Illustratorin Julja Piljulja aus Charkiw.
Nach 50 Jahren erscheint Feuerdörfer erstmals auf Deutsch. Das Buch über die Wehrmachtsverbrechen in Belarus erschütterte die sowjetische Gesellschaft – ein Special, unter anderem mit der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.
Nach 600 Tagen gab es das erste Lebenszeichen von Maria Kolesnikowa. Ihr Vater durfte sie besuchen. Sie war eines der Gesichter der Proteste in Belarus im Jahr 2020, sie wurde verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Wer ist diese scheinbar unerschrockene Frau, und wie wurde sie zur Oppositionspolitikerin? Zerkalo zeichnet ihren Lebensweg nach.
Das Lukaschenko-Regime übt auf unterschiedlichste Weise Druck auf Menschen aus, die sich dem Staat widersetzen. Mediazona Belarus erzählt die Geschichte einer Familie nach der Verurteilung des Ehemanns und Vaters zu 15 Jahren Haft.
Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür.
Das Lukaschenko-Regime modelliert an einer eigenen Erinnerungskultur. Wie diese aussehen soll, erklärt der Politikwissenschaftler Waleri Karbalewitsch.
Politik – von Jewa Belizkaja , Olessja Gerassimenko
Einer der reichsten Menschen Sibiriens äußert sich gegen den Krieg und unterstützt Oppositionelle. Dabei lebt und arbeitet er weiter in Russland. Wie kann das sein?
Wer ins Visier der russischen Justiz gerät, hat künftig die Wahl: entweder ein geregelter Strafprozess, oder freiwillig an die Front. Fast jeder Dritte wählt den Schützengraben.
Am 26. Januar 2025 sollen in Belarus die nächsten sogenannten Präsidentschaftswahlen über die Bühne gehen – in einer Atmosphäre der Angst und Unterdrückung. Alexander Klaskowski erklärt, warum der Machthaber das Ereignis so schnell wie möglich hinter sich bringen will.
In den vergangenen Jahren ist in Belarus rund um die Nacht der erschossenen Dichter eine neue Erinnerungskultur entstanden. Wie sieht diese aus? Was geschah in jener Oktobernacht im Jahr 1937 und warum? In einem Bystro gibt die Historikerin Iryna Kashtalian Antworten auf diese und andere Fragen.
Belarus holt immer wieder ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land – angeblich, um ihnen eine erholsame Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Staatsmedien instrumentalisieren diese Kinder für Propagandasendungen. Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat sich diese Sendungen angeschaut und fasst die häufigsten Erzählstränge zusammen.
Den Familien gefallener russischer Soldaten steht ein „Sarggeld“ von umgerechnet rund 150.000 Euro zu. Den betreffenden Einheiten – Truppennachschub. Aus Kosten- und Statistik-Gründen drückt sich der Staat um diese Ersatzleistungen. Um zu beweisen, dass ein Gefallener der russischen Armee wirklich tot ist, ziehen darum Verwandte wie Kommandeure vor Gericht. Verstka hat sich diese Verfahren genauer angeschaut.
In der Republik Sacha im russischen Norden werden besonders viele Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen. Einige Ortschaften haben nun den Verkauf von Alkohol verboten. Eine Fotoreportage von Takie Dela.
Der revolutionäre Geist von 2020 soll den Belarussen ausgetrieben werden. Dazu gehört auch die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit. Das Online-Medium Pozirk erklärt die wesentlichen Pfeiler der ideologischen Baumaßnahmen.
Der russische Aktivist Ildar Dadin war ein ähnlich kompromissloser Gegner des Putin-Regimes wie Alexej Nawalny. Aber er wählte einen anderen Weg: den bewaffneten Kampf. Anfang Oktober ist er in der Ukraine gefallen.
Seit Ende der 1990er Jahre haben Belarus und China ihre Beziehungen deutlich intensiviert. Was verspricht sich die chinesische Staatsführung von dem belarussischen Partner? Und welche Ziele verfolgt Lukaschenko, indem er Projekte mit der Volksrepublik im eigenen Land umsetzt?
Die russische Duma hat in erster Lesung ein Gesetz gegen eine imaginäre „Childfree“-Bewegung verabschiedet. Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch stehen damit unter Strafe. In der Novaya Gazeta kommentiert der Journalist Anton Orech: „Der Staat verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“
Meinungsumfragen in repressiven Autokratien haben nur eine begrenzte Aussagekraft. Lässt sich die öffentliche Meinung anders ermitteln? Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki erklärt die Tücken seiner Arbeit und stereotype Meinungen von Belarussen.
Das ukrainische Onlinemedium Graty erläutert anhand von Fallbeispielen, wie Menschen auf der besetzten Krym für ihre pro-ukrainische oder Antikriegs-Haltung durch doppelte Bestrafung unterdrückt werden.
Im Hinterland der ukrainischen Kursk-Offensive treiben tonnenweise Fische bäuchlings in verschmutzen Flüssen. Frontliner-Reporter sind die Desna vom Norden der Ukraine nach Kyjiw abgefahren und haben sich ein Bild von der Umweltkatastrophe gemacht.
In der belarussischen Küche zeigt sich, wie viele kulturelle Einflüsse das Land in seiner Geschichte geprägt haben. Wer beispielsweise den Chaladnik erfunden hat, lässt sich nur schwer klarstellen. Der Historiker Ales Bely erklärt die kulturhistorischen Untiefen belarussischer Leckereien.
In Butscha hat sich die ukraineweit erste Freiwilligen-Luftabwehreinheit für Frauen gegründet. Reporter des ukrainischen Onlinemediums Frontliner stellen die Kämpferinnen vor.
Zu Beginn seiner Präsidentschaft war Putin Gast in zahlreichen Ländern. In den vergangenen vier Jahren ist seine Welt geschrumpft. Unsere Daten zeigen wie.
Eine Storytelling-Doku in zehn Folgen über den Deutsch-Sowjetischen Krieg 1941–1945. Zehn Geschichten − stellvertretend für etwa 27 Millionen Kriegsopfer in der Sowjetunion.
Wie es der staatlichen Propaganda gelang, Millionen Russinnen und Russen davon zu überzeugen, dass ein Krieg der sicherste Weg zum Frieden ist. Data-Recherche von dekoder und der Novaya Gazeta Europe.
Russland zwingt den ukrainischen Schulen in den annektierten Gebieten eigene Lehrpläne auf. Trotz aller Risiken gibt es aber immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken.
Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski waren die ersten beiden von insgesamt vier Oppositionellen, die vor 25 Jahren spurlos in Belarus verschwanden. Das Online-Portal Pozirk erinnert an eine Zeit, in der Lukaschenko begann, mit aller Brutalität eine Diktatur zu errichten.
Die Fotografin Irina Unruh erzählt in einem Bildband von Kirgistan, der Heimat ihrer Kindheit, von der Odyssee ihrer Familie – und von Kirgisen, die fließend Plautdietsch sprachen.
Nicht alle Menschen fliehen aus zerschossenen Frontstädten. Wie funktioniert ihr Alltag zwischen Ruinen? Der belarussische Fotograf Alexander Vasukovich war viele Male in Städten an der Front. Wir haben mit ihm über seine Arbeit im Krieg gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder aus der Ukraine.
Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Dieses Datum verbindet sich mit dem Schlüsselereignis der dritten Amtsperiode von Wladimir Putin: der Annexion der Krim. An diesem Tag formalisierte Putin den Anschluss der Krim an die Russische Föderation, der die Besetzung der Halbinsel durch russische Sondertruppen und ein sogenanntes Referendum unter russischer Kontrolle vorangegangen waren. Auf der Krim setzte Putin einen im Detail vorbereiteten Plan um, für den sich im Kontext des ukrainischen Euromaidan – Massendemonstrationen, die zu einem Machtwechsel in Kiew führten und die Westorientierung der Ukraine bestärkten – die Gelegenheit ergab.
Die militärische Aktion und Russlands Verletzung des Völkerrechts, das von der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates ausgeht, überraschten nicht nur die westliche Politik, sondern auch die Bevölkerung der Krim und Russlands. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Dieses Sanktionsregime ist im Zuge des Krieges in der Ostukraine noch verstärkt worden.
Dieser Krieg, in dem Russland lokale Separatisten im Donbass unterstützt, hat die Krimthematik zunehmend überschattet. Auch wenn die offizielle Politik westlicher Staaten weiterhin auf der Nichtanerkennung der Annexion der Krim beruht, so geht dies einher mit der Einschätzung, dass sich am derzeitigen Status quo in nächster Zeit wenig ändern wird. Diese Haltung lässt das Thema somit nicht zur Priorität werden.
Dieser politische Kontext ist ein wichtiger Teil der Erklärung dafür, warum im Rückblick die Konturen der Ereignisse von 2014 verschwimmen und auch in der deutschen Berichterstattung und Öffentlichkeit bedenkliche Schlussfolgerungen möglich sind. Die Krim-Annexion war, anders als mitunter behauptet, nicht das Resultat einer Mobilisierung der Krim-Bevölkerung für einen Anschluss an Russland, und die Krim war auch nicht „schon immer Teil Russlands“, was der Annexion den Anschein einer historischen Berechtigung verleiht.
Zugehörigkeit der Krim
In der ersten Hälfte der 1990er Jahre gab es auf der Krim politische Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit der Krim beziehungsweise einen Anschluss an Russland eine Mehrheit der regionalen Bevölkerung mobilisieren konnten. Diese Bewegung scheiterte an inneren Spaltungen und an ihrer Unfähigkeit, auf die realen sozioökonomischen Probleme der Region einzugehen. Dazu kam noch die bewusste Entscheidung des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, die Zugehörigkeit der Krim zum postsowjetischen ukrainischen Staat nicht in Frage zu stellen – das Interesse an einem guten Verhältnis zum Westen war wesentlich höher.1 Die regionale Mobilisierung auf der Krim mündete letztendlich in einen schwachen, durch seine sichtbare Institutionalisierung in der ukrainischen Verfassung jedoch symbolisch bedeutsamen Autonomiestatus der Krim.
Auch wenn russische Politiker wie zum Beispiel der ehemaliger Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, seitdem mitunter versuchten, mit Blick auf ihre Wählerschaft in Russland die Krimthematik politisch zu instrumentalisieren, gab es bis 2014 keine breitere Mobilisierung auf der Krim. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region stagnierte, der kleine, durch die Krimverfassung definierte Spielraum der Autonomie blieb ungenutzt. Die Integration der seit dem Ende der Sowjetunion zurückgekehrten Krimtataren, die von Stalin nach Zentralasien und Sibirien deportiert worden waren, wurde nicht zur Priorität Kiews, aber am politischen Wahlverhalten gemessen, war die Region fest in den Südosten der Ukraine integriert.
Chruschtschows Geschenk
Die inzwischen weit verbreitete, zu wenig hinterfragte These des historischen Anspruchs Russlands auf die Krim ist das Resultat einer höchst selektiven Interpretation der Geschichte. Das russische Narrativ der „russischen Krim“ leitet sich ab aus der Zeit von 1783, der Eroberung der Krim durch Zarin Katharina der Großen, bis 1954, dem vermeintlichen Geschenk Chruschtschows an die ukrainische Sowjetrepublik. Die Tatsache, dass die Krim vor 1783 jahrhundertelang unter krimtatarischer und osmanischer Herrschaft war, wird in der russischen Geschichtsschreibung ausgeblendet und ist im Westen einfach zu wenig bekannt. Darüber hinaus hält sich das stark simplifizierende Bild des Transfers der Krim als Chrutschtschows persönliches Geschenk an die Ukraine im Rahmen der 1954 gefeierten „brüderlichen“ russisch-ukrainischen Beziehungen (eine sowjetische Interpretation des Perejaslaw-Vertrags von 1654, in dem sich die Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyzky durch einen Treueeid den Schutz des russischen Zaren Alexej I. sicherten). Archivdokumente zeigen, dass Chruschtschow zwar eine zentrale Rolle beim territorialen Transfer der Ukraine zukommt, dass er jedoch nicht in einer politisch derart gefestigten Position war, die eine alleinige Entscheidung erlaubt hätte, und dass wirtschaftliche Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielten. Der Symbolgehalt von 300 Jahren Perejaslav wurde hingegen erst im letzten Moment hinzu addiert.2
Narrativ der „russischen Krim“
Das russische Narrativ des Krimnasch („Die Krim gehört uns“), das Kontinuität auf die facettenreiche Geschichte der multiethnischen Krim projiziert, speist sich aus einer selektiven Geschichtsschreibung. Die Region spielt dabei vornehmlich eine Symbolfunktion, die bereits in der Zarenzeit geprägt, in der Sowjetunion umgewidmet und in der postsowjetischen Zeit wiederbelebt wurde. Die Grenzen zwischen Mythen und Fakten sind hierbei fließend. Die Krim ist die Region mit einem subtropischen Klima an der Südküste, die viele an die südeuropäischen Länder, vor allem an Italien und Griechenland erinnert, und in der die russische Zarenfamilie und Aristokratie (nicht nur aus Russland) Urlaub machte. Die Region ist fest in der russischen Literatur und Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert. Puschkin, Tolstoi und Tschechow gehören zu den prominentesten Autoren, die die Krim in ihren Gedichten und Erzählungen verewigten. Die Krim wurde schließlich zum sowjetischen Urlaubsparadies der Arbeiterklasse, Pioniere und Parteinomenklatura umdefiniert.
Um die Krim ranken sich zahlreiche, von verschiedenen Völkern geprägte Legenden und Mythen. Viele Küsten- und Bergformationen tragen bildhafte krimtatarische Namen. Diese haben die Zeit der krimtatarischen Deportation überlebt und sind (wie beispielsweise der Berg Ai-Petri, ein beliebtes Touristenziel in der Nähe von Jalta) bis heute ein fester Bestandteil der regionalen Identität.
Am Beispiel der Krim gelang sowohl dem zaristischen Russland als auch dem sowjetischen Regime die Umdeutung verlustreicher Schlachten – während des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs – in russische beziehungsweise russisch-sowjetische Heldentaten. Die Präsenz der Schwarzmeerflotte vor der Küste Sewastopols, die nach 1991 zum Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine wurde und nach langen Verhandlungen Ende der 1990er Jahre unter Verrechnung ukrainischer Schulden für Energielieferungen aus Russland aufgeteilt wurde, symbolisiert diesen Teil der Geschichte. Die Stadt Chersones in der Nähe von Sewastopol gilt als die Wiege der russisch-orthodoxen Zivilisation – seit 2014 ist die mutmaßliche Taufe von Großfürst Wladimir in Chersones Ende des 10. Jahrhunderts erneut zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden.
Terra incognita
Seit der Annexion der Krim durch Russland ist die Krim für westliche Beobachter und UkrainerInnen ohne familiären Bezug zur Krim weitgehend zur terra incognita geworden. Der ukrainische Staat erlaubt den Zugang zur Region nur in einem streng definierten gesetzlichen Rahmen, und die Einreise in die Region über Russland stellt einen Verstoß gegen ukrainisches Gesetz dar. Aus den Berichten derer, die die Krim seit 2014 verlassen haben – Schätzungen zufolge etwa 40.000 bis 60.000 Menschen, darunter mindestens zur Hälfte Krimtataren3 – und aus den Berichten krimtatarischer und Menschenrechtsorganisationen sowie einiger weniger westlicher JournalistInnen, lässt sich das Ausmaß der in erster Linie gegen die krimtatarische Bevölkerung gerichteten Repressionen ablesen. Außerdem ist ein Wandel von einer von Russland geschürten Hochstimmung 2014 in eine eher abwartende Haltung erkennbar.
Einer repräsentativen Umfrage4 zufolge, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) von März bis Mai 2017 mit Hilfe eines internationalen Dienstleisters und ausgebildeten lokalen Interviewern durchführte, ist unter der Krim-Bevölkerung eine Orientierung nach innen festzustellen. Die Kontakte der Krim-Bevölkerung zum Rest der Ukraine sind fast vollständig unterbrochen. Eine schon immer stark ausgeprägte regionale Identität (krymchanin = „Krim-Bewohner“) wurde durch die Ereignisse von 2014 noch gestärkt. Die ZOiS-Umfrage zeigt in diesem Zusammenhang, dass nur sechs beziehungsweise ein Prozent der Befragten Russland beziehungsweise die Ukraine als ihr Zuhause begreifen. Zugleich haben die Menschen auf der Krim ein sehr geringes Vertrauen in die lokalen und regionalen politischen Institutionen. Die Umfrage veranschaulicht darüber hinaus das Ausmaß sozialer und wirtschaftlicher Nöte der Bevölkerung.
Nach der Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 hat der Kreml die Wahlbeteiligung und die Zustimmung für Putin auf der Krim als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland dargestellt. Damit schrieb er eine neue Seite in die mythenumwobene Geschichte der Halbinsel.
1.Sasse, Gwendolyn (2007): The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge
4.Sasse, Gwendolyn (2017): Terra Incognita: The Public Mood in Crimea, ZOiS Report 3/2017. Die Umfrage hatte zum Ziel, einen Einblick in die Stimmung und das Alltagsleben auf der Krim zu bekommen. Die derzeitige Lage auf der Krim entspricht nicht den soziologischen Idealbedingungen für eine Umfrage. Dennoch kann die Schlußfolgerung nicht sein, lieber gar nicht zu versuchen, die Stimmen der betroffenen Menschen hörbar zu machen. Die Umfrage versteht sich als ein Beitrag dazu, die Situation auf der Krim im öffentlichen Diskurs präsenter zu machen.
Um die russische ESC-Kandidatin Julia Samoilowa ist eine heftige Diskussion entbrannt. Die Debatte spiegelt zahlreiche positive wie negative Stereotype gegenüber Menschen mit Behinderung und das desolate Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine. dekoder bringt Ausschnitte aus russischen und ukrainischen Medien.
Diese Woche startet Paradies in den deutschen Kinos: Mit dem Regisseur Andrej Kontschalowski wollte Katerina Gordejewa eigentlich über den Film sprechen. Es ging dann aber vor allem über den besonderen Weg Russlands, die Beziehung zum Westen, bäuerliches Bewusstsein und die Notwendigkeit von Zensur.
Trotz Krim-Embargo tauchen plötzlich Siemens-Turbinen auf der Halbinsel auf. Was tun? „Anerkennen, dass Turbinen auf der Krim sind, aber leugnen, dass sie deutsch sind”? Mit der Siemens-Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und westlichen Unternehmen, meint Tatjana Stanowaja.
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat Freundschaften zerstört und Familien auseinandergerissen. Oksana Yushko zeigt Paare, die dem Geist der Feindschaft keinen Platz geben.
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