Der von Deutschland ausgelöste Krieg forderte schätzungsweise 25 bis 42 Millionen sowjetische Todesopfer. Die offizielle russische Geschichtspolitik zelebriere einen regelrechten „Kult um den Sieg“, meint Sergej Medwedew, eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Dabei verwandle sich das Erinnern zunehmend in einen Marketing-Gag, die dunklen Epochen der russischen Geschichte würden übertüncht.
Auf republic.ru analysiert Medwedew, inwiefern das Tragische des Krieges zunehmend als spielerische Farce inszeniert wird.
Nachrichten aus der Welt des Schönen: Einen Monat vor dem Tag des Sieges kam heraus, dass sich Russen nun eine Hitlerfrisur schneiden lassen können.
Die Facebook-Userin Olga Makarowa hatte die Preisliste eines Kinderfriseurs in einem Moskauer Einkaufszentrum gepostet, wo Kunden das „Modell Hitlerjugend in zwei Stylingvarianten“ angeboten wird.
In den sozialen Netzwerken herrschte Aufregung, die Friseurin entschuldigte sich und ließ die strittige Bezeichnung verschwinden. Aber im Zuge der Diskussion wurde klar, dass „Hitlerjugend“ in Friseur-Fachkreisen ein allgemein gebräuchlicher Terminus ist und dieser Haarschnitt in Salons und Barbershops russlandweit angeboten wird.
Wieso denn immer gleich Hitler?
Das könnte man kurios finden, für ungeschicktes Naming und eine unerfreuliche Ausnahme halten, aber das Problem liegt viel tiefer. In den letzten Jahren ist in Russland eine ganze Schicht von Wörtern und Begriffen rund um den Zweiten Weltkrieg enttabuisiert worden.
So wurde etwa das Wort „Faschist“ zu einer derart gängigen Beleidigung, dass es seine Bedeutung komplett verloren hat.
„Faschismus“ wird heute jegliche für den Sprecher unangenehme Erscheinung genannt: Faschismus findet man in Kiew und im Kreml, in den Reden von Marine Le Pen und Alexander Dugin, bei den Donezker Separatisten und den estnischen Nationalisten. Seit Beginn des Krieges mit der Ukraine hat sich das Wort bis zum endgültigen Bedeutungsverlust abgenutzt.
Ebenso armselig sind die jüngsten Versuche des Staates, Nawalny mithilfe eines anonymen Videos zu diskreditieren, in dem er mit Hitler verglichen wird – die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens sah man sogar im Kreml ein.
Hitler ist mittlerweile zum Internet-Mem geworden: Im Netz kursiert ein Demotivator, wo der beleidigte Führer aus einem Zugfenster heraus fragt: „Wieso denn immer gleich Hitler?“
Als Ergebnis dieser Wort-Inflation taucht der Haarschnitt Hitlerjugend auf, der gewitzte Unternehmer in Nowosibirsk nennt seine Banja Abwehr und versieht sie mit dem Slogan Mal so richtig Auschwitz-en1, und die Schwestern Karatygin, zwei Studentinnen aus Moskau, antworten im TV-Quiz auf die Frage „Was ist der Holocaust?“ „Ein Tapetenkleister“.
Wozu denn so an Worten kleben?
Ähnliche Fragen warf der Eistanz von Tatjana Nawka und Andrej Burkowski in Auschwitz-Lagerkluft auf. Sie tauften ihn Tanz mit Sternen, da auf den Hemden gelbe Judensterne aufgenäht waren. Und obwohl damit nur das Sujet des Films Das Leben ist schön von Roberto Benigni künstlerisch umgesetzt wurde, war ein so unbeschwerter Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust – in Form einer Unterhaltungsshow, mit applaudierendem Publikum und lächelnden Tänzern – nur durch diese Wertminderung der Wörter und Begriffe möglich, durch die Umwandlung der Katastrophe vom tragischen Symbol in eine choreografische Komposition mit historischem Thema und sicherem Sieg.
Will man manchen Leuten erklären, warum Frisuren wie Hitlerjugend moralische Konventionen sprengen, stößt man auf offenes Unverständnis: Ist doch ein stylischer Haarschnitt! Wozu denn so an Worten kleben?
Dieselbe Abnutzung von Wörtern und Bedeutungen findet sich beim Thema der Stalinschen Säuberungen. Ende letzten Jahres wurde in Moskau in der Uliza Ostoshenka das Restaurant NKWD eröffnet, und obwohl das Schild ein paar Tage später verschwand und man im Restaurant beteuert, die Abkürzung stehe für „Nationale Küchen der Großmacht“, prangen auf der Speisekarte Portraits von Stalin und Dsershinski, im Saal hängt ein großes Portrait des sowjetischen Führers, und die Kellner tragen die Militärhemden aus der Stalinzeit.
In Tjumen gibt es eine Security-Firma namens Tschekist, die Kindergärten bewacht, in Sotschi die Firma Stalinism, in Barnaul gab es mal einen Erdbaubetrieb namens Gulag und in Wolgograd die OOO Berija. Ihre Besitzer sind wohl kaum überzeugte Verfechter der Säuberungen (auch wenn man das nicht ausschließen kann). Wahrscheinlich wollen sie provozieren und finden, diese Namen hätten Witz und Schärfe, und moralische Bedenken kennen sie nicht.
Zwei Arten von historischem Gedächtnis
Hier muss man einräumen, dass im modernen Russland zwei Arten von historischem Gedächtnis existieren: das traumatisierte und das spielerische.
Zunächst zum traumatisierten: Das entstammt der Erinnerungskultur der Nachkriegsgenerationen, basiert auf dem Trauma des Krieges, der Liste von Verlusten, auf der Idee, der Krieg sei eine fundamentale Katastrophe gewesen und ein Opfer, das die Nation gebracht habe.
Der sowjetische Diskurs über den Krieg war abgesteckt von moralischen Markern und Tabus, von inneren Beschränkungen und stilistischen Vorgaben. Es war nicht üblich, laut von Heldentaten und Siegen zu sprechen, der Kameraden gedachte man schweigend, ohne mit den Gläsern anzustoßen, ja, und sogar der Tag des Sieges hatte noch 30 Jahre nach dem Krieg, als die Mehrheit der Veteranen noch lebte, den Charakter eines Gedenkrituals, eines frühlingshaften, weltlichen Osterfestes: Ein Fest, begangen mit Augen voll Tränen trifft es am besten.
Faschisten gab es in der Propaganda, aber nicht im Alltag
Das Wort „Faschist“ trug eine ernsthafte moralische Ladung, vor allem für die Generation, die den Krieg miterlebt hatte.
Genauso war der Name „Hitler“ ein mystischer Fluch, den man nicht achtlos aussprechen durfte, da er beim Sprecher blanken Hass auslöste. So erzählte mir meine Mutter, wie sie sich als Kind nachts grausame Hinrichtungen für ihn ausgedacht hatte.
Und dann gibt es noch ein anderes Kriegsgedenken: das Spiel. Kinder haben es immer gespielt: Als Schuljungen konnten wir einander als „Faschisten“ und Hitler beschimpfen, doch den Erwachsenen war das verboten.
Außerdem kamen Faschisten in der Propaganda vor, aber nicht im Alltag.
Ins normale Leben hielten die Faschisten in den 1990ern Einzug. Dieser Wendepunkt ist in Brat 2 von Alexej Balabanow deutlich markiert (zusammen mit Brat 1 eine bis heute gültige Enzyklopädie des russischen Unbewussten): Danila wird zum Waffenkauf in einen Keller geführt, die Figur des Verkäufers trägt den Namen „Faschist“ und eine Wehrmachtsjacke. Danila, mit seinem moralischen Bewusstsein, sagt verblüfft: „Also, mein Opa ist im Krieg gefallen“, worauf Faschist phlegmatisch meint: „Soll vorkommen.“
Und das war’s dann – das Ende der normativen Kultur, der Beginn der Spiel-Realität, in der Danilas Augen beim Anblick der Schatzkammer voller Waffentrophäen zu glänzen beginnen („Hör mal, woher ist das alles?“ – „Ein Echo des Krieges.“).
Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit
In den 2000er Jahren drang die spielerisch-kindliche Vorstellung vom Krieg in die offizielle Ideologie und ins Massenbewusstsein durch – der Krieg wurde als harmloses Soldatenspiel betrachtet, die Erinnerung mythologisiert und kommerzialisiert, sie wurde zur gefragten Ware auf dem Markt der Ideologien und Identitäten. Die Epoche der historischen Rekonstruktion und politischen Restauration hatte begonnen.
Anhänger des zweiten spielerischen Erinnerungstyps sind ebenfalls erfüllt von moralischem Bewusstsein, aber hier ist es bereits Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit, von Hochmut und Selbstisolierung.
Die Opfer sind Anlass zum Stolz, nicht aber zur Trauer. Während das traumatische Gedenken wie eine Beschwörung wiederholt „bloß kein Krieg mehr“, verkündet die spielerische Erinnerung großmäulig: „Wir können das auch wiederholen!“
Pyrotechnik ersetzt Patriotismus
In diesen Maitagen läuft in Russland wieder das Festival der Wiederholer, und an den Autos tauchen widerliche Sticker auf, auf denen unter eben diesem Motto Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. Das Land versenkt sich in ein endloses Sarniza-Spiel, in dem der Krieg inszeniert und rekonstruiert und Patriotismus durch Pyrotechnik ersetzt wird – von Alexander Saldostanows Biker-Pride auf der Krim bis zur heiteren Stürmung des Sperrholz-Reichstags im Freizeitpark Patriot.
Extra zu erwähnen ist die Live-Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs im Donbass mit Hilfe von militärhistorischen Klubs: Die Schlacht um Awdijiwka verwies direkt auf Gefechte des Großen Vaterländischen Kriegs, ukrainische Kriegsgefangene wurden durch Donezk getrieben wie deutsche 1944 durch Moskau. Und Strelkow erschoss Plünderer und Marodeure auf Grundlage einer Verordnung Stalins von 1941.
Die Grenze zwischen Tragödie und Trolling verschiebt sich
Für das spielerische Erinnern ist charakteristisch, dass Menschen zu Spielzeugsoldaten werden, zu Hieroglyphen auf einem Plakat, zu den Steinen eines Brettspiels. Die Inflation von Erinnerung und Trauer führt dazu, dass Personen und Dinge, die wir uns nicht getrauten, beim Namen zu nennen, jetzt zu Memes, Werbegags, Markennamen werden – und dann gibt es eben Hitlerjugend-Haarschnitte und Holocaust-Tänze. Vor unseren Augen verschiebt sich die Grenze zwischen Tragödie und Trolling, Schmerz und Witz, Traumata werden enttabuisiert und bereinigt.
Das ist wahrscheinlich der Zeitgeist, die Postmoderne. An die Stelle der Generationen, die mit Kriegs- und Lagerprosa aufwuchsen, tritt eine Generation, die mit Fjodor Bondartschuks Stalingrad und Sachar Prilepins Obitel aufgewachsen ist, mit Memes, Videogames, bunten Kriegsfilmen und einer Light-Version der Geschichte.
Auch der Staat macht gern auf postmodern, veranstaltet Reenactments und Paraden, betäubt die Erinnerung an Tragödien und verstärkt den Kult um den Sieg und die Erfolge der UdSSR.
Spiel statt Trauma, Anästhesie statt Schmerz, Cosplay statt Katharsis: Vor unseren Augen ist das neue, ungetrübte Bewusstsein der 2000er Jahre geboren, das sich ohne Zögern das Georgsband anheftet, die Kinder in Tschekistenkostüme steckt und mit derselben Leichtigkeit beim Friseur oder in der Propaganda den Namen Hitlers dekliniert – die Geschichte ist ein Rummelplatz geworden, auf dem alles tanzt.