Den 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland mussten die meisten Russen im Stillen begehen: Die große Parade in Moskau am 9. Mai war wegen der Corona-Ausgangssperren abgesagt, die landesweit gezündeten Feuerwerke konnten die meisten Menschen nur aus dem Fenster sehen.
Das stille Feiern im Privaten steht im krassen Kontrast zu den sorgsam orchestrierten Massenveranstaltungen der vergangenen Jahre, die den Tag des Sieges eigentlich begleiten. Dieser Tag ist der wichtigste Nationalfeiertag Russlands und gilt immer mehr als der zentrale Baustein der offiziellen Geschichtspolitik.
Auf Republic fragt Andrej Archangelski, was es für die Erinnerungskultur Russlands bedeutet und was man aus der Stille des 9. Mai 2020 heraushören kann.
Entspricht die derzeitige Stille nicht auf merkwürdige Art dem Wichtigsten an diesem Tag des Sieges, der Erinnerungsarbeit?
Was hörst du, wenn du den Kriegserinnerungen allein gegenüberstehst, wenn dir niemand vorsagt, was du zu tun hast? Im Grunde stehen wir schon lange in diesem Sinne allein da – seit dem Tod unserer Vorfahren.
Erinnerungen aus zweiter Hand
Die Erinnerungen von uns, den Enkeln derer, die gekämpft haben, ist in vielem eine Erinnerung aus zweiter Hand, es sind Film- und Fernseherinnerungen. Der Philosoph Vitali Kurennoi nennt das, was uns heute umgibt, all diese Kopien von Helmen, Feldgeschirr und Zeltponchos, eine „Touristenkultur“.
Anfangs war da ein gewisses „Sortiment a là Arbat” – mit Matrjoschkas und Wodkaflaschen in Form von Kalaschnikows, die in den 1980er und 1990er Jahren den Touristen zum Kauf vorbehalten waren. Erst in den 2000er Jahren wurden sie Teil unserer Kultur.
Das was wir anfangs anderen als unsere Identität verkauft haben, haben wir uns erst später zugelegt. Diese Touristenkultur strotzt vor Plattheit und Geschmacklosigkeit. Doch sie bedeutet, dass wir zu diesem Krieg kein eigenes Verhältnis mehr haben, sondern mit der Distanz von Touristen daraufschauen.
Wir leben nicht mehr „im Krieg” wie unsere Vorfahren, sondern außerhalb. All dieser Siegeswahn bedeutet einzig Folgendes: Je frenetischer die Rufe über die Großväter, desto offensichtlicher verlassen und verdrängen unsere Zeitgenossen die wahren Kriegserlebnisse.
Wer die Vergangenheit zensiert, schafft im Endeffekt ganze Keller von verdrängten Erinnerungen
Andererseits ist unsere Vorstellung vom Krieg heute ungleich vollständiger als die der drei vorangegangenen Generationen zusammen. Wer will, kann heute selbstverständlich ein Bild vom Krieg „ohne Stalin“ sehen – also ohne Propagandahülsen, die die Menschen jahrzehntelang vor gefährlichen Fragen bewahrt haben. Es scheint, das widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Je weiter der Krieg zurückliegt, je weniger Zeitzeugen es gibt, desto weniger Wissen. Aber nein. Hier ist das Paradox des totalitären Regimes: Wer die Vergangenheit zensiert (mit den Worten: „Es ist noch nicht an der Zeit“), der schafft im Endeffekt ganze Keller und Lagerstätten voll von verdrängten Erinnerungen – die heute unter dem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Und sogar die teilweise Veröffentlichung von Unterlagen über den Krieg verändert unsere Vorstellung grundlegend.
Das fängt beim Einfachsten an – bei der Sprache, mit der über den Krieg gesprochen wird. Damals in den 1980er Jahren, als die Veteranen in die Schule kamen, war man erstaunt, wie sie über den Krieg sprachen: als hätte man ihnen fremde Worte in den Mund gelegt. Diese offizielle Kriegs-Sprache, der auch heute reproduzierte „Kanon“, gekünstelt und aufgeblasen, wurde in den frühen 1970er Jahren erfunden. Doch warum haben sich die Veteranen selbst damals mit dieser Verfälschung arrangiert, warum haben sie sich bereit erklärt, auf diese Weise darüber zu sprechen?
Wahrscheinlich waren die Erfahrungen aus dem Krieg in keiner Sprache ausdrückbar
Der Soziologe Boris Dubin glaubte, dass in den 1970er Jahren eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen den Veteranen und dem Staat getroffen wurde: Die Veteranen gaben freiwillig die allzu persönlichen Erinnerungen auf – und bekamen im Gegenzug gesellschaftliche Anerkennung und staatliche Zuwendungen (gerade damals hat man nämlich angefangen, Veteranen auf staatlicher Ebene zu ehren). Wahrscheinlich jedoch waren die Erfahrungen, die sie im Krieg gemacht haben, in keiner der verfügbaren menschlichen Sprachen ausdrückbar: Es war viel bequemer für die Psyche, sich hinter den staatlich vorgegebenen Worthülsen zu verstecken.
Persönliches, digitales Gedenken
Es schien, uns könnte nichts die authentischen Erfahrungen und Überlieferungen zurückbringen – doch es geschah ein Wunder: Immer noch tauchen bislang unbekannte Memoiren auf.
So wird die Erinnerung an den Krieg ständig genauer, gleichsam von innen heraus. Die tragische Dimension des Sprechens über den Krieg kehrt trotz Zensur zurück. Und schließlich können wir dank elektronischer Ressourcen (OBD-Memorial und Podwig Naroda) Unglaubliches tun: Die Schicksale von fast allen nachvollziehen, die gekämpft haben, gestorben sind oder gefangen genommen wurden. Wie erstaunlich es doch ist: Nach 60 bis 70 Jahren war es gerade die seelenlose digitale Welt, die es schaffte, das Bild des Krieges minutiös wiederherzustellen – nicht im metaphorischen Sinne, sondern buchstäblich. So wird der Krieg des 20. Jahrhunderts dank der Erfindung des 21. allmählich zu einer privaten, persönlichen Angelegenheit eines jeden.
Aber wie man den Tag des Sieges unter den neuen Umständen begehen soll, versteht nach wie vor niemand. Jeder Versuch von Graswurzel-Initiativen schafft neue Monster, in Form skurriler Slogans oder Fotos wie in den vergangenen Jahren oder in Form von „Georgs-Masken“ in diesem Jahr. Natürlich sind das Geschmacklosigkeiten, aber sie sind auch eine Folge der unterdrückten persönlichen Verantwortung der Bürger. Wenn der Staat den Menschen wenigstens bei den Feiertagen vertrauen und nicht nach Kontrolle der Emotionen streben würde, dann müsste niemand quälend nach einer Antwort suchen auf die Frage, wie man das Fest in Zeiten der Pandemie begehen soll.
Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen?
Die Organisatoren des Unsterblichen Regiments haben in diesem Jahr vorgeschlagen, nach einer landesweiten Schweigeminute am 9. Mai um 19 Uhr mit Porträts der Veteranen auf die Balkone zu treten und Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) anzustimmen. Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen? Es ist eine Nachahmung der neuen europäischen Tradition des Balkonklatschens, um Ärzte und das Leben selbst zu loben. Doch dieses Ritual lebt von seiner Spontaneität, vom persönlichen Elan der Menschen. Und wenn selbst das Repertoire vorab vereinbart ist, wenn alle dasselbe singen müssen (wieder im Chor!), dann nimmt das jeder Aktion die Aufrichtigkeit und Natürlichkeit.
Wie nun können wir den Geist des Festes während der Pandemie wahren? Dafür muss man, so seltsam das klingen mag, Gemeinsamkeiten finden – zwischen dem Sieg von 1945 und der Erfahrung unserer Tage. Der Philosoph Alain Badiou schreibt von einer eigenartigen Doppelnatur der französischen Résistance: Es war ein Kampf gegen die Nazis, aber gleichzeitig auch ein Kampf darum, „man selbst, ein Mensch zu bleiben“. So klingt heute auch die Antwort auf die Frage, wofür unsere Soldaten gekämpft haben, zusammen mit den amerikanischen, britischen, französischen, polnischen, kanadischen, neuseeländischen und anderen Waffenbrüdern: Für eine Welt der Zukunft, eine Welt der Moderne – gegen die Finsternis, gegen die dunklen Geister.
Mensch bleiben
Das Wesen der heutigen Selbstisolation liegt komischerweise genau darin: Wir wollen nicht bloß das „Unheil überleben“, sondern Mensch bleiben, an die Zukunft glauben und nicht an Michalkows Märchen. Die Antwort auf die Frage, wie Fest und Pandemie zusammen gehen, ist einfach: Es soll ein Ehrentag der Menschlichkeit sein, des Sieges über die Umstände, der Bereitschaft „noch zwei Wochen durchzuhalten“ für das Allgemeinwohl (was für unsere Leute, wie sich zeigt, unerträglich ist). Doch für einen solchen gedanklichen Sprung braucht es vor allem freies Denken und nicht blinde Treue gegenüber dem Ritual. Man sollte meinen, die Pandemie hätte uns vieles lehren müssen, doch selbst sie ist anscheinend nicht imstande, uns zu verändern.