Wie findet man nach einer Gewalterfahrung zurück ins Leben? Kann es nach dem Krieg eine Normalität geben? Diese Fragen lotet der 28-jährige Regisseur Kantemir Balagow in seinem Film Dylda (engl. Fassung: Beanpole) aus, der in fast gemalten Bildern eine Frauenfreundschaft in Leningrad nach der Blockade und dem Großen Vaterländischen Krieg beschreibt.
Der Film wurde international mehrfach ausgezeichnet. In Cannes etwa lief Dylda in der Sektion Un Certain Regard und erhielt den Preis für die Beste Regie sowie den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker. Außerdem stand er auf der Shortlist für den sogenannten Auslands-Oscar (auch wenn es am heutigen Montag keine Nominierung für ihn gab).
Tatjana Rosenschtain hat mit dem Regisseur Kantemir Balagow für Kommersant-Ogonjok gesprochen.
Tatjana Rosenschtain: Aufgrund Ihres Alters, Sie sind 28 [zum Zeitpunkt des Interviews und im russ. Original noch 27 – dek], werden Sie oft als Jungregisseur bezeichnet. Doch Sie wagen sich an komplexe Themen heran. Der Große Vaterländische Krieg, die Nachkriegszeit: Woher schöpfen Sie Ihre Vorstellung von dieser Zeit, Ihr Wissen darüber? Auf welche Grundlage stützen Sie sich?
Kantemir Balagow: Alles begann mit dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Als ich es gelesen habe, eröffnete sich mir eine ganze Welt. Davor hatte ich selten über den Krieg nachgedacht und fast nie über das Schicksal der Frauen, die ihn überlebt haben. Laut Statistik ist der Zweite Weltkrieg der Krieg mit der höchsten Frauenbeteiligung. Das hat mich vor viele Fragen gestellt. Ich fragte mich: „Was passiert mit einer Frau, die von der Front zurückkehrt?“ Oder: „Wie kann eine Frau nach den Dingen, die sie im Krieg gesehen hat, neues Leben geben?“ Ich glaube, der Krieg führt zu einem erheblichen Knacks in der Psyche einer Frau. Er verstümmelt sie, und es braucht viel mehr Zeit, bis sie wieder zu einem normalen Leben zurückfindet.
Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren
Unter meinen Altersgenossen gibt es viele, die sich nicht für das Thema Krieg interessieren und nichts über diesen Abschnitt der Geschichte wissen. Das ist verständlich, für sie ist das längst Vergangenheit. Viele denken: „Es gab einen Krieg, na und?“ Ehrlich gesagt, habe ich bis vor Kurzem so ähnlich gedacht. Aber dann wurde mir klar, dass es meine Pflicht ist, einen Film über dieses Thema zu drehen, als Regisseur, als Mensch und als Staatsbürger. Es war mir wichtig, die Folgen des Krieges durch die Augen meiner Generation zu zeigen.
Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen
Anders gesagt: Einen Film für meine Altersgenossen zu machen, für junge Leute. Wahrscheinlich habe ich das Thema auch deshalb gewählt, weil sich in mir eine Art Zeitverschiebung ereignet hat: Ich will nicht so sehr die Geschichte nachbilden, sondern mir aus der Vergangenheit universelle Geschichten ausborgen. Heute glaube ich tatsächlich, dass Ija und Mascha (so heißen die beiden Protagonistinnen im Film – Ogonjok) 1945 gelebt haben. Um sie auf der Leinwand zu verkörpern, haben meine Darstellerinnen viel geprobt und sich in das Thema vertieft. Sie haben Alexijewitsch gelesen oder zum Beispiel die Erzählungen von Andrej Platonow. Es war mir wichtig, dass sie es schaffen, die Atmosphäre der Zeit einzufangen.
Man hat den Eindruck, dass Sie Ihr Thema gefunden haben: Sie erzählen vom menschlichen Schmerz, losgelöst vom Kontext. Nehmen wir zum Beispiel Ihre Hauptfigur. Man könnte Ihre Arbeit auch mit der eines Psychotherapeuten vergleichen: Sie versuchen, das Trauma mit dem Zuschauer durchzusprechen. Da ist wiederum die Frage: Woher kommt dieses Interesse an den tragischen Aspekten des Lebens?
Ich interessiere mich für die Menschen. Ich mag es, in ihre Psychologie einzutauchen, Grenzzustände und die menschlichen Reaktionen zu beobachten. Ich möchte herausfinden, wie sich unmoralische Handlungen auf ihr späteres Leben auswirken.
Wie wirken sich unmoralische Handlungen auf das spätere Leben aus?
Ich glaube außerdem, dass menschliches Leid unabhängig von der Epoche, der Zeit und der Entwicklungsstufe einer Gesellschaft existiert.
Menschliche Gefühle sind nicht transformierbar, sie verändern sich nicht mit dem Entstehen sozialer Netzwerke oder technischer Geräte. Etwas sitzt in uns, im Inneren des Menschen; dieses Etwas kann die Schattierung oder Richtung ändern, aber im Kern bleibt es gleich.
Ich glaube, die Russen reagieren sehr empfindlich auf Schmerz. Hier herrschten schon immer harte Lebensbedingungen, die eng mit den Gesellschaftssystemen verbunden waren. Ich kann nicht beurteilen, wie hart die Geschichte der Franzosen, Engländer oder Italiener ist. Ich bin in Russland geboren und habe keinen Vergleich. Aber mir scheint, dass die russische Geschichte komplizierter und schwieriger ist als die europäische. Repressionen, Kriege, die Härten des Alltags – das alles prägt das Weltbild. Nach so viel Leid sind die Menschen so.
In Russland werden heutzutage viele Filme über den Krieg gedreht. Was denken Sie, was unterscheidet einen Hurra-Patriotismus von einem echten, natürlichen?
Ich finde, man muss die Erinnerung an die Gefallenen im Stillen bewahren. Sie erforschen, kennen, sich dafür interessieren, und sie nicht an jeder Ecke herausposaunen. Das bedeutet Respekt und Würde. Der Hurra-Patriotismus mit seinem Paradigma „wir können das wiederholen“ führt zu Kriegseuphorie. Die Folgen eines solchen Patriotismus sind traurig, sogar katastrophal, sie können zu einem neuen Krieg führen.
Ich bin überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss
Als Regisseur bin ich überzeugt, dass jeder Kriegsfilm im Grunde ein Antikriegsfilm sein muss und sich auf das Schicksal der Menschen konzentrieren. So ist es bei Dylda – der Film erzählt von den Auswirkungen des Krieges auf Einzelschicksale, davon, wie schwer es diesen Menschen fällt, zu ihrem Leben vor dem Krieg zurückzukehren. Ich persönlich denke, eine Rückkehr ist für sie unmöglich.
Jemand, der als Jugendlicher, mit 17 oder 18, in den Krieg gezogen und mit 24 oder 25 zurückgekehrt ist, hat seine Jugend verpasst. Er wird diese Leerstelle, die verpassten Lebensabschnitte nie mehr füllen können. In meinem Film gibt es eine Szene, in der Mascha ein grünes Kleid anprobiert, das ihre Nachbarin, eine Schneiderin, für einen Auftraggeber näht. In dem Moment, als sich die seelisch und körperlich angeschlagene junge Frau (ihr droht Unfruchtbarkeit, ihr einziger Sohn ist gestorben) in dem festlichen Kleid vor dem Spiegel dreht, begreift sie, dass sie die verpassten Jahre nie mehr zurückholen kann. Sie wird niemals jung sein, und das ist eines der zentralen Themen in meinem Film. Warum es nie wieder Krieg geben darf.
Mir schien, dass Mascha ihren Schmerz besonders dramatisch erlebt und ihn sogar auf ihre Freundin Ija (Dylda) überträgt. Kann man für den Schmerz eines anderes verantwortlich sein?
Das sehe ich anders. Sie überträgt ihren Schmerz nicht, sie teilt ihn mit ihrer Freundin, weil diese bereit ist, ihn zu teilen. Die beiden Frauen zehren von ihren gegenseitigen Gefühlen. Wie Yin und Yang – sie scheinen zu verschieden, aber sie ergänzen sich perfekt. Mascha pocht darauf, dass ihre Freundin ein Kind zur Welt bringt, das ihre seelischen Wunden heilt. Ich denke nicht, dass sie damit recht hat.
Wenn man sich die Zukunft der beiden Heldinnen vorstellt, glaube ich, dass ihre seelischen Wunden, genau wie ihre physischen, nicht heilbar sind. Ich wurde mehrfach gefragt, warum die beiden Frauen so gelassen auf den Tod, den Verlust ihrer Nächsten reagieren. Das ist die Reaktion von Menschen, die jahrelang in der Atmosphäre von Gewalt gelebt haben, sie haben sich an den Tod gewöhnt, deswegen traumatisieren sie neue Verluste nicht mehr. Wenn man ihren Zustand beschreiben wollte, dann würde ich sagen, dass beide „in Trümmern liegen“.
Ihr Film ist wunderbar inszeniert, sehr stimmungsvoll, doch es schwingt eine gewisse Theatralik mit, die, wie ich finde, dem russischen Kino insgesamt eigen ist und durch eine starke Theatertradition genährt wird …
Wenn Sie meinen Film als zu theatralisch empfinden, habe ich meine Aufgabe als Regisseur vermutlich nicht gut erfüllt. Wobei es einen Aspekt gibt, der mir in dem Film besonders wichtig ist: die Darstellung der Stille. In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste. In ihr lebt unsere Seele. Für mich zählt nicht so sehr der Inhalt der Dialoge, sondern das, was dazwischen geschieht, in der Stille. Der Inhalt erzeugt die Form.
In der Stille passiert das Stärkste, Tragischste, Wichtigste
In meinem ersten Film Tesnota war die Heldin eine Rebellin, deshalb ist er viel dynamischer und schneller geschnitten. In Dylda geht es um eine andere Zeit, andere Menschen. Weil Ija aufgrund eines Kopftraumas immer wieder in Starre verfällt, atmet die Kamera mal, mal friert sie ein.
Außerdem war es mir wichtig, das Leningrad der Nachkriegszeit nachzubilden: Die ganze Stadt hat die Blockade erlebt. Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen.
Die wunderschönen Gebäude haben nicht stark gelitten, aber in den Schicksalen und Seelen der Menschen hat die Belagerung tiefe Narben hinterlassen
Es war mir wichtig, die Stadt so zu zeigen, wie sie in jenen Jahren war. Die Straßenbahn war eine Leihgabe des Museums für Elektromobilität in Sankt Petersburg. Der Mercedes, den der Sohn der Parteifunktionäre fährt, wurde 1938 gebaut, der Darsteller musste eine spezielle Schulung durchlaufen, um ihn fahren zu können. Ijas Zimmer gibt die typische Atmosphäre der Nachkriegs-Kommunalwohnungen wieder, mit Wänden, an denen mindestens fünf Tapetenschichten klebten: von der vorrevolutionären Zeit bis nach dem Krieg, als man anstelle von Tapeten Zeitungen benutzte. Wir haben Archive durchforstet, haben uns von einem Historiker beraten lassen. Als er die Rekonstruktion der Petersburger Wohnung gesehen hat, war er erstaunt, wie genau sie war.
Bei der Arbeit an Dylda ließ ich mich von bildender Kunst inspirieren, insbesondere von holländischer Malerei. Die Farbpalette des Films wird von Rot- und Grüntönen dominiert. Die Gegenüberstellung dieser Farben kann man mit dem Gegensatz von Trauma, Schmerz und dem Leben selbst vergleichen.