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„Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

„Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst“ und schon stürzte am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion das ganze Land in einen kollektiven Schock. Völlig unvorbereitet stemmte sich die UdSSR gegen die deutsche Übermacht, die auf ihrem Vormarsch Tod und Verwüstung hinterließ. Die genauen Opferzahlen sind nicht ermittelbar, nicht zuletzt deshalb, weil sie seit dem Kriegsende ständig zum Politikum gemacht werden: So sprechen neueste Schätzungen aus Russland von rund 42 Millionen sowjetischen Opfern des von Deutschland ausgelösten Großen Vaterländischen Krieges.
Ein Politikum ist die Kriegsgeschichte selbst: Der Kreml monopolisiere die Geschichtsdeutung, so die Kritik zahlreicher Sozialwissenschaftler. Tatsächlich können abweichende Interpretationen seit 2014 sogar strafrechtlich geahndet werden – als sogenannter „Ausdruck von Respektlosigkeit“.  

In einer Zeit, in der das abweichende Erfahrungsgedächtnis zusehends einer staatlich-verordneten Erinnerungskultur weicht, werden die Stimmen der Zeitzeugen umso wertvoller. Zu den gewichtigsten gehört Daniil Granin. Mit 22 Jahren kam er an die Front, jung, beherzt und naiv. Schnell eignete er sich eine Kriegslogik an. Nach dem Krieg verarbeitete er seine Erlebnisse in zahlreichen Publikationen, die zum Teil auch ins Deutsche übersetzt wurden.

Im Interview mit der Novaya Gazeta reflektiert und hinterfragt der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller nochmal das Vergangene sowie den heutigen Umgang damit. Und widerlegt vortrefflich das Klischee, dass „Zeitzeugen die größten Feinde des Historikers“ seien.

Quelle Novaya Gazeta

„Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta

Daniil Granin: In den ersten Jahren nach dem Sieg verbot uns die Zensur zu erzählen, wie wir 1941 in den Krieg gezogen sind und gekämpft haben. Und auch wir selber erzählten lieber vom späteren Vormarsch. Wie wir in Berlin einmarschierten. Aber wie es am Anfang war, welche kolossalen Verluste wir erlitten hatten, den Rückzug angetreten hatten, getürmt waren, Stadt um Stadt ausgeliefert hatten – darüber wollten wir nicht sprechen. 

Das war die tragischste Zeit – der Anfang des Krieges. Als unser Militärtransport im Juli 1941 an die Front fuhr, sangen alle Lieder. Wir waren glücklich, dass wir ins Volksheer gekommen waren. Ich war vom Wehrdienst freigestellt worden und arbeitete in einem Konstruktionsbüro für Panzer. Meine Aufnahme ins Volksheer hatte ich nur mit Mühe durchgesetzt. Ich dachte: Wie kann das sein? Es ist Krieg! Und ich soll nicht teilnehmen?! Das ist ein unbeschreibliches Gefühl ...

Im Nachhinein kommt es einem irgendwie einfältig vor, dumm.

Novaya Gazeta: War das der Glaube an sich selbst oder an das Land?

Es war die allgemeine Stimmung, aber auch meine persönliche Überzeugung, dass wir bald siegreich zurückkehren würden. Wir hatten keine Ahnung vom Krieg. 

Da war auch noch ein anderes Gefühl. Das hat uns in den ersten Kriegsmonaten zu schaffen gemacht: Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst und mit ihm angestoßen. Hatte Deutschland „unseren Freund“ genannt. Wir zogen in den Krieg, ohne mit Zorn gerüstet zu sein. In uns wuchs ein Gefühl von Befremden und Kränkung: Wie konnte das sein? Sie hatten uns ohne jegliche Vorwarnung angegriffen.

Nicht nur unsere Politiker waren den Deutschen auf den Leim gegangen, betrogen worden und in die Falle getappt, sondern auch wir: Wir waren im Wortsinn und moralisch unbewaffnet losgezogen.

Wir hatten keine Ahnung vom Krieg

Als der erste deutsche Pilot bei uns in Gefangenschaft geraten war, sprach der mit uns von oben herab, wie mit einer niederen Rasse, mit der Überlegenheit eines Ariers und Militärs. Er kündigte an: „Ihr seid dem Tode geweiht.“
Wir bemühten uns, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Thälmann, Karl Liebknecht, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Das war ja überall präsent, in allen Zeitungen. Es dauerte tatsächlich ein paar Monate, bis wir genug Hass und Zorn beisammen hatten. Bis wir jedenfalls die freundschaftlichen Gefühle und Gesinnungen losgeworden waren.

Woher nahmen Sie den Hass?

Von den deutschen Soldaten. Die hinterließen nach ihren Angriffen niedergebrannte Dörfer, zerstörte Städte, Galgen. Aber die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

Dieser Krieg war ja nicht dazu da, irgendwelche Gebiete zu erobern. Nein. Sie drangen Richtung Moskau vor, um Russland zu zerstören. Leningrad zu vernichten. Hitler sagte wörtlich: „dem Erdboden gleichzumachen“.

Die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

Im ersten Kriegsjahr war vieles völlig unbegreiflich. Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Ich bekam kein Gewehr. Es wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt. Aber wo waren unsere Waffen? Wo unsere Flugzeuge? Warum bombardierten uns die Deutschen, und wir hatten überhaupt nichts zur Verteidigung auf unserem Frontabschnitt, zum Beispiel Jagdflugzeuge?

Völlig unerwartet trat plötzlich offen zu Tage, wie wenig unsere Armee auf den Krieg vorbereitet war. Es gab nicht mal topografische Karten. Das war entmutigend. Es hatte doch dauernd Militärparaden gegeben. Ständig hatten wir Heldenlieder über Woroschilow und Budjonny gesungen: „Keiner kann ihn uns nehmen, den zurückgelegten Weg, Rote Division, voran, voran, voran ...

Die Enttäuschung darüber, dass wir nicht kampfbereit waren, wuchs. Auch darüber, dass die Deutschen Stalin um den Finger gewickelt hatten. Sie hatten alles vorbereitet, wir nichts. Wir rannten vor ihnen weg. Das ist ein demütigendes Gefühl. Ein panisches Gefühl.

Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Also wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt

Es gibt eine Seite des Krieges, die sich erst Jahre später erschließt, und die den Historikern kaum zugänglich ist. Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten. Auch was konkrete Ereignisse angeht, ist da nicht viel. Aber diese Seite trägt zum Begreifen eines Wunders bei:

Es ist die Geschichte der Brüderlichkeit unter Soldaten. Wie sich die Stimmung der Soldaten veränderte. Es ist wie ein EKG, das über vier Jahre abgeleitet wird und das sich dauernd ändert: zuerst Prahlerei, dann Hoffnung, dann Enttäuschung, Verzweiflung, ein Gefühl der Katastrophe. Dann – irgendeine Erfahrung und wieder ein Bruch: Dir wird klar, dass man doch auch einen Deutschen töten kann. Dieses EKG lässt sich sehr schwer aufzeichnen, aber genau das hat den Krieg beeinflusst und letztlich entschieden.         

Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war.

Eine sehr große Rolle spielte für uns, dass die Deutschen es nicht schafften, Moskau einzunehmen, in Moskau einzumarschieren, sondern im September 1941 bereits bei Leningrad Halt machten. Außerdem machten sie dort nicht nur Halt, sondern waren gezwungen, den Rückzug anzutreten. Das war der erste spürbare Erfolg, und der markierte einen psychologischen Umschwung.

Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war

Kriegsgeschichte ist nicht nur Geschichte der Schlachten und Verluste, sondern auch die Geschichte darüber, wie sich die Psychologie der Soldaten veränderte. Dieser Teil der Kriegsgeschichte ist nur dürftig abgebildet, sie ist den Historikern nicht zugänglich, es sind nur Erinnerungen von Soldaten und Generälen.

Niemand konnte voraussagen, dass der Krieg vier Jahre dauern würde – weder die Kriegsherren, noch die Offiziere, noch die einfachen Soldaten. Hätte man mir während meiner Bemühungen um die Aufnahme in die Armee gesagt: „Du kommst, wenn du denn überlebst, in vier Jahren zurück“, hätte ich das nicht geglaubt oder mich nicht als Freiwilliger gemeldet.

In der Literatur der Nachkriegszeit davon zu erzählen, genierte man sich. Auch die Zensur hielt diese Enttäuschung unter Verschluss. Dieser Teil der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wurde fast nicht ans Licht gebracht. Darüber durfte nicht gesprochen werden.

Dass die Zensur viele Jahre lang nicht erlaubte, die Wahrheit zu sagen, dass sie unrühmliche Momente vertuschte – unsere Niederlagen, den Mangel an Waffen – war es richtig, den Patriotismus der Menschen auf diese Art zu steigern? Wer die wahren Umstände nicht kannte, hielt Stalin wahrscheinlich nach wie vor für einen genialen Feldherren.

Das ist eine schwierige Frage. Zum Beispiel die Heldentat der Panfilowzy ... Jetzt weiß ich, dass sie aufgebauscht wurde, doch damals war das hilfreich. Da gab es auch die Losung: „Mit der Brust werfen wir uns dem Feind entgegen“. Mit der Brust wirfst du dich gar niemandem entgegen. Aber ich weiß noch, dass sie halfen, sowohl die Panfilowzy genauso wie Matrossow belebten den Kampfgeist.

Es gab auch gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte: Wie real war das, wie viel Prozent Wahrheit steckten drin? Solche Dinge waren im Krieg von großer Bedeutung. Deswegen ist die Einstellung dazu äußerst komplex.

Es gab gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte

Es gab auch Momente, in denen uns sofort klar war: Das ist reinste Propaganda.

Stalin hielt gleich zu Beginn des Krieges, 1941, eine Rede und sprach davon, wie viele Millionen Deutsche wir vernichtet, getötet hätten. Er nannte eine so hohe Zahl, dass wir uns fragten: Warum stehen sie dann noch vor uns?!  

Was, wenn man Ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätte, dass wir nicht vorbereitet waren, keine Waffen hatten, dass die Mittel, die Kraft nicht ausreichen würde?

Das wäre sehr schwer gewesen. Was konnten uns die Kommissare schon sagen? Nicht nur die Hoffnung musste genährt werden, auch der Glaube an weitere Erfolge, und die fehlten die ganze Zeit. Monat um Monat erlebten wir Rückzug, Panik.

Mein Krieg überlagerte sich noch mit der Tragödie der Blockade. An der Leningrader Front hatten wir zusätzlich das Leid der Zivilbevölkerung vor Augen. An anderen Fronten war das weniger spürbar. Schlimm war es natürlich auch, aber Leningrad bekam es am heftigsten ab.

Stimmt es, dass die Isaakskathedrale und einige andere Petersburger Denkmäler und Gebäude während des Krieges für die Stadtbewohner Symbole waren, die ihnen Kraft gaben?

Ja, das stimmt. Wir sahen durch Feldstecher Brände in der Stadt, Rauchsäulen, die nach den Bombardements der Faschisten aufstiegen, und uns zerriss es das Herz. Weil da nicht nur eine Stadt brannte, da brannte der Stolz Russlands. Die Stadt, die man mit Peter dem Großen verband, mit den Dekabristen, mit Puschkin, Lermontow, Gogol, Dostojewski ... Sie alle waren an der Verteidigung Leningrads beteiligt.

War die Stadt Leningrad in diesem Krieg wichtiger als Moskau?

Für Hitler noch früher als für uns. Er sah die Wurzeln des Bolschewismus in Leningrad und machte es im Plan Barbarossa zum wichtigsten Angriffsziel. Der Führer sah das so: Sobald Leningrad erobert ist, fällt der Widerstand.

Es gab in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges zwei bedeutende Brennpunkte des Widerstands: Stalingrad und Leningrad. Stalingrad war militärischer Widerstand, Leningrad – mentaler: das Durchhaltevermögen sowohl der Armee als auch der Bevölkerung.

Damals wussten wir das nicht, aber nach dem Krieg wurde bekannt, dass Leningrad die Soldaten an anderen Fronten des Landes beflügelt hatte. Zu begreifen, dass die Menschen bis zum Tod standhaft blieben, trotz des Hungers, den sie überspielten, trotz Entbehrungen und Verlusten. 900 Tage! Keine andere Stadt hat in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs einer so langen Einkesselung standgehalten! Solche Dinge halfen natürlich.

Kürzlich wurden neue Verlustzahlen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg genannt – 41.979.000 Menschen. Was denken Sie darüber?

Diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor. Hatten zumindest bisher Angst.

Begonnen hat die Zählung mit sieben Millionen und stieg dann bis 42. Schrittweise. Jahrzehnt um Jahrzehnt. Eine Zahl unter Stalin, bei Chruschtschow die nächste, bei Breshnew die dritte, bei Jelzin die vierte. Jeder neue Regierungschef hat mal mehr, mal weniger hinzugefügt. Und plötzlich steht diese entsetzliche Zahl vor uns. Aber auch das ist nicht alles.

42 Millionen Tote – diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor

Was sind 42 Millionen? Das ist keine Zahl. Für die, die am Leben geblieben sind, ist es Einsamkeit. Ich habe niemanden, mit dem ich den Tag des Sieges feiern kann. Von meinen Freunden aus Schul- und Studentenzeit, von meinen Kriegskameraden ist mir keiner geblieben. Nicht nur kraft der Natur, sondern auch, weil sie im Krieg umgekommen sind. Damit ist ein Teil meiner Jugend gefallen, meines Lebens, er ist zusammen mit ihnen verschwunden.

Es gab einen Umstand, der uns alle sehr traf. Stalin hat niemals (vielleicht irgendwann mal in privaten Gesprächen) einen Trinkspruch zum Gedenken der Todesopfer ausgebracht. Er wusste doch, dass das nicht nur sieben Millionen waren. Und beim Empfang nach dem Sieg hat er nichts über sie gesagt. Sie mit keinem Wort erwähnt. Kein Glas auf sie erhoben. Das ist unverzeihlich.  

Was ist für Sie heute am schmerzhaftesten, wenn Sie an den Krieg denken?

Man hat uns den Sieg geraubt. Ich habe mich einmal mit Helmut Schmidt unterhalten. Ich fragte ihn: „Warum habt ihr den Krieg verloren?“ Er antwortete sofort (er hatte eine durchdachte Antwort parat, er ist ein guter Politiker, ein professioneller Historiker, hat selbst gekämpft, hat alles gesehen, weiß alles): „Weil die USA in den Krieg eingetreten sind“.

Dabei ist Amerika ganz spät eingetreten.

Man hat uns den Sieg geraubt. Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenhafter, als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf

Ich konnte nicht verstehen, woher diese Version stammte. Und dann wurde mir klar: Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenvoller als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf. Und jetzt ist das im Westen überall durchgedrungen, bis hinein in den Geschichtsunterricht. Das ist ungerecht, anstandslos. Die Menschheit ist uns für diesen Sieg verpflichtet, für die Zerschlagung des Faschismus.

Aber es stellt sich noch eine Frage: „Warum haben wir gewonnen?“ Für mich ist auch da vieles unklar.

Einmal wurde ich gebeten, mit Schülern über den Krieg zu sprechen. Plötzlich steht ein etwa achtjähriges Mädchen auf und fragt: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass sie diesen Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Verstehst du? Wie viele Menschen haben Sie getötet? Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“

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Vor 78 Jahren endete die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Während der Belagerung der Stadt vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 kamen über eine Million Menschen ums Leben. Die meisten verhungerten oder erfroren, viele starben im Bomben- und Artilleriebeschuss. Nina Weller über das Schicksal der Blokadniki.

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Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

Als es der Roten Armee gelungen war, die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad einzukesseln, markierte dies einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller und Korrespondent Wassili Grossman schrieb, dass die deutschen Soldaten und Offiziere in der schrecklichen Kriegssituation bei Stalingrad nicht nur die eigenen Kräfte, sondern auch die Staatspolitik, die Gesetze, die Verfassung, die Zukunft und die Vergangenheit des eigenen Volkes zunehmend in Frage stellten. 

Bei den sowjetischen Truppen sei genau das Gegenteil passiert: Der erste Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nach vielen Niederlagen hat die sowjetische Staatsführung gerechtfertigt. Die Frage aber, ob das Volk wegen oder trotz der Regierung siegte, blieb offen. Der Sieg bei Stalingrad bestimmte, so Grossman, den Ausgang des Kriegs, „aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat ging weiter“.1 

Und dieser Streit ist noch immer nicht zu Ende. Das einst „siegreiche Volk“ streitet nun aber nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit sich selbst und mit den späteren Generationen, die den Krieg nur in seiner medialen Gestalt wahrnehmen und beurteilen können. 

Im heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören.

Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain

Einen Konsens gibt es nicht einmal bei der Frage nach den Kriegsopferzahlen. Seit dem Kriegsende gehört die Arithmetik der Verluste zum Gegenstand der aktiven offiziellen Geschichtspolitik. Stalin wies sieben, später zehn Millionen aus – das Land durfte keine größeren Menschenverluste als die Kriegsgegner erlitten haben. „Der Preis des Sieges“ stieg auf 20 Millionen in den späten 1950ern, auf 27 Millionen in den 1980ern, bis im Februar 2017 der Duma-Abgeordnete Nikolaj Semzow mit Verweis auf geheime Daten der staatlichen Plankommission der UdSSR eine weitere Zahl verkündete: 42 Millionen.2
 
Allein die Zahl von 27 Millionen, die in der Geschichtswissenschaft verankert ist, zeugt von der unvergleichlichen Dimension der Leid- und Opfererfahrung in den Ländern, die von Krieg und deutscher Besatzung betroffen waren. Der Krieg hat tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlassen: Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland und auch in der Ukraine, Belarus und anderen postsowjetischen Ländern, die vom Krieg unberührt geblieben ist. 
Die gesellschaftliche Verankerung des Themas auf der einen Seite und die übergeordnete Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat auf der anderen Seite bedingten die Entstehung einer vielschichtigen und dynamischen Erinnerungskultur.

Unheroischer Krieg

Auf der Ebene der privaten, familiären, alltäglichen Erinnerung war das Bedürfnis, der Trauer Raum zu geben, von Anfang an da. So entstand seit dem Kriegsende in jeder sowjetischen Stadt und in jedem Dorf an einer prominenten Stelle ein Denkmal, um den nicht zurückgekehrten Soldaten zu gedenken. Schlichte Obelisken oder Granitstelen waren oft anonyme Stätten privater Trauerarbeit. 
Ab den späten 1960er Jahren wurden Ehrenmale des Unbekannten Soldaten und Anlagen mit ewigem Feuer angelegt, das Gedenken an diesen Orten wurde offizieller und staatstragender. Zugleich haben diese Orte ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Trauerarbeit nicht verloren. 
Auch in der sowjetischen Zeit war der unheroische Krieg vor allem durch den künstlerischen Diskurs wahrnehmbar, durch Literatur, Film und Musik. Der Film Die Kraniche ziehen von Michail Kalatosow zeigte, dass nicht alle Frauen auf ihre Geliebten warteten, und dass ein Rotarmist auch fallen kann, ohne vorher eine Heldentat zu vollbringen. 
Der Protagonist der Erzählungen von Bulat Okudshawa will im Krieg nur überleben.3 Wassil Bykau schilderte in seinen Erzählungen den Krieg als eine existenzielle Erfahrung, in der es keine Sieger geben kann.4 Ales Adamowitsch beschrieb in seinen Novellen die Gewalt der deutschen Besatzer auf den okkupierten Gebieten5 und zusammen mit Daniil Granin im Blockadebuch6 – die unvorstellbare Opfererfahrung und das Hungersterben in Leningrad.
 
In den frühen 1990er Jahren dominierte das Bild des schrecklichen Krieges in öffentlichen Präsentationen: Zum Thema wurden die verheerenden Niederlagen der ersten Kriegsmonate, die doppelte Opfererfahrung sowjetischer Kriegsgefangener, die Not der Veteranen. Der 22. Juni, Tag des deutschen Überfalls 1941, ist seit 1996 ein staatlich anerkannter „Tag des Gedenkens und der Trauer“. An den Kriegsdenkmälern und auf den Ehrenfriedhöfen finden Gedenkzeremonien statt, die Staatsfahnen werden gesenkt und die Staatssender zeigen keine Unterhaltungssendungen.
Nicht der Sieg, sondern der „Preis des Sieges“ schien für eine kurze Zeit im Zentrum der offiziellen Erinnerungspolitik zu stehen. Auch wenn die schreckliche Erfahrung des Krieges als Diskurs an seiner dominierenden Position inzwischen stark einbüßte, existiert diese Perspektive auf den Krieg auch heute im liberalen Diskurs.7 

Staatliche Heroisierung

Der ideologische Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetzeit lässt sich mit dem Begriff des Massenheroismus zusammenfassen. Seit der Oktoberrevolution 1917 war der Heldenkult ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie. In der zukunftsgerichteteten sozialistischen Weltanschauung hatte das Trauern um Opfer „historischer Prozesse“ – Revolutionen, Kriege, politische Säuberungen – keinen Platz. Die Helden, die zu ehren waren, mussten im Krieg ihr Leben opfern, besonders heldenhaft für das Vaterland sterben, wie etwa der Rotarmist Alexander Matrossow, der sich auf eine Schießscharte warf, oder die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die auch unter der Folter ihre Mitkämpfer nicht verriet und hingerichtet wurde. 
Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider. Für den siegreichen Kampf stehen zum Beispiel die 85 Meter große Skulptur Mutter Heimat auf dem Mamaj-Hügel in Wolgograd (1967) und das 48 Meter große Monument Den heroischen Verteidigern Leningrads in St. Petersburg (1974–75).

In der postsowjetischen Zeit fand der heroisierende Diskurs vor allem in der Moskauer Denkmalanlage Park des Sieges (1995) seine monumentale Form. Im Zentrum steht hier eine 141,8 Meter hohe Stele – zur Erinnerung an die 1418 Kriegstage – an ihrer Spitze schwebt die Siegesgöttin Nike und an ihrem Fuß bekämpft der Heilige Georg den Drachen. Zahlreiche Namen der Helden der Sowjetunion sind an den Wänden im Gedenkraum des Museums eingraviert. 
Im heutigen offiziellen Gebot zu erinnern spielt der Aufruf, den gefallenen Helden würdig zu sein, nach wie vor eine große Rolle. In der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die selektiv auf die stolzen Kapitel der „tausendjährigen Geschichte“ zurückgreift, ist es der militärische Ruhm. Das heroische Pathos ist die gegenwärtige Tonlage, in der die offiziellen Medien und die Regierung über den Krieg sprechen. 

Emotionalisierung und Kommerzialisierung

Die heutige Entwicklung der Kriegserinnerungskultur zeichnet sich zum einen durch Emotionalisierung, zum anderen durch Kommerzialisierung der Erinnerung aus. Durch überzeichnete Emotionalisierung und Effekthascherei verliert der Krieg – wie er etwa im Film (Stalingrad, 2013) oder im historischen Reenactment (nachgestellte Szenen der Einnahme Berlins) dargestellt wird – an Faktizität und Authentizität. Die präsentierten Inhalte werden zunehmend mythen-gesättigter wiedergegeben, das Kriegsgeschehen wird immer stärker zum Mythos.  
 
Gerade weil die Kriegserinnerung auf der privaten Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt, wird sie zunehmend als Kontext für kommerzielle Projekte genutzt. Filmproduzenten, Museumsmacher und Event-Veranstalter knüpfen daran an – in der Gewissheit, dass das Kriegsthema Aufmerksamkeit findet und sich gut verkaufen lässt. So beispielsweise im bislang teuersten russischen Film Stalingrad (Fjodor Bondartschuk), der komplett in 3D gedreht wurde, in dem die Straßen- und Häuserkampfszenen im Herbst 1942 wie ein effektvoller Blockbuster inszeniert wurden und der einer Computerspiel-Ästhetik ähnelt.

Privates Gedenken im öffentlichen Raum

Aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus, eigenständige Formen und Praktiken der Erinnerung zu entwickeln, entstand 2012 in der sibirischen Großstadt Tomsk die Aktion Das Unsterbliche Regiment.8 Bei dieser Aktion tragen Menschen über Straßen und Plätze Porträts ihrer Verwandten, die am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben.9 
Diese Präsenz des privaten Gedenkens im öffentlichen Raum ist das tatsächlich Neue an den Feiern des Kriegsendes. 
Viele Russen teilten in den letzten Jahren Kurzberichte über die Kriegswege ihrer Großeltern in sozialen Netzwerken, viele davon – unzensierte Familiengeschichten, also Erzählungen „jenseits“ des tradierten, heroischen Narrativs. 
Es geht nun nicht mehr darum, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gemeinschaft“ der Erinnernden zu setzen, sondern um die Stärkung der Kommunikation von privaten, familienbezogenen Erinnerungen an den Krieg.

Diese neue Form des Gedenkens wird von der staatlichen Seite in letzter Zeit verstärkt auch als Mobilisierungressource genutzt.10 Sie existiert gleichzeitig mit den großen Inszenierungen, die auf Stabilitätssicherung und Patriotismus-Stiftung ausgerichtet sind. Während der Feierlichkeiten rund um den Tag des Sieges am 9. Mai selbst agiert die Gesellschaft manchmal mit, oft aber auch neben oder gegen die staatlichen Deutungsvorschriften. Nicht immer sind Interessen des Staates und der Gesellschaft hinsichtlich der Form des Gedenkens deckungsgleich – und der Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat geht weiter.


1.Grossman, V. (1984): Leben und Schicksal, München, S. 686
2.Novaya Gazeta: Pobeda pred“avljaet sčet
3.vgl. die Erzählung Bud’ zdorov, školjar (1961) von Bulat Okudžava, in der es um Erfahrung eines jungen Soldaten geht.
4vvgl. die Erzählung Sotnikov (1971) von Vassil Bykov.
5.vgl. die Erzählungen Chatynskaja povest’ (1971) und Ja iz ognennoj derevni (1977) von Ales Adamowitsch
6.Ales Adamowitsch arbeitete zusammen mit Daniil Granin am Blockadebuch in den späten 1970er Jahren. Das Buch, das Interviews mit Blockadeüberlebenden beinhaltet, wurde 1984 veröffentlicht.
7.So im Projekt Cena pobedy (dt. Der Preis des Sieges) auf dem Radiosender Echo Moskvy und in der Zeitschrift Diletant. Siehe z. B. den Beitrag Soldatskaja pamjat’ o vojne vom 14.5.2017.
8.Die Formen der sozialen Gedenkpraxis „von unten“ wurden im Projekt „Sieg—Befreiung—Besatzung: Kriegsdenkmäler und Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im postsozialistischen Europa“ untersucht, das von der Autorin zusammen mit Mischa Gabowitsch und Cordula Gdaniec geleitet wurde. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem vor kurzem erschienenen Sammelband dokumentiert: Gabowitsch, M., Gdaniec, C., Makhotina, E. (Hrsg.) (2017): Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai im postsozialistischen Europa, Paderborn
9.Eine lokale, gesellschaftliche Initiative, ins Leben gerufen von Journalisten der nichtstaatlichen Tomsker Mediengruppe. Webseite des Archivs mit Familiengeschichten
10.Wie schon so oft in der Geschichte, erkannte die politische Führung schnell die symbolische Wirkungsmacht dieser neuen Erinnerungsform. Zugleich brachte die Popularität des individualisierten Gedenkens auch in die staatliche Erinnerung einen neuen Inhalt ein. Aufschlussreich ist die Teilnahme Putins an der Aktion Das Unsterbliche Regiment, und noch mehr – die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ an die Kriegserzählungen der Eltern in der Zeitschrift Russki Pionier. Ein Effekt davon ist die „emotionale Aktualisierung“ der Geschichte. Dadurch versucht der Staat, das Gedenken anschlussfähig zu halten.
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