Am Rand der Einfallstraße vom Flughafen in Sankt Petersburg sticht der irritierende Titel sofort ins Auge: gorod-geroi (dt. Heldenstadt) steht auf einer pseudoklassizistischen Säule, neben dem Goldenen Stern der Helden der Sowjetunion und dem Leninorden. Am Platz des Aufstands, gleich neben dem Moskauer Bahnhof, erscheint der Goldene Stern auf einem Obelisk erneut, vor einer den Helden gewidmeten Leuchtreklame.
Erst ein Blick auf das Denkmalensemble am Siegesplatz und den Obelisken macht klar: Die Helden sind die Stadtverteidiger im Zweiten Weltkrieg, hierzulande Großer Vaterländischer Krieg genannt.
Im Kampf um Aufmerksamkeit schmücken sich Städte gern mit Attributen. So wimmelt es in Europa von Zukunftsstädten, „Little Big Cities“, Weltstädten und Schmelztiegeln. Doch Städte, die offiziell zu Helden ernannt werden? Das gibt es nur auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion.
Die Verteidiger Leningrads, wie Sankt Petersburg damals hieß, hielten die Stadt unter unvorstellbaren Opfern gegen die deutschen Belagerer und wurden zu Symbolen des sowjetischen Widerstandswillens. Bereits am 1. Mai 1945 ließ der Diktator Josef Stalin deshalb Salutschüsse zu Ehren der Heldenstädte abgeben – als vorgezogene Siegesfeier und Anerkennung für die Kämpfer in Leningrad, Stalingrad, Odessa und Sewastopol.
Hierarchie des sowjetischen Heroismus
Diese Tradition hat sich bis heute in diesen Städten gehalten, und zwischen den 1960er und 1980er Jahren traten Moskau, Kiew, die Festung Brest, Noworossisk, Kertsch, Minsk, Tula, Smolensk und Murmansk in die Reihen der Heldenstädte ein. In der fein abgestuften Hierarchie des sowjetischen Heroismus repräsentierten diese geschichtsträchtigen Orte das „Heiligste des Heiligen“. Sie standen im Zentrum des Kriegskults, der während Leonid Breshnews Amtszeit (1964–1982) den offiziellen gesellschaftlichen Wertekanon prägte.
Die staatlich betriebene Propagierung einer idealisierten Kriegserinnerung diente dabei dazu, dem Kommunismus neue Mobilisierungskraft zu verleihen. Dies geschah nicht zufällig erst zwei Jahrzehnte nach dem Ende des schrecklichen Blutvergießens: Auf die stalinistisch sozialisierte Kriegsgeneration folgte eine jüngere nach, aufgewachsen im Frieden, unter einem autoritären, aber nicht länger mörderischen Regime. Die Verehrung der Veteranen schuf ein generationsübergreifendes Band, das erstaunlich langlebig und erfolgreich wirkte – teilweise bis heute.
Breshnew, dessen eigene, traumatische Kriegserfahrung sein Weltbild stark beeinflusst hatte, wandte sich am 8. Mai 1965 an die Sowjetbürger in einer Rede,1 welche die Gedenkkultur und die Ehrengalerie der Helden über Jahrzehnte prägte. Die Heldenstädte, zuvor eine eher informelle Kategorie, wurden zu einer offiziellen, staatlich sanktionierten Gruppe, ausgewählt durch ein Antragsverfahren an das Politbüro. Vor allem aber schaffte es Breshnew, die bitteren Diskussionen über den Stalinismus und den Preis des Sieges zu übertünchen – durch die kollektive Erhebung der gesamten Kriegsgeneration in den Heldenstatus.
Erinnerungspflicht und „sowjetische“ Werte
Der Krieg sei „ein Meer des menschlichen Leidens und der Trauer“ gewesen, der seine tragischen Spuren in jeder Familie hinterlassen habe, erklärte der Generalsekretär. Nichts und niemand dürfe vergessen werden, „kein einziger Blutstropfen, den die Sowjetmenschen für unser Land, seine Freiheit und sein Glück vergossen haben“. Das friedliche Leben der Nachkriegsgeneration sei nur durch den Opfergang des ganzen Volks möglich gewesen. Deshalb habe diese Generation nun die Pflicht, sich dem Andenken an ihre Ahnen würdig zu erweisen.
Das Regime verankerte diese Erinnerungspflicht und die damit verbundenen „sowjetischen“ Werte im Alltag der Menschen: Die Mitglieder der Jugendorganisation Komsomol leisteten ihre Eide an Kriegsdenkmälern und nahmen an einer stetig wachsenden Zahl von militärischen Übungen teil. Fabrikarbeiter schlossen symbolisch Gefallene in ihre Brigaden ein und erfüllten deren Produktionsnormen. Diese „moralischen Anreize“ waren auch ein Gegenentwurf zu den marktwirtschaftlichen Reformen, mit denen die UdSSR in den 1960er Jahren angesichts nachlassender Produktivität experimentiert hatte. Zumindest zu Beginn schufen sie neue Dynamik.
Doch die Erinnerung – unter Stalin im öffentlichen Raum noch marginalisiert – fand auch im Privaten statt: Gerade den 9. Mai, den Tag des Sieges, nutzte die Kriegsgeneration für informelle Treffen mit Kameraden, um gemeinsam zu essen, zu trinken und zu gedenken. Auch Hochzeitsgesellschaften lassen sich bis heute vor Denkmälern fotografieren – nicht, weil sie müssen, sondern weil sich das so gehört. Die Stärke des Kriegsgedenkens besteht gerade darin, dass es Impulse von oben und von unten in einer moralisch verbindlichen Weise vereinigt.
Dies gilt besonders in den Heldenstädten, die nicht nur die schlimmsten Schlachten durchlitten haben, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine privilegierte Stellung einnahmen. In der Sowjetunion verkörperten die auf Russland, die Ukraine und Belarus verteilten Orte das Heldentum des Sowjetvolks, jener „Völkerfamilie unseres Landes, durch unzerstörbare Brüderlichkeit vereint“, wie Breshnew 1965 betont hatte. Die Heldenstädte bildeten die Zentren einer Gedenklandschaft, die bis 1991 70.000 Kriegsmonumente umfasste. Die allegorische Formensprache war oft ähnlich – heldenhafte Soldaten, trauernde Mütter, Obelisken und das Ewige Feuer für die Gefallenen.
Kriegsgeheimnisse
Doch unter dieser polierten Oberfläche verbargen sich Geheimnisse – im wahrsten wie im übertragenen Sinne des Wortes: Die Denkmäler bedeckten Schlachtfelder mitten in den Städten, wobei bis heute sterbliche Überreste und Blindgänger zum Vorschein kommen, wenn man am richtigen Ort zu graben beginnt. Für die Nachkriegsgeneration übte dies eine Faszination aus, der sie sich nicht entziehen konnten – umso mehr, da sie in der Schule und in Büchern lediglich unglaubwürdige Heldenepen zu hören bekamen. Auch die Eltern redeten wenig; die Nachkriegsgeneration bastelte sich ihr Kriegsbild aus Propaganda, überhörten Gesprächsfetzen und Zufallsfunden.
Unter dem Slogan der Heldenstädte, diesen „uneinnehmbaren Festungen“, „Städten der Krieger“ oder „Schilde der Sowjetunion“, verbargen sich Spannungen und Brüche. So waren etwa Minsk und Kiew während des Krieges mehrere Jahre lang besetzt, doch Kollaboration passte nicht ins Heldenbild. In Tula, kurz vor Moskau gelegen, hatten im Herbst 1941 Chaos und Plünderer geherrscht, bevor die Stadt wie durch ein Wunder verteidigt wurde. 1942 schließlich hatte die Sowjetführung tödliche Repressalien über „Angstmacher und Feiglinge“ verhängt, die vor den Deutschen zurückwichen, gerade in strategisch zentralen Städten wie Stalingrad und Noworossisk. All dies blieb bis zur Perestroika ein Tabu.
Symbolischer Status und Privilegien
Doch die Anreize, an der idealisierten Vergangenheit festzuhalten, waren groß. Die Erinnerung an die mörderischen Säuberungsaktionen gegen angebliche Verräter und Kollaborateure nach dem Krieg war noch frisch, doch in das Heldenkollektiv waren alle eingebunden. Dazu kamen in den Heldenstädten starke wirtschaftliche Interessen: Die Erhöhung des symbolischen Status versprach Privilegien, die in einer Defizitwirtschaft wie der Sowjetunion von großer Bedeutung waren.
Helden der Sowjetunion kamen in den Genuss von kostenlosen Leistungen beim öffentlichen Verkehr, Wohnen und in der Gesundheitsversorgung. Diese Logik wurde bis zu einem gewissen Grad auf das urbane Kollektiv übertragen, weshalb die lokale politische Elite stark für die Ernennung lobbyierte – gerade in Provinzstädten wie Tula oder Noworossisk. Die Schwarzmeerstadt, wirtschaftlich privilegiert durch ihren Hafen, konnte dabei auf Unterstützung von ganz oben zählen: Breshnew hatte dort während des Krieges gedient, und die lokalen Politiker nutzten diese Verbindung geschickt aus, um der Stadt mehrere tausend Wohnungen außerhalb des Plans, ein Aquädukt und Spitäler zu sichern.
In Noworossisk ist Breshnew deshalb bis heute enorm beliebt, und auch der Generalsekretär stand der Stadt emotional nahe. Seine Kriegszeit dort bezeichnete er privat als „mein wahres Inferno“.2 Er wurde schwer am Kiefer verletzt, eine Wunde, die ihn gegen Ende seines Lebens beim Sprechen immer stärker behindern sollte und zu jenem monotonen Vortragsstil beitrug, der sein Image als grauer Apparatschik prägte.
Noworossisk wurde aber auch zum Inbegriff der Exzesse des Kriegskults, über die man sich außerhalb der Stadt lustig zu machen begann. Witze zirkulierten über Breshnews Memoiren, die seine Aktivitäten auf dem umkämpften Brückenkopf Malaja Zemlja bei Noworossisk bizarr überzeichneten. Breshnews Gier nach Heldensternen und Orden ließ deren Verleihung politisiert und käuflich erscheinen, was ihren Status in den Augen vieler Sowjetbürger verringerte. Der Schriftsteller Sergej Dowlatow schrieb in einem seiner Bücher eine Anekdote auf: „Für die Erfolge bei der vielfachen Auszeichnung des Genossen Breshnew mit dem Leninorden soll der Leninorden selbst mit einem Leninorden ausgezeichnet werden.“3
Krieg als neue Staatsideologie
Der Kriegskult wurde gegen Ende von Breshnews Herrschaft ebenso zum Symbol der Stagnation wie der Generalsekretär selbst. Die historischen Kontroversen der Glasnost-Ära und schließlich das Ende der Sowjetunion führten zum Kollaps der Heldenmythen. Im Gegensatz zum Kommunismus erlebte der Kriegskult im modernen Russland aber eine Renaissance. Wladimir Putins Aufstieg war stark vom Bestreben begleitet, eine neue Staatsideologie zu schaffen. Bereits seit der großen Militärparade 2005 gehört die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg zu deren Kernelementen. Putins Reden lesen sich bisweilen wie Blaupausen von Breshnews Ansprachen – wobei Russland darin die Sowjetunion ersetzt hat.
Putin bedient sich zahlreicher sowjetischer Versatzstücke: So wurde unter ihm die „patriotische Erziehung“ wiedereingeführt, zu der auch die Förderung des Militärdienstes gehört. Die Ewigen Flammen der Kriegsdenkmäler, denen meist aus Spargründen in den 1990er Jahren das Gas abgedreht wurde, brennen wieder. Jugendliche und Offiziersschüler dienen in den Ehrengarden, die die Monumente bewachen.
„Städte des Militärruhms“
Auch die Heldenstädte erlebten eine Wiedergeburt. Kurz vor dem Tag des Sieges 2006 unterzeichnete Putin einen Erlass zur Ehrung der „Städte des Militärruhms“. Symbole und Rhetorik sind stark an die Heldenstädte angelehnt, doch die neue Gruppe genießt weder den symbolischen noch den wirtschaftlichen Status ihrer Vorgänger. Dazu trägt bei, dass bis heute 45 Städte in diese Kategorie aufgenommen wurden, deutlich mehr als die 13 Heldenstädte. Darunter befinden sich klingende Namen wie Kursk oder Woronesh, aber auch politische Ernennungen wie die tschetschenische Hauptstadt Grosny, die im Zweiten Weltkrieg eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.
Die Ambition, eine Erinnerungslandschaft zu schaffen, ist aber auch bei den „Städten des Militärruhms“ offensichtlich. Die Nation wirkt durch diese historische Topografie organischer, ihre Grenzen unumstößlicher. Dass sie auf sowjetischen Vorbildern basiert, befeuert aber auch jenen imperialen Phantomschmerz, der sich im heutigen Russland immer wieder Bahn bricht. So erwähnte Putin die zwei Heldenstädte Sewastopol und Kertsch, die auf der Krim liegen, als eine Rechtfertigung für die Annexion der Halbinsel. „Jeder dieser Orte ist heilig für uns“, erklärte er in seiner feierlichen Rede am 18. März 2014, „es sind Symbole russischen militärischen Ruhmes und unvergleichlichen Heldenmutes“.
Putin hat aus der Geschichte gelernt, wie wichtig die Kriegserinnerung als Element der gesellschaftlichen Integration ist – gerade in Zeiten der Unsicherheit. Ob sie als Grundlage für die nationale Identität auch als Zukunftsvision taugt, darf hingegen bezweifelt werden.