Erloschene Fabrikschlote, verödete Landschaften und erschreckende Perspektivlosigkeit – seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erleben viele russische Monostädte ihren Niedergang. Ab den 1930er Jahren zumeist am Reißbrett entworfen, zogen die rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichteten Städte einstmals hunderttausende Menschen an. Die Siedlungen um die Metall- und Rohstoffindustrie bildeten das Rückgrat der sowjetischen Wirtschaft: Über 400 Monostädte erwirtschafteten zeitweise bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Seit den 1990er Jahren befinden sich viele Monostädte im wirtschaftlichen Niedergang: Sie sind geplagt von Problemen wie Arbeitslosigkeit, hoher Anfälligkeit gegenüber Konjunkturschwankungen und massiver Abwanderung von jungen, qualifizierten Arbeitskräften.
Viele kleine und mittlere Industriestandorte der ehemaligen Sowjetunion sind sogenannte monoindustrielle Städte (russ. „monoprofilnyje munizipalnyje obrasowanija“) oder kurz: Monostädte. Eine Stadt gilt dann als monoindustriell, wenn sie über 3000 Einwohner zählt und mindestens ein Fünftel aller Beschäftigten in nur einem Unternehmen oder Industriekomplex angestellt ist. Ein solches Unternehmen gilt für die russische Gesetzgebung als ein gemeindekonstituierender Betrieb (russ. „gradoobrasujuschtscheje predprijatije“). Zu Monostädten zählen derzeit 317 Städte in Russland (offiziell 319, davon zwei Monostädte auf der Halbinsel Krim), also ungefähr jede dritte Stadt des Landes. Dort leben insgesamt etwa 15,6 Millionen Menschen, die rund ein Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, Tendenz fallend.1 Die meisten Monostädte liegen in der Oblast Kemerowo (19), gefolgt von der Oblast Swerdlowsk (15), der Oblast Tscheljabinsk und der Oblast Nishni Nowgorod (jeweils 12).
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Stand: 2016. Quellen: Regierung der Russischen Föderation, Ministerium für Industrie und Handel
Quantität und Qualität von Monostädten
Die Anzahl von russischen Monostädten ist seit den 1990er Jahren rückläufig. Dabei muss allerdings bemerkt werden, dass sowohl über die Gesamtzahl als auch über die Definition von Monostädten lange Zeit Uneinigkeit herrschte. Das lag zum einen am Strukturwandel: Einige Kommunen verloren nämlich durch die Änderung der Beschäftigungssituation ihren Status oder verschwanden gar von der Landkarte. Zum anderen lag das an verschiedenen Klassifikationen, die sich entweder nach demographischen, ökonomischen oder politischen Kriterien richteten. So wurden teilweise auch die sogenannten geschlossenen Städte dazugezählt – Städte, die für militärische Zwecke oder für die Atomindustrie erbaut wurden und damit zugangsbeschränkt sind. Auch ihre nächsten Verwandten zählte man teilweise dazu: Die sogenannten Wissenschaftsstädte sind mit ihren teils geheimen Forschungszentren ebenfalls oft zugangsbeschränkt.2 Solche Städte unterscheiden sich von Monostädten hauptsächlich durch ihre gesetzlichen Stellungen und spezifischen Finanzierungen, sowie durch ihre Bevölkerungsstruktur.
Die russische Regierung definierte diese Unterschiede erst 2014. Dabei erstellte sie zugleich sowohl einen gesetzlichen Rahmen für die besagte Definition von Monostädten als auch eine Unterteilung in drei sozioökonomische Kategorien: Demnach befinden sich derzeit 93 russische Monostädte in einer kritischen Lage, 153 Städte gehören zur sogenannten Risikogruppe und 71 gelten als Städte in einer stabilen soziоökonomischen Lage.3
Zahlreiche Beispiele zeigen, dass dieses urbane Modell hochgradig risikobehaftet ist, vor allem durch Konjunkturschwankungen. Umweltverschmutzung, schwache Infrastruktur (unter anderem im Bildungs- und Gesundheitssektor) sowie die Abwanderung von jungen qualifizierten Arbeitskräften sind weit verbreitete Probleme von Monostädten.4 Dieses oft als Teufelskreis beschriebene Phänomen verhindert den nötigen Strukturwandel.
Während unterfinanzierte Gemeinden von sozioökonomischen Transformations-Herausforderungen oft überfordert sind, bieten sich für die Bewohner von Monostädten nur wenige Chancen und Perspektiven. Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit ist die häufige Folge. Zahlreiche Monostädte gerieten in den 1990er Jahren in eine Abwärtsspirale aus Abwanderung, Stadtschrumpfung und sinkender Lebensqualität.
Während der Wirtschaftskrise kam es 2009 zu öffentlichen Protesten in einigen Monostädten: Die bekanntesten ereigneten sich in Pikaljowo – eine Stadt mit rund 22.000 Einwohnern in der Nähe von St. Petersburg, wo Zement, Aluminium und Kalisalz hergestellt werden. Die Eskalation rief schließlich das Eingreifen des damaligen Premierministers Wladimir Putin als Schlichter auf den Plan.
Schlote im Stadtbild
Portrait I: Toljatti
Toljatti ist mit rund 700.000 Einwohnern die größte Monostadt Russlands. Die Stadt an der Wolga beherbergt seit 1966 den größten russischen Autohersteller – die Autofabrik AwtoWAS, in der bis Ende 2008 etwa 106.000 Mitarbeiter beschäftigt waren. Die überwiegende Mehrheit anderer Unternehmen in Toljatti ist mit der Autoindustrie verknüpft. In Folge der Wirtschaftskrise geriet das Unternehmen 2009 in finanzielle Schwierigkeiten. Sanierungsmaßnahmen und mehrere Entlassungswellen folgten, sodass der größte PKW-Hersteller in Russland Anfang 2018 nur noch rund 36.400 Mitarbeiter beschäftigte.
Portrait II: Kowdor
Die Stadt Kowdor in der Oblast Murmansk liegt etwa 100 Kilometer nördlich des Polarkreises an der finnischen Grenze. Dort lebten einstmals rund 30.000 Menschen. Die Stadt entstand 1953, als der Abbau von Eisen und Phosphat begann und eine Raffinerie gebaut wurde. Mit dem Verfall der Eisen-Nachfrage wurde die Produktion in den 1990er Jahren auf die Herstellung anderer Mineralien umgestellt. Der Betrieb gehört derzeit zu einem Chemiekonzern, der die Produktionsstätte gegenwärtig modernisiert. Kowdor zählt rund 16.000 Einwohner, etwa 3700 von ihnen sind Beschäftigte des Abbaubetriebs.
Planwirtschaftliche single-industry towns
Monoindustrielle Städte sind keineswegs nur ein sowjetisches beziehungsweise russisches Phänomen. So gibt es beispielsweise in Kanada schätzungsweise 1000 single-industry towns mit über einer Million Gesamtbevölkerung.5
Die sowjetischen Monostädte haben jedoch durchaus ihre Spezifika: Sie wurden durch die Urbanisierung und Industrialisierung sowjetischen Typs hervorgebracht, deren Folgen noch heute weite Teile Eurasiens prägen. Im Unterschied zu westlichen Industrieländern wurde der Städtebau in der UdSSR zentralistisch vorangetrieben, und zwar auf Grundlage von Plänen über die landesweite Verteilung von Produktivkräften.6 Der Staat setzte dabei mittelfristige politische, planwirtschaftliche und militärstrategische Ziele durch. Nachhaltigkeits- und soziale Kriterien traten in den Hintergrund. Besonders in der Nachkriegszeit wurde das Modell der monoindustriellen Städte zur Blaupause der wirtschaftlichen Erschließung des Landes, vor allem in entlegenen Regionen.
Sein und Bewusstsein in Monostädten
Die Unterordnung aller städtischen Funktionen unter die Logik planwirtschaftlicher Industrialisierung spiegelt sich in sämtlichen Lebensbereichen der Monostädte wider. Nicht nur räumliche, architektonische, ökonomische, demographische Strukturen sind davon geprägt, sondern auch die Institutionen, Kommunikation und Alltagsroutinen mehrerer Millionen Menschen.
So sind heute noch vielerorts die städtischen Versorgungssysteme wie Fernwärme und Strom an Produktionskreisläufe der Betriebe gekoppelt. Wenn das Unternehmen in einer wirtschaftlichen Krise steckt, dann ist auch oft die Versorgung der ganzen Stadt davon betroffen. Auch Stadtpflege, soziale Dienstleistungen oder Stadtfeste gehören häufig zu den Verantwortlichkeiten des gemeindekonstituierenden Betriebs. Finanzielle Schwierigkeiten des Betriebs spiegeln sich somit in vielen Lebensbereichen der Stadtbewohner wider.
So überrascht es kaum, dass viele (Wohn-)Häuser in den russischen Monostädten heute baufällig sind. Viele öffentliche Räume sind verwahrlost, es fehlt an zeitgemäßen Freizeitangeboten und sogenannten „dritten Räumen“ – Orte wie Cafés, Bars oder Parks, an denen sich Menschen treffen können.7
Die demographische Struktur von Monostädten wird besonders durch die Bildungsmigration von Abiturienten und durch die überproportionale Abwanderung von jungen Frauen belastet.
Paternalistische Muster scheinen sich über mehrere Generationen in vielfältiger Weise verstetigt zu haben. Studien zufolge ist für Monostädte in besonders hohem Maß die Passivität der Bevölkerung charakteristisch, die von Industriebetrieben die Lösung sozialer, infrastruktureller und ökologischer Probleme erwartet.8 Unternehmen beklagen diese Erwartungshaltung und versuchen teilweise aktive Rollenmodelle durch Programme zu fördern, womit sie aber zugleich auch ihre Rolle als Ressourcengeber zementieren und den Paternalismus forterhalten. Hinzu kommt, dass die Führungsebene der Unternehmen häufig auch die Gemeindeverwaltungen und die lokalen Medien kontrolliert. Damit reproduzieren die Unternehmen nicht nur die gemeindekonstituierende Komponente, sondern fügen ihr noch oftmals auch eine alltagskonstituierende hinzu.
Ein bisher kaum gelöstes Problem ist die bereits Jahrzehnte andauernde Umweltverschmutzung. Der kostspielige Einsatz von automatisierten Emissionskontrollen und modernen Reinigungsverfahren schreitet nur sehr langsam voran. Für die Konkurrenzfähigkeit der Städte wird aber der ökologische Faktor in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen.
Aktuelle Lösungsansätze
Monostädte stehen vor ernsten Herausforderungen, für die notwendige sozioökonomische Umstrukturierung gibt es aber keine simplen Lösungen. Stadtsoziologen und andere Wissenschaftler fordern komplexe Antworten, unter anderem sollen Partnerschaften zwischen Städten und dem Privatsektor die gravierenden Probleme mildern.9
2014 erklärte Präsident Wladimir Putin die wirtschaftliche Diversifizierung und Modernisierung der Monostädte erstmals zur Priorität. Mit der Umsetzung des ehrgeizigen Programms ist die Stiftung zur Entwicklung der Monostädte betraut.10 Diese regt teilweise mit Erfolg dazu an, Investitionsprojekte zu finanzieren, Steuersenkungen zu beschließen11 und das Verwaltungspersonal auszubilden.12 Der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit der Monostädte liegt aber auch im bürgerschaftlichen Engagement, in der Ausformung einer positiven lokalen Identität und in der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.13