Eine Routinekontrolle auf der Straße, der Kontrollierte kann sich nicht ausweisen und wird auf die Wache gebracht. Dort „findet“ die Polizei bei ihm Marihuana, konfisziert es und verklagt den vermeintlich Süchtigen oder Dealer. Nicht selten gesteht dieser seine Schuld in Videos öffentlich ein.
Oft sind die Beklagten jedoch unschuldig, wie Recherchen von Republic ergeben. Demnach verläuft der Anti-Drogen-Kampf in Tschetschenien nicht selten nach dem oben beschriebenen Muster, bei Verhören wendet die Polizei zudem häufig Gewalt an.
Ilja Roshdestwenski hat mit Betroffenen und deren Anwälten gesprochen – und zeigt, wie plötzlich auch Menschenrechtler ins Visier geraten.
Am 16. August 2017 wurde Magomed-Ali Meshidow aus dem tschetschenischen Dorf Awtury zum wiederholten Mal in Begleitung eines Vollzugsbeamten ins Büro der Kriminalpolizei des Innenministeriums im Bezirk Schali geführt. Die Kripo-Mitarbeiter gingen zum Safe auf der linken Seite und holten ein Gerät heraus, das mit einer Trainingsjacke abgedeckt war. Das Gerät diente, wie sich kurz darauf herausstellte, der Folter mit Strom. Gewöhnlich nimmt man dafür alte Isolationsmessgeräte, Kondensator-Zündmaschinen oder Feldtelefone mit Kurbelinduktoren; sie erzeugen Starkstrom, aber mit geringer Kraft; Spuren bleiben fast keine zurück, nur schwarze Punkte.
Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe
Dem Inhaftierten wurden mit der Trainingsjacke die Augen verbunden, ihm wurden Klemmen an die Daumen gesteckt und das Gerät eingeschaltet. „Ich habe geschrien, es tat höllisch weh. Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe“, erklärt Meshidow in seiner Strafanzeige. Eine Kopie liegt Republic vor. In dem Dokument betont Magomed-Ali, die Beamten hätten mehrmals wiederholt: „Bei uns kommt niemand ohne Schuldgeständnis raus.“ „Zwei Tage später wurde ich wieder mit Strom gefoltert, diesmal wurden die Klemmen an den kleinen Fingern und an den Handschellen befestigt, damit ich etwas gestand, das ich nicht getan hatte“, so Meshidow.
Er war einer von etwa 70 Menschen, die Mitte August im hiesigen Untersuchungsgefängnis gelandet waren. Die Verhaftungen waren Teil einer Anti-Drogen-Kampagne, die der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow ausgerufen hatte.
Razzien und Folter
Auf Anfrage von Republic gab das Innenministerium der Teilrepublik an, die Rechtsschutzorgane hätten bis Ende Dezember 507 Verstöße gegen entsprechende Artikel des Strafgesetzes aufgedeckt. Zwei Informanten, die mit dem Verlauf der Operation vertraut sind, berichten, die Polizisten hätten Razzien in den Ortschaften durchgeführt und jeweils mehrere Dutzend Menschen festgenommen. Sie hätten von ihnen verlangt zuzugeben, illegale Substanzen konsumiert oder verbreitet zu haben, und wollten weitere Personen genannt bekommen, die im Besitz von Drogen seien.
Die Situation erinnert zum Teil an das, was in Tschetschenien mit den Menschen geschah, die einer nichttraditionellen sexuellen Orientierung bezichtigt wurden. Diesmal aber ohne Mord und Totschlag: Jetzt setzt man auf das Androhen von besonders schwerwiegenden Strafparagraphen, auf Folter und per Video aufgenommene Geständnisse.
Wochenlanges Verhör
Am 14. August hatten zwei Polizeimitarbeiter in Zivil Magomed-Ali Meshidow vor seinem Wohnhaus auf der Bamat-Girej-Straße festgehalten, das offizielle Protokoll ist jedoch auf den 31. August datiert; am 2. September erließ das Gericht den Haftbefehl. Eine Woche lang verhörte man den 31-Jährigen, wer im Dorf Drogen konsumiere oder verkaufe, und schlug mit einem Metallverbundrohr auf ihn ein. Am 20. August willigte Meshidow ein, das Geständnis zu unterschreiben, aber man ließ ihn trotzdem nicht frei, sondern wartete, bis die Spuren der Schläge nicht mehr zu sehen waren.
Zusammen mit Magomed-Ali wurde auch sein Bruder Magomed-Sidik festgenommen: Er war zu Hause und wollte gerade los, um seine Kinder aus dem Kindergarten abzuholen, als ein Mann in Zivil in den Hof kam und ihn aufforderte, auf ein paar Worte mit vor das Tor zu kommen. Dort steckte man Magomed-Sidik in dasselbe Auto, in dem auch schon sein jüngerer Bruder saß, und brachte die beiden aufs Polizeirevier.
Die Polizisten sagten, wenn ich nicht gestehe, würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen
„Im Büro waren mehrere Mitarbeiter, die mir sagten, ich hätte keine Wahl, ich würde sowieso gestehen, sonst würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen oder eine Klage wegen der Mitgliedschaft in einer ‚illegalen bewaffneten Organisation‘, und dann könnte man mit mir sowieso alles machen, was man will“, berichtet Magomed-Sidik in seiner Strafanzeige. Genau wie sein Bruder wurde er mithilfe von Klebeband und Handschellen so lange gefesselt und gefoltert, bis er das Geständnis unterschrieb.
Schließlich wurde Magomed-Ali zur Last gelegt, am 20. August gut 16 Gramm Marihuana für 1000 Rubel [ca. 14 Euro – dek] verkauft zu haben (für diesen Drogendeal gibt es keine Videobeweise, nicht einmal markierte Geldscheine kamen zum Einsatz). Magomed-Ali hat seine Ware dabei deutlich unter Wert verkauft: Aus einem Bericht des Amtes für Rauschgiftkontrolle beim tschetschenischen Innenministerium geht hervor, dass man 2016 für ein Gramm Marihuana durchschnittlich 600 Rubel hinlegen musste [ca. 8,50 Euro – dek].
Seinem Bruder wird der Besitz von fast 128 Gramm Marihuana vorgeworfen, die man am selben Tag bei der Körperkontrolle gefunden haben will und die er, so heißt es im Ermittlungsprotokoll, im August 2016 für den Eigengebrauch gekauft habe.
Die Strafverteidigung besteht darauf, dass die Fälle gefaked seien, allein, weil die Meshidow-Brüder am 20. August bereits seit einer Woche in Untersuchungshaft saßen. Beweise dafür gibt es reichlich: Mindestens zwei Nachbarn können die Festnahme bezeugen; Magomed-Sidiks Frau hat den beiden zwei Wochen lang Essen gebracht und ihre Wäsche gewaschen; aufgrund der Folter bekam einer der Brüder eine Nierenentzündung, weswegen ein Rettungswagen kommen musste. Nicht zuletzt nennt die Verteidigerin Marina Dubrowina in ihrem Antrag an den Ermittlungsrichter die Namen von vier Mitinsassen, die gesehen haben, wie man die Brüder geschlagen hat.
Zeugen werden eingeschüchtert
Die Meshidows befinden sich im Moment in U-Haft und warten auf die Verhandlung. Zeugen, die den Fakt ihrer Entführung bestätigen könnten, seien von den Kriminalbeamten eingeschüchtert worden, berichtet Anwältin Dubrowina. Sie selbst habe sich mehrfach von den Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane anhören müssen, sie hätten „so Anwälte schon gesehen“, die mit der „besonderen tschetschenischen Mentalität“ und den Feinheiten der Strafverfolgung in der Republik nicht vertraut seien, aber sobald man ihnen „alles verständlich erklärt“ hätte, wären die bald wieder nach Hause gefahren. Zu guter Letzt wurde Dubrowina, ob spaßeshalber oder im Ernst, von einem der Richter ans Herz gelegt: „Wie wäre es mit Personenschutz, Marina Alexejewna.“
„Unsere Parole lautet: Drogensucht und Terrorismus sind gleichwertige Übel!“, sagte Ramsan Kadyrow im September 2016. Ihm zufolge sei Tschetschenien, was das angeht, eine der sichersten Regionen denn in der Teilrepublik würden weder illegale Substanzen hergestellt noch führten die Apotheken Psychopharmaka. „Aber sie werden von außerhalb eingeschleust und an Heranwachsende und junge Leute verkauft. Unsere Aufgabe muss es sein, diese Kanäle zu kappen und die Jugend vor diesem üblen Einfluss zu retten“, fügte der Republikchef hinzu.
Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst!
Wenige Tage später berichtete die Novaya Gazeta von einer Konferenz zum Kampf gegen die gestiegene Zahl der Verkehrstoten und gegen den Drogenkonsum. „Wer in der Tschetschenischen Republik Ärger macht, wird verdammt nochmal abgeknallt. Gesetz hin oder her, was bedeutet das schon … Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst! Das ist das Gesetz!“, hatte Kadyrow damals in Anwesenheit von örtlichen Silowiki, Staatsbeamten und Vertretern der Geistlichkeit gesagt. Der Mitschnitt wurde in den 7-Uhr-Nachrichten im TV-Kanal Grosny ausgestrahlt, aber aus nachfolgenden Beiträgen wurde dieser Teil des Auftritts herausgeschnitten. Die Staatsanwaltschaft behauptete später, die Worte Kadyrows seien aus dem Zusammenhang gerissen worden: „In dem Ausschnitt ging es darum, dass Drogen- und Rauschgiftsüchtige sehr empfänglich sind für die Verlockung von terroristischen Aktivitäten.“
Mahnrede vor 700 Menschen
Seit ein paar Jahren bekämpft Kadyrow das Drogenproblem mithilfe des Glaubens: Im März 2015 legten in der Achmat-Kadyrow-Moschee 300 Menschen vor ihm Buße ab, und im Herbst 2016 hielt er im Amphitheater von Grosny eine Mahnrede vor 700 Menschen. Derartige Veranstaltungen führt auch der stellvertretende Vorsitzende des tschetschenischen Innenministeriums Apti Alaudinow durch. Und manche Drogensüchtige fängt Kadyrow fast höchstpersönlich.
Die aktuelle Anti-Drogen-Kampagne ist ähnlich umfassend: Seit mehreren Monaten schon laufen Festnahmen quer durch die Region. Den Startschuss gab ein Treffen mit der Spitze des tschetschenischen Innenministeriums am 12. August. Damals hatte Kadyrow bekanntgegeben, dass ein Einsatzstab zur Bekämpfung des Drogenproblems eingerichtet wird.
Urteile nach dem immer gleichen Muster
Republic hat sich 67 Urteile näher angesehen, die seit August 2017 von tschetschenischen Gerichten in Verbindung mit Drogendelikten gesprochen wurden und die allesamt auf dem Internet-Portal des automatisierten staatlichen Systems Prawosudije (dt.„Rechtssprechung“) öffentlich zugänglich sind. Die Urteilsverkündungen haben einiges gemeinsam. In allen Fällen hatte der Angeklagte einige Blätter von wildwachsenden Cannabispflanzen abgeschnitten und getrocknet. Die Polizei entdeckte die verbotene Substanz, als der Angeklagte sich bei einer Routinekontrolle nicht ausweisen konnte und auf die Wache gebracht wurde, wo man im Zuge einer Durchsuchung das Marihuana fand und konfiszierte. In Einzelfällen wurde der Verdächtige während eines Kontrolleinkaufs festgenommen. Absolut alle Beschuldigten waren geständig, und ihre Fälle wurden fast ausschließlich in Spezialverfahren verhandelt.
Ein Informant von Republic, der den regionalen Rechtsschutzorganen nahesteht, erklärt, dass die meisten Verhafteten gezwungen würden, Videobotschaften aufzunehmen, in denen sie zugeben, regelmäßig illegale Substanzen zu konsumieren. Wenn jemand sich weigere, vor der Kamera auszusagen, würde man ihn mit Drohungen und Gewalt dazu bringen. Die meisten dieser Fälle hätten sich Ende Oktober bis Anfang November 2017 ereignet, so der Informant.
„Die Rechtsschutzorgane haben freie Hand, weil sie wissen, dass sie einen Befehl ausführen“, betont ein anderer Gesprächspartner, der Verbindungen zu den obersten Sicherheitskreisen hat.
Betroffene holen sich nur selten Hilfe
Einen praktischen Nutzen hätten die Videogeständnisse nicht, sagt ein dritter Informant. Ihm zufolge würden die Mitarbeiter der Polizei diese Videos wahrscheinlich brauchen, um später vor ihren Vorgesetzten und vor Kadyrow selbst Rechenschaft ablegen zu können. Diese Funktion haben die Videobotschaften auch für die Vorsitzende des Zentrums für Konfliktforschung und -prävention Jekaterina Sokirjanskaja. Darüber hinaus, sagt sie, könnten die Videoaufnahmen im regionalen Fernsehen gezeigt und als Belastungsmaterial eingesetzt werden. Sokirjanskaja merkt an, dass sowohl Anti-Drogen-Kampagnen als auch Anwendung von Gewalt bei Verhören in Tschetschenien keine Seltenheit seien. Die Betroffenen würden sich jedoch nur selten an Journalisten oder Menschenrechtler wenden und die Folter thematisieren.
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Nicht nur einfache tschetschenische Bürger geraten im Zuge der Anti-Drogen-Kampagnen ins Visier der Rechtsschutzorgane. So hielt die Polizei am 9. Januar auf der Landstraße zwischen Kurtschala und Oischara bei einer Verkehrskontrolle Ojub Titijew an, den Leiter des Memorial-Büros in Grosny. Er wurde festgenommen, und das Innenministerium erklärte, in seinem Pkw sei ein Päckchen gefunden worden, dessen Inhalt „spezifisch nach Marihuana gerochen und ca. 180 Gramm gewogen“ habe. Titijew selbst sagte vor Gericht aus, die Drogen seien ihm untergeschoben worden: Dafür mussten die Polizeibeamten zusammen mit dem Menschenrechtler zur Landstraße zurückkehren, um in Anwesenheit von Zeugen das Protokoll über die Festnahme aufzunehmen. Die Mitarbeiter des Innenministeriums hätten versucht, Titijew zu einem Geständnis zu bewegen, und ihm damit gedroht, dass man andernfalls gegen seinen Sohn ein Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation“ einleiten würde.