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Kann Russland überhaupt Demokratie?

Brauchen die Russen eine harte Hand? Haben sie die Regierung, die sie eben verdienen und schließlich ja auch gewählt haben? Oder sind sie naiv und von der Staatsmacht verführt? Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin fragt und kommentiert auf Rosbalt.

Quelle Rosbalt

Dieser Artikel ist nicht für Menschen, die denken, dass an den russischen Problemen die Engländer, Amerikaner oder dеr Backstage-Bereich der Welt schuld sind, dass Obama in unsere Hauseingänge gepisst hat, und Uljukajew (aus dem Kerker) im Auftrag des CIA oder des State Department das Rentenalter anhebt. Dieser Artikel ist, genau genommen, nicht mal für die, die nach Schuldigen suchen, sondern für die, die mal richtig aufräumen und die Perspektiven unseres Landes verstehen wollen.

Es gibt zwei uralte Bonmots zum Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft. Das erste lautet: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“, das zweite: „Nach all dem, was die Regierung dem Volk angetan hat, ist es ihre Pflicht, das Volk auch zu heiraten.“ 
Das erste Bonmot erlegt die Schuld dem Volke auf, das nicht in der Lage ist, sich für eine anständige Regierung zu entscheiden. Das zweite setzt die Beziehung zwischen Staatsmacht und Gesellschaft einer Vergewaltigung gleich, oder zumindest einer zynischen Verführung, bei der das naive, empfängliche Volk eher zu bemitleiden denn zu verurteilen ist.

 Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient

Aus dem Unterschied dieser analytischen Ansätze ergibt sich auch ein Unterschied im praktischen Vorgehen. Wenn das Volk unfähig ist und selbst das Regime hervorbringt, das ihm das Fell über die Ohren zieht, dann hieße das, dass es für Russland wenig Hoffnung gibt: Unsere Wirtschaft wird auf ewig stagnieren, reich werden nur diejenigen, die Zugang zum Kreml haben, während für das Volk höchstens mal das Renteneintrittsalter, mal die Steuern erhöht werden. Und ergo jeder, der so nicht leben will, sollte sich wohl besser auf und davon machen.
Wenn es sich bei dem Problem aber um Vergewaltigung oder Verführung handelt, dann gäbe es perspektivisch Hoffnung. Schließlich könnte das Leben ohne den Vergewaltiger oder Verführer anders werden, natürlich nur, wenn das Volk nicht auf ein Abenteuer aus ist, mit dem es sich ins eigene Fleisch schneidet.

Auf den ersten Blick scheint es, als habe das Volk genau das, was es verdient. Wir gehen zur Wahl, werfen Stimmzettel ein, unterstützen ein ums andere Mal die immer Gleichen, auch wenn das Leben dadurch keineswegs besser wird. Wir liebedienern, fallen vor unserem Herrn auf Knie, damit er uns verschone und jene bestrafe, die uns beleidigen. Wir arbeiten schlecht: sind alle hinter dem Öl her, hinter dem Gas, oder wollen unbedingt bei den Silowiki unterkommen, in den Sicherheitsapparaten, wo das Einkommen höher ist und die Arbeit weniger ... Wenn das Volk mehr in jenen Bereichen arbeiten würde, wo es keine monströsen Einkommen gibt, wo wenig gezahlt wird, der Nutzen für die Gesellschaft aber groß ist ... Das wäre vielleicht gut ...

Rationales Verhalten

Stopp. Wir bauen ja nicht den Kommunismus auf, sondern entwickeln eine Marktwirtschaft. Und wir erkennen an, dass wir des Geldes wegen arbeiten, dass wir unsere Familie gut versorgen und ein gemütliches Zuhause und ein Auto haben wollen – und nicht den Traum von einer lichten Zukunft, die irgendwann anbricht ... oder wohl eher nicht anbricht. In der Marktwirtschaft – in unserer, in der finnischen, in der amerikanischen – versuchen die Menschen, sich rational zu verhalten, also eben dort zu arbeiten, wo es ihnen etwas bringt.
Eine andere Frage ist jedoch, dass es in einigen Ländern etwas bringt, ein Unternehmen aufzubauen, sich fortzubilden, Geld in langfristige Projekte zu investieren, während es in anderen besser erscheint, beim Staat unterzukommen, in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Teil jener Ölrente zu ergattern, von der sich vor allem diejenigen eine Scheibe abschneiden, die Verbindungen zur obersten Etage der Macht haben. Bei uns ist das zweite der Fall.

Einfacher gesagt, verhalten sich die Menschen bei uns ungefähr so wie Menschen in anderen Marktwirtschaften auch: Sie suchen sich einen Platz, wo es gut ist, und sind bei entsprechenden Anreizen bereit, ordentlich zu schuften. Unser Staat hat allerdings ein System von Anti-Anreizen geschaffen und nötigt die Gesellschaft weniger zur Arbeit denn zur Raffgier. Und die Leute raffen, wie an ihrer Stelle und unter diesen Umständen auch Finnen oder Amerikaner raffen würden. Eine Marktwirtschaft mit guten Institutionen (Spielregeln) ist eine Methode, um reicher zu werden. Eine Marktwirtschaft mit schlechten Institutionen bedeutet den Weg in den Niedergang.

Rational in der Wirtschaft, irrational in der Politik?

Aber halt, könnte nun jemand sagen, der der Ansicht ist, dass das Volk bei uns dennoch nicht ganz richtig tickt. In der Wirtschaft verhalten sich diese Menschen womöglich rational, fast wie die Menschen im Westen, aber in der Politik sind sie irrational. Sie wählen Putin und demzufolge jene hässlichen Spielregeln, die er für sie geschaffen hat. Somit wäre das Volk dennoch eines solchen Präsidenten mit all seinen Deputaten, Bürokraten, Abreks und Kunaks würdig.

Nehmen wir einmal an, das Volk würde das verdienen. Doch wenn es unsere Aufgabe ist, nicht einfach nur das Volk zu verurteilen und selbst aus Russland zu verduften, sondern auch zu verstehen, was man tun kann, dann werden wir wiederum weniger vom Volk enttäuscht sein. 
Schließlich versucht Putin strikt, jedwede Alternative zu ihm, dem Geliebten, aus der Politik fernzuhalten, und versetzt den Wähler in eine ausweglose Lage. Wahlen geraten zu einem formalen Urnengang ohne reale Wahl – und die scheinbare Demokratie wird zu einem typischen autoritären Regime. In diesem Regime macht es keinen besonderen Unterschied, ob wir für Putin stimmen oder etwa diese Farce von Wahl boykottieren. Ein rational veranlagter Wähler denkt sich doch: Wenn mir die Wahl geboten wird zwischen einem realen Anführer, mit dem ich schon fast 20 Jahre mehr schlecht als recht lebe, und einer Truppe Clowns, von denen wer weiß was zu erwarten ist, wäre es da nicht besser, Putin zu unterstützen?

Und die Deutschen?

Rein moralisch erscheint mir persönlich eine solche Auswahl sehr schlecht. Aber wie bei der Abwanderung in die Sicherheitsbehörden oder in die Gaswirtschaft um des vielen Geldes wegen wirkt eine Stimmabgabe für Putin rational. Unser Wähler fürchtet das Chaos, ganz wie es auch der wohlsituierte Bürger eines westlichen Landes fürchtet. Allerdings wäre da noch der Umstand, dass der russische Durchschnittsbürger heute die Gefahren eines Lebens ohne das Patronat Putins sehr übertreibt, was angesichts der Propaganda, die sich über sein schwaches Haupt ergießt, auch nicht verwunderlich ist. In einer solchen Situation wären die Deutschen genauso durch den Wind wie Angehörige vieler anderer Nationen, die heute durchaus als zivilisiert angesehen werden.

Die Deutschen, wie auch andere Völker hatten jene menschenverachtenden Regierungen durchaus verdient, die sie sich geschaffen hatten. Und sie verhielten sich diesen Regierungen gegenüber durchaus rational. Wobei sie mit dieser Rationalität bis zur Unmenschlichkeit gingen. So ermordeten sie beispielsweise Juden, weil diese Grausamkeit damals befördert wurde. Und als das Regime gewechselt hatte, machten sich die Deutschen umgehend an den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft mit Demokratie und Toleranz. Weil unter dem neuen Regime genau dies befördert wurde. 
Aus moralischer Sicht ist die Leichtigkeit, mit der ein Volk sich einerseits dem Bösen, andererseit dem Guten hingeben kann, natürlich widerwärtig: Nicht umsonst zeigen die Deutschen bis heute Reue. Wenn wir jetzt nicht das Problem der Moral analysieren, sondern der Frage einer normalen gesellschaftlichen Entwicklung nachgehen wollen – nach dem Wechsel von einem menschenverachtenden Regime hin zu einem menschlichen – stellt sich heraus, dass so etwas durchaus möglich ist.

Das Rationale gerät zum Konformismus

„Also ist es so, dass jedes Volk jederzeit in der Lage ist, eine Demokratie zu errichten?“, würde jetzt lächelnd ein Skeptiker fragen, der nicht an die Möglichkeit glaubt, dass sich Russland entwickeln könnte. Natürlich nicht jedes Volk. Eine normale Entwicklung ist für gewöhnlich dann nicht möglich, wenn in der Gesellschaft irrationales Verhalten gegenüber rationalem eindeutig dominiert. Wenn man also, sagen wir mal, unbedingt Kommunismus aufbauen will, auch wenn einem der gesunde Menschenverstand sagt, dass sich das nicht umsetzen lässt. Oder wenn Gebete als Mittel zur Lösung von Problemen des Diesseits (Lohnerhöhung, bestandene Prüfungen usw.) angesehen werden. Oder wenn plötzlich freigesetzte Leidenschaft über den Verstand dominiert.

Vor rund hundert Jahren dominierten in Russland Leidenschaften, Gebete und phantastische Träume der breiten Masse deutlich über dem rationalen Wunsch eines kleinen Teils der Gesellschaft nach dem Aufbau von Marktwirtschaft und Demokratie. Heute ist das umgekehrt. Die Massen sind höchst rational geworden. Allzu rational, wie es manchmal scheint. Das Rationale gerät zum Konformismus und zu offenem Opportunismus und Duckmäusertum. Bei Leuten mit Gewissen ruft das Abneigung hervor. Und es fallen Schlagwörter wie: „Gesocks“, „Watniki“, „Sowok“.

Nichtsdestotrotz können die pragmatischen, rationalen und konformistisch eingestellten Russen – wie in der Vergangenheit auch andere Völker – leicht zu normalen Bürgern einer zivilisierten Welt werden, wenn das Regime aufhört, uns alle möglichen destruktiven Stimuli zu bieten.

Normale Wahlen bringen uns dazu zu überlegen, welcher Kandidat besser ist (wie es die Menschen Anfang der 1990er Jahre taten). Eine normale Wirtschaft bringt uns dazu, Waren herzustellen, die nachgefragt werden (wie es Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre der Fall war), und nicht dazu, sich einem gaunerhaften Staat anzudienen.

Wie aus diesem destruktiven System ein normales Russland aufzubauen wäre, ist eine gesonderte Frage, die sich in einem kurzen Artikel nicht erörtern lässt. Dass aber unser Volk bei vernünftigen Spielregeln zu einer konstruktiven Entwicklung in der Lage ist, daran habe ich persönlich keinen Zweifel.

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Souveräne Demokratie

Der Ausdruck geht auf den Kreml-Strategen Wladislaw Surkow zurück. Im Begriffspaar werden bewusst autoritäre Staatsvorstellungen mit demokratischen verbunden: es unterstreicht den russischen Anspruch auf Deutungshoheit bei der Auslegung von „Demokratie“ und auf Selbstbestimmung innerer Angelegenheiten. Das Konzept der „souveränen Demokratie“ war Teil der Reaktion der russischen Führung auf die unerwünschten Ereignisse der Orangen Revolution in der Ukraine, konnte sich aber  – auch aufgrund fehlender Unterstützung von Putin – nicht dauerhaft etablieren.

Die auf den ersten Blick ungewöhnliche Kombination von „Souveränität“ und „Demokratie“ entstammt Putins zweiter Amtszeit – einer Phase, die für die neue russische Geschichte von entscheidender Bedeutung ist. Die Wirtschaft wuchs rasant, die Lebensbedingungen verbesserten sich zusehends (s. a. Stabilisierung), und auch auf der internationalen Bühne begann Russland sich nach 15 Jahren weitgehender Bedeutungslosigkeit wieder zu etablieren – auch in Konkurrenz zum Westen.1 Gleichzeitig steht diese Phase für eine Festigung der autoritären Tendenzen des politischen Systems.2 Zwei Schlüsselereignisse sind mit dieser Entwicklung untrennbar verbunden: die Geiselnahme von Beslan im September 2004 und die Orange Revolution in der Ukraine im Winter 2004/5. Beide wiesen die russische Führung auf ihre eigene (potentielle) Verwundbarkeit hin und dienten zur Legitimierung verschärfter politischer Kontrolle. Die Entstehung des Begriffs „souveräne Demokratie“ muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Der Begriff kursierte bereits 20053, öffentlich etablierte ihn Surkow jedoch erst bei einer Rede vor Aktivisten der Partei Einiges Russland am 7. Februar 2006. Der Souveränitätsaspekt bezeichnet dabei die Selbstbestimmung des russischen Staates nach außen: er dürfe nicht, wie angeblich in der Ukraine geschehen, durch äußere Kräfte unterwandert und ins Chaos gestürzt werden. Gleichzeitig sollte das Konzept der Demokratie aus der westlich-liberalen Deutungshoheit herausgelöst und mit eigenem Inhalt gefüllt werden.4 Kritiker setzten den Ausdruck sogleich in Beziehung zum Begriff der „gelenkten Demokratie“ und identifizierten ihn damit als Teil einer PR-Strategie zur Maskierung der schleichenden Autoritarisierung Russlands.5 Surkow versuchte zwar, ihn zur neuen Staatsideologie auszurufen. Er sollte jedoch vor allem als Symptom der Spannungen im russischen Selbstverständnis und weniger als Basis einer neuen Politik verstanden werden.6

Zwar versuchte die Führung der Partei Einiges Russland den Begriff als Schlüsselidee ihrer Wahlplattform zu etablieren7, gab ihn jedoch 2007 weitgehend auf (siehe Abb.1). Putin selbst vermied den Begriff und distanzierte sich bereits im September 2006 von ihm, als er andeutete, die beiden Teile gehörten zu unterschiedlichen konzeptuellen Sphären. Bevor die Konjuktur des Begriffs langsam abnahm, spielte er 2007 im Ringen um die Nachfolge Putins noch einmal eine Rolle: Sergej Iwanow, Verteidigungsminister und hochgehandelter Kandidat für das Präsidentenamt, erklärte ihn zu den wichtigsten Zielen des neuen Russlands, während der damalige stellvertretende Ministerpräsident Dimitri Medwedew ganz in der liberalen Tradition bemerkte, Demokratie brauche keine Attribute.8 Medwedew machte das Rennen, und spätestens mit dem „Reset“ der Beziehungen zu den USA und Medwedews rhetorischem Fokus auf die Modernisierung des Landes wurde der Begriff obsolet.9 Er hat bisher keine Renaissance erfahren.

Abb. 1: Anzahl der Beiträge in zentralen Medien mit Nennung des Begriffs "Souveräne Demokratie", 2004-2015. Quelle: Integrum10

1.Trenin, Dmitri (2011): Russia’s Foreign Policy Outlook, S. 46 in: Lipman, Maria / Petrov, Nikolay (Hrsg.): Russia in 2020, Washington, S. 45-65
2.Die Regierung baute die Vormachtstellung der Partei Einiges Russland durch Wahlrechtsreformen aus und beschränkte die Autonomie von Medien und Nichtregierungsorganisationen.
3.Hier ein Artikel des Publizisten Witalij Tretjakow, der „Souveräne Demokratie“ als Quintessenz der politischen Philosophie Putins verstehen will: rg.ru: Suverennaja Demokratija
4.Mommsen, Margareta (2006): Surkows „Souveräne Demokratie“ – Formel für einen russischen Sonderweg? In: Russlandanalyen Nr. 114
5.siehe beispielhaft Washington Post: Putin's 'Sovereign Democracy'
6.siehe dazu Morosow (2008): Sovereignty and democracy in contemporary Russia: a modern subject faces the post-modern world, in: Journal of International Relations and Development, 11(2), S. 152-180
7.Mommsen 2006, S. 2
8.ebd.
9.Trenin 2011
10.Anmerkung: Im Jahr 2015 wurde der Dezember nicht erfasst.
 
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Dimitri Medwedew ist seit Januar 2020 stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates. Er war von 2012 bis 2020 Premierminister und bekleidete von 2008 bis 2012 das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation. Medwedew gehört zu den engsten Vertrauten von Präsident Putin und nimmt, nicht zuletzt als Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland, eine wichtige Rolle im politischen Systems Russlands ein.

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