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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Demokratija

Russlands Präsident Wladimir Putin argumentiert regelmäßig, dass Russland sein eigenes politisches System entwickeln müsse, das zur Kultur und den Traditionen des Landes passt. Er selbst bezeichnet dieses politische System als spezielle Form der Demokratie und in Meinungsumfragen unterstützt ein großer Teil der russischen Bevölkerung diese Sicht. Die Frage des russischen Demokratieverständnisses ist aber deutlich komplexer.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Es ist natürlich keinesfalls so, dass nur Russland ein besonderes Demokratieverständnis besitzt und sich damit von der Weltgemeinschaft oder „dem Westen“ absetzt.

Die Bedeutung von Demokratie ist immer abhängig von Zeit und Ort. Die „Demokratien“ bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, etwa in den USA oder in England, schlossen die Mehrheit der Bevölkerung aus – Frauen, Sklaven, Nicht-Steuerzahler. Im Ergebnis besaß oft weniger als ein Viertel der Bevölkerung das Wahlrecht. Die modernen Demokratien im Westen sind auch nicht homogen und befinden sich im ständigen Wandel. Sie sind sehr unterschiedlich organisiert und aktuell wird zunehmend gefragt, ob Parteien noch die zeitgemäße Organisationsform für Demokratien sind und ob das Internet nicht neue Formen direkter Demokratie ermöglichen kann.

Was ist Demokratie?

Trotz dieser Vielfalt der Formen von Demokratie darf aber nicht vergessen werden, dass die Grundidee von Demokratie immer mehr ist, als nur von der Bevölkerung die Herrschenden wählen zu lassen. Demokratie meint zuerst, dass alle in ihren Menschen- und Bürgerrechten geschützt sind. Diese Grundrechte werden in demokratischen Verfassungen festgeschrieben und dürfen auch von gewählten Politikern nicht geändert werden. An diese Grenzen stoßen sehr viele Populisten, die Demokratie mit einer Diktatur der Mehrheit verwechseln.

Zweitens verlangt die Vorstellung von der Bevölkerung als Machtquelle, dass alle eine informierte Entscheidung treffen können, wenn sie an Wahlen teilnehmen. Deshalb kommen freiem Zugang zu Informationen, freier Meinungsäußerung und freien Massenmedien in Demokratien eine so große Bedeutung zu.

Drittens basiert die Demokratie aber auch auf der Idee der fortwährenden Kontrolle der Herrschenden. Auch hier können freie Massenmedien eine Rolle spielen. Die zentrale Antwort ist aber die Gewaltenteilung im Rahmen eines Rechtsstaates. Politiker müssen Macht teilen, müssen sich an geltendes Recht halten und werden dabei von Gerichten kontrolliert. Auch hier gilt, dass Demokratie keine Diktatur der gewählten Volksvertreter ist.

Demokratieverständnis in Russland

Das Demokratieverständnis vieler Menschen bezieht sich aber nicht nur, oder nicht einmal zentral, auf das theoretische Konzept von Demokratie, sondern auf die eigene Erfahrung mit Demokratie. So ist etwa argumentiert worden, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Zustimmung der westdeutschen Bevölkerung zur Demokratie stark mit der positiven Erfahrung des „Wirtschaftswunders“ zusammenhängt. Demokratie und Wohlstand wurden als zwei Seiten einer Medaille gesehen.

Umgekehrt belasten Wirtschaftskrisen und das Gefühl internationaler Demütigung neu geschaffene Demokratien. Dies gilt für die Weimarer Republik in Deutschland ähnlich wie für das Russland der 1990er Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. So wünscht sich in Meinungsumfragen ein großer Teil der russischen Bevölkerung weniger demokratische Prinzipien, als vielmehr „Ordnung“ und „eine starke Hand“. Im international vergleichenden World Value Survey sprechen sich in der ersten Hälfte des Jahrzehnts (2010-2014) nur 21 Prozent der russischen Bevölkerung explizit dagegen aus. In Deutschland und Polen sind es über 70 Prozent.1 Diese Einschätzung wird von der politischen Führung mit der Entwicklung von Konzepten wie „souveräner Demokratie“ aufgegriffen.

Im längerfristigen Durchschnitt ist etwa ein Viertel der russischen Bevölkerung nicht der Meinung, dass Russland eine Demokratie im Sinne der in Westeuropa und den USA entwickelten Konzepte benötigt. Dabei wird von einigen nicht mehr zwischen der Idee von Demokratie und ihrer konkreten – wenig erfolgreichen – Umsetzung im eigenen Land unterschieden. In Meinungsumfragen2 wird Demokratie so von zehn Prozent der Befragten in Russland gleichgesetzt mit Begriffen wie „inhaltsleeres Gerede“ oder „Chaos“.

Spezielle Art von Demokratie

Vielmehr noch wird durch die eigenen Schwierigkeiten die Wahrnehmung populär, dass sich in anderen Ländern entwickelte Konzepte nicht einfach übertragen lassen. Knapp die Hälfte der Bevölkerung erklärt so in Meinungsumfragen regelmäßig, dass Russland eine eigene, spezielle Art von Demokratie brauche.

Was für eine Demokratie das sein könnte, ist aber im Abbild der Meinungsumfragen weniger klar. Keine Eigenschaft von Demokratie ist mehrheitsfähig. Direkt nach bürgerlichen Freiheiten folgen „Ordnung“ und „Wohlstand“ – alle aber nur mit Zustimmung von einem Drittel bis einem Viertel der Befragten.

Die Politikwissenschaftlerin Ellen Carnaghan argumentiert in diesem Zusammenhang: „In Gesellschaften, die sich entweder auf dem Weg hin zur Demokratie oder von ihr weg bewegen, ist oft unklar, was ,Demokratie‘ tatsächlich bedeutet. Institutionen und Praktiken, die das Label ,Demokratie‘ tragen, handeln oft nicht so, wie es demokratischen Normen entsprechen würde. Bürger in stabilen politischen Systemen hingegen werden schon in der Schule mit den Grundzügen ihrer politischen Institutionen vertraut gemacht. [...]  In Gesellschaften, die einen politischen Wandel durchmachen, haben Bürger diesen Vorteil nicht.“3

Zufriedenheit mit dem politischen System

Entscheidend für eine Einschätzung der russischen Haltung zu Demokratie ist aber, dass diese nicht im Mittelpunkt politischer Debatten oder Wertungen steht. Zentral ist – nicht nur in Russland, sondern nach Einschätzung prominenter Meinungsforscher grundsätzlich – die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des jeweiligen politischen Systems.

Während die 1990er Jahre in Russland in dieser Hinsicht katastrophal schlecht abschneiden, ist im folgenden Jahrzehnt von der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung eine deutliche Verbesserung wahrgenommen worden. Die Zustimmung zur Arbeit von Wladimir Putin ist seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 in Umfragen nie unter 60 Prozent gefallen.4

Diese relative Zufriedenheit mit der Leistung von Politik – oder genauer der Leistung des führenden Politikers – führt dann bei einem Teil der Bevölkerung dazu, dass das politische System selbst relativ positiv gesehen wird. „Demokratisch“ bedeutet dann „im Interesse oder auf das Wohlergehen der Bevölkerung gerichtet“. So lässt sich erklären, dass im Januar 2012 angesichts von Massenprotesten gegen Wahlfälschungen bei den vorangegangenen Parlamentswahlen nur ein gutes Drittel der russischen Bevölkerung die Wahlen als „unfair“ einschätzt.


1. zit. nach: Russland-Analysen Nr. 330, S. 18.
2. Meinungsumfragen sind natürlich kein exaktes Abbild der Sicht aller 144 Millionen Menschen, die in Russland leben, aber sie geben einen Eindruck davon, welche Einstellungen mehrheitsfähig sind. Während es bei Wahlprognosen oft um Unterschiede von wenigen Prozentpunkten geht, soll hier nur grob gezeigt werden, welche Positionen sehr häufig oder eher selten vertreten werden. Wenn im Text ein Beispiel genannt wird, bei dem 20 Prozent der Befragten in Russland, aber 70 Prozent in Deutschland eine Position vertreten, so geht es nicht darum, ob es in Wirklichkeit 5 Prozent oder sogar 10 Prozent mehr oder weniger sind. Der deutliche Unterschied bleibt auch dann bestehen. Um nicht eine Präzision vorzugeben, die nicht zu leisten ist, werden deshalb im Text in der Regel keine konkreten Prozentzahlen, sondern Größenordnungen, wie z. B. „große Mehrheit”, „ein Viertel” etc. genannt.
3. zit. nach: Carnaghan, Ellen (2012): Öffentliche Unterstützung für Demokratie und Autokratie in Russland, in: Russland-Analysen Nr. 243, S. 7-10, Bremen, hier: S. 8; in dieser Ausgabe finden sich auch die oben zitierten Umfragen.
4. levada.ru: Ijun’skie rejtingi odobrenija i doverija.

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)