Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 hat Russland die gesamte Ukraine angegriffen. Sämtliche diplomatische Bemühungen, die es seit Dezember 2021 auf internationaler Ebene gegeben hat, als Russland von der NATO und den USA weitreichende „Sicherheitsgarantien“ gefordert hatte, sind damit komplett gescheitert.
Zuvor hatte sich die Entwicklung massiv zugespitzt: Schon beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar hatte Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine geprochen. Am Montag, 21. Februar, erkannte Russland die Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängig an, verbunden damit, dass Putin Truppen losschickte. In einer TV-Rede, ausgestrahlt am Montagabend, nur Stunden vor dem Ingangsetzen der Militärkolonnen, hatte Putin der Ukraine ihre eigene Staatlichkeit abgesprochen. Ein „Meisterwerk der Demagogie“, nannte der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel den Auftritt.
Worum aber geht es dem Kreml, worum geht es Moskau? Wirklich um Kränkungen durch den Westen, vermeintlich nicht eingehaltene „Versprechen“ und Sicherheitszusagen aus den 1990er Jahren?
Die Politikanalystin Tatjana Stanowaja schrieb nach Putins Rede: „Heute ist der Tag, an dem Wladimir Putin auf die dunkle Seite der Geschichte übergewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende seines Regimes, das sich nur noch auf Waffen stützt.“
In einem langen Analysestück auf Vashnyje Istorii skizziert Kirill Rogow ein Regime, das auf Repression und Rohstoffe setzt, aber keine wirkliche Zukunftsperspektive zu bieten hat. Und so zum Aggressor wird. Einen Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde der Text veröffentlicht.
Wofür braucht Putin einen Krieg? Wissenschaftler suchen nach einer Erklärung für den exzentrischen und aggressiven außenpolitischen Kurs des Kreml, versuchen, die Logik dahinter und seine wahren Ziele zu erklären. Diese Versuche führen allerdings zu einer anderen, allgemeineren Frage: Was leitet autoritäre Regime überhaupt bei der Wahl ihres außenpolitischen Kurses? Sind die Eskalation des Konflikts mit dem Westen und die Vorbereitung eines realen Krieges gegen die Ukraine [Text vom 23.02.22 – dek] eine Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder werden sie von innenpolitischen Gründen diktiert?
Einige Vorteile einer Eskalation sind mit dem bloßen Auge erkennbar. Wer war Putin noch vor einem Jahr? Er war jemand, dem die Welt einen Mordversuch mit einer verbotenen Chemiewaffe am Anführer der Opposition vorwarf. Selbst der amerikanische Präsident unterstrich diesen Vorwurf mit einem Wort. In Russland haben zig Millionen Menschen den Film [von Alexej Nawalny – dek] über Putins Palast gesehen, der ihn als im Pomp versinkenden Mafiaboss zeigte.
Sind die Eskalationen Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder von innenpolitischen Gründen diktiert?
Derselbe Putin erscheint heute als jemand, der bereit ist, einen großen Krieg zu führen, um die russischen Interessen zu verteidigen und die „Umzingelung Russlands durch die NATO“ aufzuhalten. Die Machthaber dieser Welt statten ihm einer nach dem anderen Besuche ab und diskutieren betont respektvoll über seine Sorgen und Forderungen. Niemand erwähnt den Palast, den Anschlag auf Alexej Nawalny oder die im ganzen Land zunehmenden Repressionen. Wenn das mal kein überzeugender Nutzen einer Eskalation ist. Fighting Fire with Fire, oder klin klinom wyschibat, einen Keil mit dem anderen rausschlagen, wie es auf Russisch heißt.
Aber es gibt auch eine tiefer gehende Perspektive, die die Dynamik der Putinschen Eskalationen erklärt. 2011, als Putin verkündete, in den Präsidentensessel zurückkehren zu wollen, sah er sich zum ersten Mal mit Massenprotesten konfrontiert. Sein berühmtes Rating, seine Beliebtheitsskala, sank auf einen Tiefstand. Anti-Putin-Äußerungen wurden zu einem wesentlichen Bestandteil im innenpolitischen Geschehen. Der Kreml reagierte darauf mit verstärkter Kontrolle der Medien, gezielten Repressionen und einer Verschärfung der Demonstrationsgesetze. In der Folge wurde 2013 das organisatorische Potential der Opposition gesprengt, die Demonstrationswelle verebbte. Doch die Umfragewerte blieben unten. Putins Legitimität als autoritärer, alternativloser Herrscher wurde nicht wiederhergestellt. Erst nach der Annexion der Krim und den entfachten Kämpfen im Donbass schnellte das Rating wieder in die Höhe. Der „schwache Putin“ löste sich auf im Rauch eines siegreichen Krieges.
Als Putin Ende 2020/Anfang 2021 erneut mit einer Reihe von ernstzunehmenden Herausforderungen konfrontiert wurde – der aufgedeckte Mordanschlag, der Film über den Palast, Massenproteste, die diesmal auch die Provinz ergriffen –, holte er wieder zum Gegenangriff auf die Opposition und die unabhängige Presse aus, schickte Dutzende von Oppositionellen ins Gefängnis oder vertrieb sie aus dem Land, und erklärte Nawalnys Organisationen für illegal. Und wieder gelang es ihm, das Potential der Opposition erfolgreich zu sprengen. Doch genau wie beim letzten Mal führte das nicht zur Wiederherstellung der Legitimität Putins als autoritärer Leader. Das Rating blieb auf demselben Niveau, und die Proteststimmen bei den Wahlen im vergangenen Jahr konnten lediglich mithilfe von Fälschungen abgefangen werden. Das heißt, das Problem war nur halb gelöst.
Es ist an der Zeit, sich die Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen
Doch diese Argumentation überzeugt jene nicht so recht, die in den Handlungen des Kreml ein Bekenntnis zu den nationalen Interessen sehen. Und es ist an der Zeit, sich diese Interessen und die tieferen Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen.
In Russland existieren schon seit Jahrhunderten zwei große Narrative, die seine Beziehungen zur Außenwelt beschreiben.
Zwei große Narrative
Das erste sieht Russland als ein riesiges, an Territorium und natürlichen Ressourcen außerordentlich reiches Land, was sein Potential als Großmacht sozusagen von Anbeginn an definiert. Die Länder, die Russland umgeben, sind demzufolge neidisch auf diesen Reichtum und fürchten sein Potential, und deshalb trachten sie danach, Russland zu spalten, von innen heraus zu unterwandern oder seine Möglichkeiten zur vollen Entfaltung dieses Potenzials einzuschränken. Russlands primäre Aufgabe besteht in diesem Narrativ darin, sich diesen feindlichen Handlungen unter Einsatz seiner inneren Kräfte zu widersetzen. Das ist das Narrativ von Schutz und Verteidigung.
Das zweite Narrativ ist wohl nicht weniger historisch verankert und praktisch jeder Russe, jede Russin kennt es. Es beschreibt Russland ebenfalls als ein an Territorium und an Ressourcen reiches Land mit einem riesigen Potential, welches es nicht vollends entfalten kann – allerdings, weil das Land nicht genügend entwickelt ist und technisch, wirtschaftlich wie gesellschaftlich hinter dem Westen zurückbleibt. Das Land muss also unbedingt eine Kraftanstrengung unternehmen und den Westen einholen, damit sich sein Potential vollends entfalten kann. Dieses Narrativ ist das der Modernisierung und der aufholenden Entwicklung.
„Schutz und Verteidigung“ versus Modernisierung
Diese zwei Narrative stehen in der öffentlichen Meinung in ständiger Konkurrenz, wobei sie die Prioritäten der nationalen Interessen, der entsprechenden politischen Ziele und notwendigen Handlungen auf unterschiedliche Weise definieren. Was meistens bei der Analyse durchrutscht, ist, dass diese zwei Narrative und die politischen Prioritäten, die sie implizieren, grundsätzlich unterschiedliche Kompetenzen von den Leadern und Eliten auf den Kommandoposten erfordern.
Im ersten Fall sind das die Kompetenzen der Verteidigung und der Bewahrung von Ordnung – also Kompetenzen der Gewalt. Im zweiten Fall ist es die Kompetenz, Technologien und Institutionen zu übernehmen und sie anzupassen sowie Allianzen zu schließen und Handel zu treiben. Die zwei Narrative führen nicht nur zu einer Konkurrenz, was die priorisierten Ziele in der öffentlichen Meinung angeht, sondern auch zu einer Konkurrenz zwischen zwei Typen von Eliten, die auf unterschiedliche Kompetenzen und Mechanismen in der Verwaltung, in den Institutionen ausgerichtet sind.
Löwen und Füchse
In Phasen, in denen in Russland das erste Narrativ populär ist, dominiert an der Spitze der Führungspyramide jener Typ von Elite, den Vilfredo Pareto in Anlehnung an Machiavelli als „Löwen“ bezeichnete und die wir hierzulande als Silowiki kennen. Dominiert das zweite Narrativ, betreten die Bühne diejenigen, die Pareto und Machiavelli als „Füchse“ bezeichneten. Ändert sich das dominierende Narrativ, kommt es unweigerlich zu einer Umgestaltung der Eliten.
Betrachtet man Russlands Geschichte der letzten Jahrzehnte aus diesem Blickwinkel, kann man sagen, dass seit Gorbatschows Reformen Mitte der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre in der russischen Politik die Füchse dominierten, die ein Aufholen in der Entwicklung und eine pragmatische Kooperation mit dem Westen in den Vordergrund der nationalen Interessen stellten. In diese Zeit fielen die massenhaften Privatisierungen, und die Füchse, die feste politische Posten innehatten, wussten diese für ihren eigenen Vorteil zu nutzen.
Mit Putin kamen die Löwen
Doch mit Putins Einzug in den Kreml im Jahr 2000, betraten immer mehr Löwen, oder Silowiki, wie man sie in Russland nennt, die politische Bühne. Ab 2012 dominierten sie das Regierungssystem vollends. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Putins 20-jähriger Amtszeit eine massive Umschichtung privatisierter Vermögenwerte stattgefunden hat, überwiegend zum Vorteil der Löwen. Jetzt stehen sie genau wie Putin vor der Frage, wie sie ihre Vorherrschaft festigen und zusammen mit dem erbeuteten Reichtum an die nächste Generation von Politikern und Eigentümern weitergeben können: an ihre Kinder und Erben.
Während es in den 2000er Jahren zunächst danach aussah, als würden Putin und seine Regierung über Kompetenzen sowohl des ersten als auch des zweiten Typs verfügen – also als würden sie sowohl die Wirtschaft ankurbeln als auch Ordnung schaffen – geriet das Wirtschaftswachstum 2010 beträchtlich ins Stocken. Das stellte die Fähigkeiten der Putinschen Elite auf diesem Gebiet in Frage und holte den Modernisierungsbedarf wieder zurück auf die Tagesordnung. Das heißt, es eröffnete den Füchsen wieder die Chance, ihre Positionen in der russischen Politik zu stärken. Davon zeugten sowohl die Modernisierungsrhetorik während Medwedews Präsidentschaft als auch die Proteste 2011 und 2012, bei denen soziale Gruppen neue Forderungen stellten, die über die Ideale von Sicherheit und Stabilität hinausgingen.
Dies ist der Hintergrund, vor dem die Krim-Wende in der russischen Politik vonstatten ging. Die Annexion der Krim kam wie die symbolische Rückkehr eines sowjetischen Elysiums mit dem Titel Supermacht daher. Und sie schuf nicht nur ein unlösbares Problem in Russlands Beziehungen zum Westen, sondern blockierte auch jeden Versuch, das Land wieder auf den Weg der Modernisierung zu bringen. Die Annexion der Krim und der Konflikt mit dem Westen wurden zum Hebel, mit dem die Füchse an den Rand gedrängt und ihr politischer Einfluss untergraben wurde. Damals wie heute provozierte der hohe Konfrontationsgrad den Westen zwingend zu einer Reaktion, die es wiederum erlaubte, das Narrativ vom sich verteidigenden Russland als alternativlos und einzig möglich darzustellen – und dieses Narrativ als eine einvernehmliche Doktrin nationaler Interessen durchzusetzen.
Die Isolation Russlands ist keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag
Vertreter der Elite ersten Typs – Löwen, Silowiki – besetzen heute die politischen Spitzenpositionen der Herrschaftspyramide und aller weiteren Ebenen, sowie die Schlüsselpositionen der Wirtschaft und Geschäftswelt. Eine antiwestliche Haltung und der Isolationismus sind für sie nicht nur ein formaler, sondern ein realer ideologischer Identifikationsrahmen, der durch ihre entsprechenden Kompetenzen (Kontrolle, Bewachung, Unterwerfung, Repression) und institutionellen Präferenzen gestützt wird.
Die Isolation Russlands ist daher keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag. Sie soll den Modernisierungseffekt aus zweieinhalb Jahrzehnten prowestlicher Orientierung des Landes nivellieren. Sie sichert das Funktionieren eines geschlossenen wirtschaftlichen Umverteilungsmodells, in dem der durch Rohstoffexport erzielte Gewinn zum überwiegenden Teil in den Händen des Staates landet und die Dominanz der Löwen festigt. Diese Ressourcen reichen aus, um notwendige technische Ausrüstungen anzuschaffen und einen riesigen Sicherheitsapparat zu unterhalten. Gleichzeitig lässt dieses Modell keinen nennenswerten Zufluss von ausländischem Kapital zu. Das würde nicht nur dem inländischen Kapital und den traditionellen Patronage-Eliten Konkurrenz machen, sondern auch die Position der Modernisierungs-Eliten stärken, die für den Austausch mit anderen Ländern besser geeignet sind.
Russlands wirtschaftliche Interessen zu opfern, wirkt gar nicht so irrational – wenn man bedenkt, dass es um den Erhalt der herrschenden Stellung in der russischen Politik und um die Weitergabe von erbeutetem Vermögen an die Nachfolger geht. Sanktionen, die politische und wirtschaftliche Isolation, begleitet von einer drastischen Schwächung der rivalisierenden Eliten und deren politischer Narrative – all das sichert eine reibungslose und sichere Weitergabe.