99,64 Prozent – so hoch war 2017 laut Oberstem Gericht Russlands die Wahrscheinlichkeit, dass ein russisches Gericht den Schuldspruch fällt. Dass der Investigativreporter Iwan Golunow nun freigesprochen wurde, ist damit eine große Ausnahme. Für die Behörden steht fest, dass dem Journalisten Drogen untergejubelt wurden, um ihn nach Paragraph 228 wegen Drogenhandels zu verurteilen. Rund ein Drittel aller derzeitigen Gefängnisinsassen in Russland wurde nach Paragraph 228 des Russischen Strafgesetzbuchs verurteilt. Viele von ihnen sind unschuldig, meinen Beobachter – ihnen seien Drogen untergejubelt worden, um sie aus dem Weg zu räumen.
Nun wurden zwei hochrangige Moskauer Polizeichefs entlassen. Die Duma kündigte außerdem neue Drogengesetze an. Gleichzeitig wurden bei der nichtgenehmigten Protestaktion im Moskauer Stadtzentrum am gestrigen Mittwoch nach Angaben von OWD-Info 549 Personen zumindest kurzzeitig festgenommen.
Was kommt nach dem Fall Golunow? Änderungen im System? Ein breiter Protest für eine unabhängige Rechtsprechung? Oder doch nur business as usual? Michail Schewtschuk kommentiert auf Republic.
Die Strafsache gegen den Journalisten von Meduza Iwan Golunow ist beendet, kaum dass sie begonnen hat. Sie endete völlig überraschend mit seiner Freilassung, die der Innenminister Wladimir Kolokolzew persönlich verkündete. Ein solcher Ausgang ist völlig untypisch für Russland und doppelt untypisch, wenn es um Drogen geht.
Nach der Nachricht über die Freilassung kam als erstes die Frage nach der Verantwortung der zuständigen Mitarbeiter, die Golunow Mephedron in den Rucksack und Kokain in die Wohnung untergeschoben haben. Die Antwort auf diese Frage ist jedoch im Grunde offensichtlich: Wir sehen ja, dass Innenminister Kolokolzew sehr entschieden ist, wahrscheinlich wird er uns schon bald die Halunken zeigen, die die Offiziersehre befleckt haben. Womöglich wird ihnen dieses Mal ausnahmsweise nicht schon im Vorfeld [der Tat – dek] gekündigt worden sein, wie das schon öfter der Fall war.
Die Gerechtigkeit hat triumphiert, die Medien und sozialen Netzwerke sind von Euphorie gepackt und begeistert voneinander. Die Oppositionellen – eh klar, aber ab einem bestimmten Moment traten auch Propagandamacher aus dem Fernsehen für Golunow ein, und sogar eine Maria Sacharowa war zu Tränen gerührt – geradezu ein Krim-Konsens der Intelligenzija zeichnet sich ab.
Einen Anlass gibt es zweifelsohne – und wir sind sogar bereit nicht zu bemerken, dass die Entscheidung, Golunow freizulassen, offensichtlich eine politische ist. Das heißt, sie wurde nicht getroffen, weil es den Anwälten gelang, etwas zu beweisen, sondern weil der Kreml aus dem einen oder anderen Grund den Skandal beenden wollte.
Wir sind sogar bereit, nicht zu bemerken, dass die Entscheidung, Golunow freizulassen, offensichtlich eine politische ist
Bei all seiner Unschuld hatte Iwan Golunow alle Chancen in einen langen und ermüdenden Prozess zu geraten. Selbst wenn dieser ebenfalls mit einer Aufhebung des Verfahrens geendet hätte, so hätte es doch Monate oder gar Jahre gedauert, und die ganze Zeit hätte Golunow in Untersuchungshaft verbracht.
Nein, dieser Umstand schmälert den Sieg nicht – früher hätte der Kreml so etwas niemals gewollt und vielen schien jetzt sogar, dass die Zivilgesellschaft dem Staat letztendlich einen neuen Gesellschaftsvertrag mit verbesserten Bedingungen abgerungen habe. Einigen wurde womöglich sogar warm ums Herz, angesichts des verwandelten Ministers Kolokolzew.
Die Illusion zerbrach jedoch umgehend. Die öffentliche Demütigung ärgert den Staat: Unmittelbar nach der Nachricht über die Freilassung weigerte er sich, den für den 12. Juni angesetzten friedlichen Demonstrationszug zur Unterstützung Golunows zu genehmigen, und erklärte, dieser stelle eine Sicherheitsbedrohung dar. Zähneknirschend genehmigte die Verwaltung „angesichts der großen öffentlichen Resonanz“ eine halboffizielle, vom Journalistenverband organisierte Demo am 16. Juni auf dem Sacharow-Prospekt.
Die Illusion zerbrach umgehend
Die Organisatoren der Versammlung am 12. Juni stahlen sich aus der Verantwortung, auch die Meduza-Redaktion nahm Abstand von der Aktion, und sogar Iwan Golunow bat nach seiner Freilassung, von Protestaktionen abzusehen (war das eine Bedingung für die Freilassung? Wohl kaum, versteht sich).
Die Aktivisten, die nicht so schnell auf die Bremse treten konnten, gingen am 12. Juni auf die Straße, wo sie auf vertraute Gefangenentransporter, OMON-Ketten und Festnahmen stießen. Nach Angaben von OWD-Info landeten schließlich rund 500 Personen auf Polizeirevieren [die aktuelle Zahl liegt bei 549 – dek], darunter viele Journalisten, die auf der Versammlung ihrer Arbeit nachgegangen waren. Ebenfalls festgenommen wurde der Oppositionelle Alexej Nawalny. Die OMON-Polizisten gingen recht brutal vor, es kam zu Schlägen und Gewaltanwendungen, Anwälte wurden beim Versuch, in die Polizeireviere zu gelangen, behindert.
Der Staat hat den Protestierenden zugezwinkert – um kurz darauf zu zeigen, dass die Freilassung von Iwan Golunow eine einmalige Aktion war, eine situative Entscheidung. Mit mehr ist nicht zu rechnen, abgesehen von Kreml-Anweisungen ändern sich die Regeln nicht. Da helfen auch keine Freudentränen von Maria Sacharowa, die ohnehin schon getrocknet sind.
Der Moral-Code in uns
In der Debatte um den Fall Golunow schwappten nicht wenige ähnliche, vergleichbare Fälle in die Öffentlichkeit: Was soll nun mit ihnen passieren? Vergessen im Freudentaumel?
Die Geschichte – natürlich ist sie noch nicht vorbei – hat zu viel Aufmerksamkeit erregt, als dass man aus ihr keine Schlüsse ziehen könnte. Welche Schlüsse der Staat ziehen wird, wissen wir noch nicht. Womöglich wird man beschließen, sich künftig besser vorzubereiten: lieber einen guten alten Extremismus-Fall stricken wie bei Pjotr Milosserdow, ohne diese idiotischen Drogenlabors (wer denkt sich sowas aus?), und Festnahmen sollten vielleicht nicht während des Petersburger Wirtschaftsforums durchgeführt werden. Wenn dann beim nächsten Mal ein Investigativjournalist oder ein Menschenrechtler festgenommen wird, wird es mit der Empörung schon deutlich schwerer.
Die Opposition hat den Staat auf Robustheit getestet. Doch auch der Staat testet die Opposition auf Kompromissbereitschaft und prüft die Grenze möglicher Zugeständnisse.
Eine andere Frage ist, welche Schlüsse die Gesellschaft nun ziehen muss, wie man auf das Rechtssystem schauen soll.
Eigentlich müsste sich ja jeder einfache Polizist darüber klar sein, dass das Unterschieben von Drogen illegal ist. Aber hier handelt er in der Logik des Moral-Codes von Gleb Sheglow: „Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen – doch wie ich ihn einbuchte, interessiert die Leute nicht.“
Dass etwa Iwan Golunow kein Verbrecher ist, das ist zwar für Journalisten offensichtlich, doch für einen Fahndungsbeamten ist das keineswegs ein Fakt – ihm ist es einerlei, ob das nun Golunow, Michael Calvey, Gouverneur Choroschawin oder Minister Uljukajew ist.
Doch dieser Moral-Code gilt nicht nur im Innenministerium und bei anderen Organen der Silowiki – in Russland findet er sich in breiten Teilen der Bevölkerung.
Der Fall Golunow konnte – und kann derzeit immer noch – Anlass werden, um eine konsequente Reform der Rechtsschutzorgane zu fordern und eine endgültige Diskreditierung der Sheglowschen Maxime zu erreichen. Gerade jetzt, auf der Welle der kurzfristigen Solidarität, könnten auch ganz offizielle, kreml-loyale Strukturen hierzu aufrufen.