In den vergangenen acht Jahren haben sich die Ausgaben des Moskauer Kommunalhaushalts mehr als verdoppelt. Heute gibt die russische Hauptstadt pro Kopf ungefähr das Dreifache des Landesdurchschnitts aus.
Da die Ausgabenerhöhung zum Teil durch regionale Umverteilung finanziert wird, glauben viele Beobachter, dass die Protestbereitschaft in den Regionen weiter steigen werde. Schließlich, so die Argumentation, seien hier sowohl die Folgen des seit fünf Jahren sinkenden Realeinkommens stärker spürbar als auch die der Steuer- und Rentenreform.
Vor dem Hintergrund des landesweit sinkenden Lebensstandards hat eine soziologische Forschungsgruppe die Frage nach der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins in Russland gestellt. Zu diesem Zweck führten die Wissenschaftler qualitative Interviews durch mit Menschen aus Moskau und sechs weiteren Städten des Landes. Über die Ergebnisse dieser Studie spricht die RANCHiGS-Soziologin Anastassija Nikolskaja mit Znak.
Jewgeni Senschin: [Ihre Studie untersucht das gesellschaftliche Bewusstsein. – dek] Was hat Sie zu dieser Untersuchung bewogen?
Anastassija Nikolskaja: Unser soziologisches Forschungsteam hatte den starken Eindruck, dass sich das Bewusstsein der Menschen gerade gravierend verändert. Vor einem Jahr, im Rahmen einer anderen Untersuchung, sagten uns die Leute, dass wir unsere Sklavenmentalität ablegen müssten. Solange das nicht passiere, würde sich nichts ändern.
Wir beobachten tiefgreifende Veränderungen im Denken der Menschen
Seit diesem Zeitpunkt beobachten wir tiefgreifende Veränderungen im Denken der Menschen. Sie sagen plötzlich, dass sie verantwortlich sind für das, was passiert. Und wir stellen fest: Die Menschen wollen Autonomie für ihre Regionen.
Was verstehen Sie unter dem Begriff „Autonomie der Regionen“? Wie wir wissen, reagiert das föderale Zentrum empfindlich auf jede Form der Autonomie. Wo liegt die Grenze zwischen Autonomiebestreben und separatistischen Tendenzen?
Die Menschen in Magadan, Wladiwostok und Jakutsk sagen praktisch alle das Gleiche: Moskau frisst unser Geld, während wir gerade so überleben. Sie wollen nicht Syrien helfen oder Kuba Schulden erlassen. Sie sagen, es sind unsere Steuern, wir haben das Recht zu wissen, wie sie ausgegeben werden. Und dass es besser gewesen wäre, sich gar nicht erst mit anderen Ländern zu zerstreiten, damit man sich später keine Freundschaften erkaufen muss.
Die Menschen in Magadan, Wladiwostok und Jakutsk sagen praktisch alle das Gleiche: Moskau frisst unser Geld, während wir gerade so überleben
Daraus resultiert für sie der Gedanke, dass ihre Regionen autonom verwaltet werden sollten. Diese Einschätzung formulieren die Menschen übrigens selbst, von uns gab es da keine Vorgaben. Sie finden, die Regionen sollten die gleichen Rechte haben wie die nordamerikanischen Bundesstaaten. Dort gibt es zwar eine gemeinsame Armee, föderale Steuern und so weiter, aber grundsätzlich liegen viele Vollmachten bei den einzelnen Gliedstaaten.
Die Bezeichnung „Russische Föderation“ impliziert ja bereits Autonomie. Und es gibt auch Regionen die das Wort „autonom“ in ihrem Namen tragen. Welche Autonomie wollen die Menschen noch?
Wir haben eine Pseudo-Föderation, eine Pseudo-Demokratie, die Verfassung wird komplett missachtet. Das ist keine Neuigkeit. Der Staat als Ganzes hat versagt. So sehen es zumindest unsere Probanden.
Wir haben eine Pseudo-Föderation, eine Pseudo-Demokratie, die Verfassung wird komplett missachtet
88 Prozent der Befragten sind der Meinung, die wirtschaftliche und politische Situation im Land habe sich drastisch verschlechtert.
Vor fünf Jahren, als die Popularität der Regierung zu sinken begann, beschloss der Kreml, sie auf Kosten der Krim und der Ereignisse im Donbass anzukurbeln. Es ist ihm zunächst auch gelungen, die Menschen zu begeistern und die Gesellschaft hinter sich zu versammeln. Ist dieser Effekt noch spürbar?
Auf die Frage nach Putins Errungenschaften nannten in Jakutsk nur zwei Prozent der Befragten die Krim. Die Olympiade in Sotschi erwähnte nicht ein einziger. Und an die Fußball-WM erinnert man sich auch nur im Zusammenhang mit der Rentenreform, die klammheimlich in ihrem Schatten durchgeführt wurde. Sobald den Menschen klar wurde, welchen Preis sie für die Krim zahlen, war die Begeisterung schnell verflogen.
Sobald den Menschen klar wurde, welchen Preis sie für die Krim zahlen, war die Begeisterung schnell verflogen
Wie schätzen die Leute das erste Jahr von Putins aktueller Amtszeit insgesamt ein?
72 Prozent finden, es sei schlechter geworden, 26 Prozent sagen, es habe sich nichts verändert, und zwei Prozent, dass es besser geworden sei.
Abgesehen von der Außenpolitik – welche Entscheidungen des Zentrums führen denn dazu, dass sich die Regionen immer weiter von ihm entfernen?
Sprechen wir lieber nicht von Regionen, sondern von konkreten Menschen, die in dieser oder jener Region leben.
Hier beispielsweise Aussagen aus Jekaterinburg:
„Die medizinische Versorgung hat sich verschlechtert, das Rentenalter und die Mehrwertsteuer wurden angehoben, das Gesetz zum ‚souveränen Runet‘, die Kleinunternehmern werden durch große Konzerne verdrängt; Folter durch Polizei und FSB; die Medien, die immer mehr und immer unbeholfener die öffentliche Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problem ablenken wollen. An die Macht kommt, wer loyal ist, und nicht, wer professionell überzeugt. Wir haben die ewigen Lügen einfach satt und dass man uns als Menschen zweiter Klasse behandelt.“
Und hier aus Magadan:
„Putin nimmt das Volk nicht für voll, er hofft, weil wir ihn damals unterstützt haben, würde das ewig so weitergehen, aber das stimmt nicht. Der Lebensstandard ist dramatisch gesunken. Russland hat es sich mit der ganzen Welt verscherzt; überall nur Lügen und Aggression. Die Medien versuchen uns mit Nachrichten aus Paris, Venezuela und der Ukraine abzulenken, als ob wir nicht selbst sehen würden, was hier bei uns los ist. Die totale Stagnation.“
Was die Menschen in den Regionen vom Zentrum nicht wollen, ist klar. Aber geht aus Ihrer Untersuchung auch hervor, was sie wollen?
Die Menschen wollen dieses System zerstören, sie wollen einen demokratischen Staat aufbauen, in dem die Regierenden das Volk respektvoll wahrnehmen und ihre Entscheidungen transparent und nachvollziehbar gestalten.
Außerdem wollen die Leute, dass die Ressourcen des Landes dazu verwendet werden, aus Russland eine prosperierende Wirtschaftsmacht zu machen.
Können sich die Stimmungen, die Sie in den Regionen vorgefunden haben, noch zerstreuen, wenn sich das Leben zum Besseren ändert? Oder ist der Point of no Return bereits überschritten?
Ja, das ist er. Noch vor einem Jahr konnte das Zentrum diese Stimmungen durch Almosen zerstreuen. Jetzt sind die Menschen entschlossener, all diese grandiosen Ereignisse und Großveranstaltungen, angefangen bei der Krim und endend mit der WM, haben ihre Wirkung verloren.
All diese grandiosen Ereignisse und Großveranstaltungen, angefangen bei der Krim und endend mit der WM, haben ihre Wirkung verloren
Die Menschen fürchten um ihre Existenz, und sie verbinden den sinkenden Lebensstandard eindeutig mit der Politik in Moskau.
Wohin wird das Erstarken dieser Stimmungen führen? Zu einem Aufstand, zum Maidan, zur Revolution? Massenproteste beobachten wir ja schon heute: Inguschetien, Archangelsk, Jekaterinburg.
Eine Revolution braucht Anführer. Bisher gibt es in den Regionen keine Führungspersönlichkeiten, die eine Revolution organisieren und anführen könnten.
In vielen Regionen stehen Wahlen an. Bei den letzten Wahlen waren in mehreren Regionen oppositionelle und sogenannte „technische Kandidaten“ sehr erfolgreich. Angenommen, Sie wären politischer Berater bei den kommenden Wahlen – wozu würden Sie Ihrem Kandidaten in Anbetracht Ihrer Forschungsergebnisse raten?
Ich würde ihm raten, sich möglichst stark von der jetzigen Regierung zu distanzieren und zu zeigen, dass man sich nicht durch Interaktion mit ihr die Finger schmutzig gemacht hat. Alle, die mit der Regierung zusammenarbeiten, sind aus Sicht der von uns Befragten korrupt.
Als Schlussfolgerung: Würden Sie sagen, die Leute sind unzufrieden, aber sie werden es weiter hinnehmen? Wie immer?
Sie werden es nicht mehr hinnehmen. Sie werden sich auflehnen. Das tun sie jetzt schon. Was wir im letzten Jahr gesehen haben, waren klare Protestwahlen, in diesem Jahr gehen die Menschen massenweise auf die Straße. Aber sie wollen nicht zum Spaß protestieren oder nur Randale machen, niemand will Autos umwerfen und Schaufenster einschlagen. Die Menschen sind bereit, auf die Straße zu gehen, und auch, einen Schlagstock auf den Kopf zu bekommen. Aber sie wollen wissen, wie das ihr Leben verbessern soll. Die Menschen erheben handfeste Ansprüche auf ein besseres Leben und auf die Durchsetzung ihrer Rechte. Das heißt, es entsteht eine neue Zivilkultur. Aber noch gibt es weder eine gemeinsame Idee noch eine gemeinsame Bewegung.