Drei Tage nachdem der Dauerprotest in Moskau eskaliert ist, hat das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren eingeleitet: Den Organisatoren der Proteste vom 27. Juli drohen bis zu 15 Jahre Haft, Teilnehmern bis zu acht Jahre.
Viele in Russland fühlen sich an den Bolotnaja-Prozess erinnert: Nach dem Marsch der Millionen am 6. Mai 2012 wurden damals mehr als 30 mutmaßliche Teilnehmer wegen „Teilnahme an Massenunruhen“ und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ angeklagt. Die meisten von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt; viele Beobachter schätzen diesen Prozess als politisch-motiviert ein.
Worin unterscheiden sich die aktuellen Proteste von der Bolotnaja-Bewegung? Warum setzen die Behörden nun wieder auf Gewalt? Und wie geht es jetzt weiter? Ein Bystro von Mischa Gabowitsch in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
1. Warum gingen so viele Menschen auf die Straße? Sind die Regionalwahlen denn so wichtig?
Mehrere Kandidaten wurden von den Wahlen ausgeschlossen. Nach Angaben der Wahlkommission waren viele der Unterschriften, die sie für die Registrierung brauchen, gefälscht oder wiesen Formfehler auf. Das ist aber nachweislich falsch: Viele Menschen hatten tatsächlich unterschrieben und sehen ihre Namen nun in den Listen angeblich fiktiver Unterstützer.
Das Vorgehen der Wahlleiter wird also nicht nur als Verachtung demokratischer Spielregeln empfunden, sondern auch als persönlicher Affront gegenüber den Unterzeichnern.
Mit den besonders stringenten Auflagen, die bei der Zulassung zu diesen Wahlen galten, haben die Behörden die Kandidaten zudem faktisch zu einem frühen Wahlkampfstart gezwungen – und damit ungewollt die Unterstützer enger an sie gebunden.
2. Warum gingen Polizei und Nationalgarde so hart gegen die Demonstranten vor?In Russland müssen Versammlungen angemeldet, de facto aber von den Behörden genehmigt werden. In diesem Fall war der Protest vor dem Rathaus nicht genehmigt. Offensichtlich wollten Präsidial- und Stadtverwaltung ein Zeichen setzen, dass sie eine Verletzung der von ihnen erlassenen Spielregeln nicht dulden werden, selbst wenn Journalisten, Touristen und Passanten darunter leiden sollten.
Sicherlich dient der massive Gewalteinsatz auch der Einschüchterung von Protestierenden. Zudem diskreditiert man so die Kandidaten: Sie werden als Anführer des Protests dargestellt, die naive Bürger als Kanonenfutter missbrauchen.
3. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen einzelnen lokalen sozialen Protesten und dem politischen Protest, wie er sich jetzt in Moskau ausdrückt? Haben die Menschen die Nase voll, und haben die sozialen Fragen den politischen Protest gewissermaßen „vorbereitet“?Die Schnittmengen sind weiterhin überschaubar: Nur eine Minderheit unter denen, die in Moskau für faire Wahlen auf die Straße gehen, protestiert auch gegen Umweltverschmutzung, verdichtende Bebauung, steigende Wohnnebenkosten oder häusliche Gewalt.
Dennoch hat sich der politische Protest konkretisiert: Vielen geht es nicht um eine Reform des Gesamtsystems, sondern beispielsweise um eine ihnen persönlich bekannte Kandidatin, die sich seit Jahren für die Lösung banaler Alltagsprobleme in konkreten Stadtvierteln einsetzt. Eigentlich ist es ein sehr bescheidenes Anliegen – ähnlich vielen der Proteste gegen rechtswidrige Müllablagerung oder dubiose Lizenzvergaben für gesundheitsgefährdenden Kupfer- oder Nickelbergbau.
4. Der Einheitliche Wahltag ist im September. Meinen Sie, dass der Protest bis dahin anhält? Und wird die Staatsmacht nachgeben?Proteste aus allgemeinem Frust verpuffen oft recht schnell. In diesem Fall wissen aber die meisten Protestierenden sehr genau, worum es ihnen geht – das könnte ihnen den Atem geben, um trotz Repressalien noch bis zu den Wahlen durchzuhalten. Aus demselben Grund ist aber spätestens schon bald nach den Wahlen Schluss, zumindest mit diesem Thema.
Dass die Behörden komplett nachgeben und alle abgewiesenen Kandidaten registrieren, ist schwer vorstellbar. Im Fall des Journalisten Iwan Golunow gab es neben einer Protestbewegung einen Konflikt innerhalb des Machtapparats, der dem Inhaftierten letztlich zugutekam. Im aktuellen Fall ist davon nichts zu erkennen. Wahrscheinlicher ist eine Variante des vielfach erprobten „Teile und herrsche“-Szenarios: Einige Anwärter werden zugelassen, ein paar Demonstrationen erlaubt – um die Bewegung als ganze zu spalten.
5. Die Wahlen finden im September ja nicht nur in Moskau statt. Warum wird vor allem in Moskau protestiert und nicht auch anderswo?Es handelt sich ja nicht nur um Kommunal-, sondern auch um Parlaments- und zum Teil um Gouverneurswahlen. Parlamentsabgeordnete sind weiter weg von emotional besetzten Alltagsproblemen. Anders ist das vor allem in den Stadtstaaten Moskau und Sankt Petersburg, deren städtische Abgeordnete auch vom Kreml an einer kürzeren Leine gehalten werden.
Zudem sind vor allem in Moskau nach der Protestwelle 2011–13 Oppositionelle ganz bewusst in die Kommunalpolitik gegangen, um das System von unten zu verändern. Dabei haben sie ihre Tätigkeit besonders aktiv dokumentiert. Auch in Petersburg protestieren Menschen wegen abgewiesener Kandidaten, wenngleich viel weniger als in Moskau.
In Russland verhält sich die Zahl der Protestierenden nicht immer proportional zur Einwohnerzahl: Sankt Petersburg ist traditionell verhältnismäßig passiv, Städte wie Kaliningrad, Tomsk oder Wladiwostok sind dafür trotziger.
Protest gibt es weiterhin in vielen Regionen, aber nicht unbedingt zu Wahlen, sondern eher zu den klassischen Themen Umwelt, Lebenskosten und Städtebau.
In Tscheljabinsk zum Beispiel setzt sich seit Jahren eine große Umweltbewegung gegen den Bau einer Kupferaufbereitungsanlage unweit der Stadt ein. Fast wöchentlich gibt es Verhaftungen oder Angriffe auf Protestierende, aber die Medien in Moskau und im Ausland berichten nur sehr spärlich darüber.
6. Kann man die heutigen Proteste mit 2011–13 vergleichen? Kommt die zweite Bolotnaja-Bewegung? Und der zweite Bolotnaja-Prozess?Im Dezember 2011 wurde im ganzen Land gegen Wahlfälschungen protestiert. Im Vergleich dazu sind die derzeitigen Moskauer Proteste viel kleiner, lokaler, aber auch konkreter. Viele Menschen wurden damals politisiert und machen sich keine Illusionen mehr über das gesamte politische System, sehen aber durchaus Chancen für punktuelle Erfolge.
Das heißt aber auch, dass die Proteste kaum noch als Bühne für die verschiedensten Anliegen dienen, wie dies 2012 und noch 2017 beim Protest gegen die Rentenreform der Fall war. Man merkt dies im Gespräch, aber auch an der relativ geringen Zahl der Plakate bei den Kundgebungen.
Zugleich ist angesichts der zahlreichen Verhaftungen durchaus mit einer Neuauflage des Bolotnoje Delo zu rechnen: also jahrelange Verfolgungen und Prozesse, die zu mehrjährigen Haftstrafen führen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Mischa Gabowitsch
Stand: 01.08.2019