Aufruhr in den sozialen Netzwerken: Am Montag machen Bilder einer Frau die Runde, die mit dem abgeschnittenen Kopf eines Kindes in der Hand in Moskau festgenommen wird. Staatliche TV-Sender schweigen zu diesem Vorfall und müssen sich den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. Bei einem Grubenunglück in Workuta sterben 36 Arbeiter. Sind mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen die Ursache? Außerdem: Michail Gorbatschow feiert seinen 85. Geburtstag, doch seine Arbeit für das Land bleibt weiterhin umstritten.
Senden oder nicht? Syrien, eine Pegida-Demonstration in Dresden und die Flüchtlingskrise in Europa. Soweit die erste Viertelstunde in den russischen 20-Uhr-Nachrichten am Dienstag. Kein Wort dagegen über eines der meistdiskutierten Themen der vergangenen Woche: Der Mord der Blutigen Nanny, wie russische Boulevardmedien die Frau tauften, die vor einer Moskauer Metrostation mit dem Kopf eines ermordeten Kindes in der Hand verhaftet wurde. Am Dienstagabend wurden in einer spontanen Gedenkveranstaltung Blumen, Spielzeuge und Ballons vor der Metrostation für das Mädchen niedergelegt.
Das Schweigen der staatlichen TV-Kanäle führte zu heftigen Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Zensurvorwürfe wurden laut, über den angeblichen Fall Lisa in Deutschland hätten die Medien ausführlichst berichtet. Oleg Kaschin sprach auf Slon gar vom „demonstrativsten Akt von Zensur der vergangenen Jahre“. Die Vorwürfe wies Präsidentensprecher Dimitri Peskow umgehend zurück. Die Sender selbst hätten entschieden, nicht über die Bluttat zu berichten, auch wenn der Kreml die Initiative unterstütze. Der bekannte TV-Journalist Wladimir Posner verteidigte die Entscheidung der Staatsmedien mit dem Argument, auch die amerikanischen TV-Stationen hätten nach 9/11 nicht alle Bilder gezeigt. Alexej Nawalny sprach auf seinem Blog ebenfalls von Zensur. Es gehe aber nicht darum, möglichst schockierende Bilder zu zeigen, sondern das Staatsfernsehen solle seiner Pflicht nachkommen und darüber berichten, was passiert.
Durch das Verschweigen der Bluttat sollten Fremdenhass und rechtsextreme Übergriffe verhindert werden, da die mutmaßliche Täterin aus Usbekistan stammt. Die Strategie zeigte jedoch keinen Erfolg. Online und in den Boulevardmedien wurden Name und Herkunft der Nanny prompt publiziert, ihr Gesicht nicht unkenntlich gemacht, Videos von der Metrostation veröffentlicht. Auf eine Verlinkung möchten wir an dieser Stelle allerdings verzichten. Unzählige Kameras waren bei der Tatortbegehung sowie bei der ersten Anhörung vor Gericht anwesend. Der kremlnahe Sender LifeNews sendete die Bilder genauso wie TV Dozhd. Ob das Staatsfernsehen über das Verbrechen berichtet oder nicht, ist für die Komsomolskaja Prawda deshalb Nebensache. Wer etwas wissen will, informiert sich längst im Internet, das Fernsehen habe seine Vorherrschaft verloren.
Grubenunglück in Workuta. Die Bluttat im Zentrum der Hauptstadt war jedoch nicht die einzige Tragödie, die sich in der vergangenen Woche in Russland ereignete. Bei mehreren Methanexplosionen in einer Kohlemine in der Republik Komi kamen 36 Arbeiter ums Leben, am 29. Februar wurden die Rettungsarbeiten eingestellt. Auch Tage später hat sich die Situation immer noch nicht gebessert, immer noch brennt es im Schacht und laut dem Katastrophenschutzministerium drohen neue Explosionen. Die Aufsichtsbehörde Rostechnadsor geht von einer natürlichen Unglücksursache aus. Ermittelt wird jedoch auch weiter. Schon in den Tagen vor der Explosion hätten die Arbeiter über eine zu hohe Methankonzentration im Schacht geklagt, schreibt die Novaja Gazeta. Um während einer Schicht mehr Kohle fördern zu können und damit mehr zu verdienen, hätten die Arbeiter möglicherweise selbst die Sensoren der Methandetektoren manipuliert. Immer wieder kommt es bei der Kohleförderung in Russland zu tödlichen Unfällen, die Sicherheitsvorkehrungen in der Branche gelten als mangelhaft. Alleine in den Schächten des Unternehmens Vorkutaugol, das auch den Unglücksschacht in Komi betreibt und zum Stahlriesen Severstal gehört, starben seit 1994 nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums 116 Menschen. Jede Million Tonnen Kohle, die während der vergangenen 15 Jahre gefördert wurde, kostete zwei Arbeitern das Leben, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.
Jubiläum. Diese Woche gab es aber auch Grund zum Feiern. Michail Gorbatschow feierte am 2. März seinen 85. Geburtstag. Die Novaya Gazeta erinnerte aus diesem Anlass mit Zitaten und Auschnitten aus Reden und Interviews an Gorbatschows Regierungszeit (hier die wichtigsten Ereignisse). Andere Medien veröffentlichten Bildergalerien, TV Dozhd zeigte ein Interview. Auch in der New Times kam der Jubilar selbst zu Wort. Zudem wurden Politiker, Kulturschaffende und Studenten nach ihrer Meinung zu Gorbatschow gefragt. Das Verhältnis der Russen zum ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion bleibt gespalten: „Ich habe keine Meinung über ihn, weil ich kaum etwas weiß. Alles, was nach Stalin kam, ist für mich eine unverständliche Periode bis zur Wahl Putins“, antwortet eine Moskauer Studentin. Auch in Umfragen bleibt die Regierungszeit Gorbatschows eher in schlechter Erinnerung. 67 Prozent bewerten sie negativ, nur für zwölf Prozent überwiegen die positiven Errungenschaften der Perestroika, so eine aktuelle Lewada-Umfrage. In guter Erinnerung bleibt vor allem die Freiheit: 2015 gaben 35 Prozent an, die wichtigste Errungenschaft der Gorbatschow-Zeit sei die Reisefreiheit, 32 Prozent nannten die Redefreiheit.
Nemzow-Mord. Mehr als 20.000 Menschen gedachten in Moskau am Wochenende des vor einem Jahr in Sichtweite des Kreml ermordeten Oppositionspolitikers. Laut der Behörde sind die Ermittlungen abgeschlossen, eine genaue Rekonstruktion zeigt aber, dass viele Fragen offen bleiben. Nun behauptete Wladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, hinter dem Mord an Boris Nemzow könnten ausländische Anstifter stehen – wird diese Vermutung, die sich auf eine eigenwillige Interpretation eines Communiqués des State Departements stützte, noch weiter eine Rolle spielen? Was aber nächste Woche sicher wichtig wird: Der Prozess gegen die angeklagte ukrainische Pilotin Nadja Sawtschenko neigt sich dem Ende zu, die Staatsanwaltschaft fordert 23 Jahre Haft. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow wird trotz aller Rücktrittsankündigungen wohl erneut für das Amt des Präsidenten in der russischen Teilrepublik kandidieren – in Grosny fanden bereits Demonstrationen für seinen Verbleib im Amt statt. Und vor den Dumawahlen 2016 wird das Amt des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission neu besetzt. Wladimir Tschurow, seit den letzten Dumawahlen 2011 wegen Fälschungsvorwürfen von der Protestbewegung kritisiert, ist zurückgetreten.
Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org