Nach den Attentaten von Dresden, Paris und Wien haben mehrere EU-Regierungschefs am 10. November beschlossen, härtere Maßnahmen gegen den islamistischen Terrorismus zu ergreifen. Im Zuge dieser Debatte rückt auch die tschetschenische Diaspora – der Pariser Attentäter hatte tschetschenische Wurzeln – wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit: Wie stark ist sie radikalisiert? Ein Bystro in sieben Fragen und Antworten von Marit Cremer.
Quelle
1. Der Attentäter von Paris, der den Lehrer Samuel Paty enthauptete, war Tschetschene. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht von einem hohen Gefährdungspotenzial durch Islamisten aus dem Nordkaukasus. Wie verbreitet ist Islamismus in der tschetschenischen Diaspora?
Die tschetschenische Community ist sehr heterogen – wie auch andere Migrantengruppen und fast jede Gesellschaft. Über ganz Deutschland verteilt leben etwa 40.000 bis 50.000 Menschen tschetschenischer Herkunft, ein Teil von ihnen ist inzwischen eingebürgert. Die meisten von ihnen sind gut integriert und unauffällig. Lediglich eine winzige Minderheit lässt sich dem islamistischen Spektrum zurechnen, laut Bundesamt für Verfassungsschutz lebte 2019 eine „mittlere dreistellige Zahl“ von Islamisten aus dem gesamten Nordkaukasus in Deutschland. Von den 735 sogenannten islamistischen Gefährdern hatten 2019 insgesamt 35 Personen die russische Staatsangehörigkeit.
2. Sie sagten, die tschetschenische Diaspora sei sehr heterogen? Inwiefern, wie äußert sich das?
Für die Heterogenität der tschetschenischen Community spielen sowohl die Zeitpunkte der Einwanderung als auch das Alter der Eingewanderten eine Rolle: Die ersten Geflüchteten Anfang der 2000er Jahre waren noch überwiegend sowjetisch sozialisiert, und Religion hatte oftmals eine untergeordnete Bedeutung für ihre Identität. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bekam die Religion in Tschetschenien selbst eine immer stärkere Bedeutung, was sich auch an den Einstellungen späterer Einwanderer in Westeuropa zeigte. Dabei hat Religion oft nur deklarativen Charakter, das Wissen um die Religion ist häufig eher gering. Es sind tendenziell die Kinder der Eingewanderten, die sich intellektuell mit Religion auseinandersetzen und sich für oder gegen die Ausübung einer Glaubenspraxis entscheiden.
3. Wo findet die Radikalisierung statt, so sie denn überhaupt stattfindet – tatsächlich erst in der Diaspora oder bereits im Heimatland?
Insgesamt ist die tschetschenische Diaspora in ihrer Struktur und Entwicklung vergleichbar mit anderen Migrantengruppen aus traditionellen Gesellschaften. Die erste Generation kam vor allem im Erwachsenenalter nach Deutschland. Ihr gelingt die gesellschaftliche Teilhabe eher weniger, insbesondere haben diese Menschen häufig Probleme, sich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Zur zweiten Generation zählen Menschen, die nur wenige Lebensjahre in Tschetschenien verbracht haben und bereits in Deutschland sozialisiert wurden. Diese Kohorte findet sich oft wieder in der – für die Migrationsforschung klassischen – Auseinandersetzung mit Werten der Herkunfts- und denen der Aufnahmegesellschaft. Ein Teil dieser Kohorte distanziert sich weitgehend von den Werten der Herkunftskultur und lehnt insbesondere religiöse und gewohnheitsrechtliche (traditionelle) Gebote und Verbote ab, die sie als Eingriffe in ihre freien Entscheidungen empfindet.
4. Aber es gibt auch Vertreter der zweiten Generation, die sich an traditionellen Werten orientieren?
Ja. Ein Teil richtet seine Lebensführung ausdrücklich an den traditionellen Werten seiner Eltern und Großeltern aus, akzeptiert gleichzeitig aber die freiheitlich demokratische Grundordnung: Personen aus dieser Gruppe tolerieren beispielsweise voreheliche Partnerschaften ihrer Freunde, nehmen diese größeren Freiheiten für sich selbst jedoch nicht in Anspruch. Ein anderer Teil dagegen versucht, es beiden Seiten – ihren traditionsbewussten Eltern und der westlich ausgerichteten Aufnahmegesellschaft – gleichermaßen recht zu machen. Dieser Anspruch ist aufreibend und birgt erhebliches Potential zu scheitern.
5. Die Hinwendung zu einer radikalisierten Form des Islam ist also die Folge eines Wertekonflikts?
Nicht zwangsläufig, aber in manchen Fällen führt der Wunsch, unbedingt zu beiden Seiten dazuzugehören und von beiden akzeptiert zu werden, zu der zweifelhaften Hinwendung zu einem dritten Wertesystem, das den anderen beiden übergeordnet wird. Tatsächlich manövrieren sich diese Menschen in ein weiteres Konfliktfeld hinein: Bis in die Perestroika-Zeit hinein bestand in der tschetschenischen Gesellschaft bei Auseinandersetzungen zwischen Personen ein Konsens über den Vorrang des Gewohnheitsrechts (Adat) vor dem islamischen Recht. Die Tschetschenienkriege haben diese Balance zerstört. Der Einfluss islamischer und islamistischer Strömungen aus dem arabischen Raum auf das Wertesystem der tschetschenischen Gesellschaft hat zu dessen Pluralisierung, aber auch zu Konkurrenz zwischen den Werteorientierungen geführt. Dabei kam es zu einem Kampf um die Deutungshoheit über die Frage, welches Wertesystem für alle Tschetschenen verbindlich sein sollte. Diese Auseinandersetzung wird bis heute mit harschen Mitteln in Tschetschenien geführt und spiegelt sich auch in der Diaspora wieder. Die Entscheidung für eine fundamentalistische Auslegung des Korans und eine daran anknüpfende Lebensführung erscheint dann als Ausweg aus dem konfliktbeladenen Zugehörigkeitsdilemma. Sie führt allerdings auch zu einem sozialen Ausschluss aus Teilen der tschetschenischen Community und der freiheitlich orientierten Mehrheitsgesellschaft.
6. Was hindert manche Tschetschenen bei ihrer Integration in Westeuropa?
Die meisten tschetschenischen Einwanderer sind gut integriert und sozial unauffällig. Hinderlich bei der Integration können jedoch sowohl die Kriegserlebnisse sein als auch eine starke Orientierung an vorislamischen Traditionen und der Scharia, die zum Teil im Widerspruch zu den freiheitlichen Werten Europas stehen. Mitarbeiter*innen aus der Sozialarbeit beobachten ein hohes Gewaltpotential in tschetschenischen Familien. Eine Ursache hierfür dürfte in den unzureichend aufgearbeiteten Gewalterfahrungen seit Beginn des Ersten Tschetschenienkrieges liegen. Im Zusammenspiel mit Ohnmachtserfahrungen während des Asylverfahrens und mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe entlädt sich diese Gewalt häufig an den Schwächsten in den Familien.
Angebote der Sozialarbeit werden nicht selten als Einmischung des Staates in private Angelegenheiten missverstanden. Viele nehmen außerdem die Fürsorgepflicht des Staates, insbesondere bei Kindeswohlgefährdung, als Angriff auf die tschetschenische Community insgesamt wahr. Problematisch für die Integration sind zudem die zumeist fehlende Akzeptanz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, des Rechtes auf Selbstbestimmung, mithin aller Bereiche, die individuelle Lebensentscheidungen betreffen. Hingegen besteht innerhalb der Community eine hohe soziale Kontrolle, die das Ausscheren aus dem tschetschenischen Wertekanon verhindern soll und im Fall der Abweichung zum sozialen Ausschluss aus der Community führen kann.
7. Was müsste von seiten der Aufnahmegesellschaften passieren, um die Integration zu verbessern?
Als Hindernis für die Integration in die Europäische Union ist zuallererst das Asylsystem der EU zu nennen. Die sich oft über Jahre hinziehende Unklarheit über eine dauerhafte Perspektive im Aufnahmeland führt neben zunehmenden gesundheitlichen Belastungen zu erheblichen Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe und im ungünstigsten Fall zum Rückzug aus der Gesellschaft. Sich wiederholende negative Erfahrungen mit Behörden, einhergehend mit dem Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein, tragen zu einem distanzierten Verhältnis zu europäischen Werten bei.
Häufig lässt sich an den Biographien der Kinder ablesen, wann die Familie einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen hat: Ab diesem Zeitpunkt findet plötzlich ein erheblicher Schub in der Sprachentwicklung und Leistungsfähigkeit statt.
Eine Verbesserung der Situation muss deshalb zunächst bei den Asylverfahren ansetzen. Die ersten Jahre in Deutschland sind entscheidend für eine gelingende Integration und dürfen nicht mit dem Warten auf Handlungsmöglichkeiten vertan werden. Neben den bestehenden zahlreichen Unterstützungsangeboten des Staates und der Zivilgesellschaft braucht es zudem auch eine gute Aufklärung über die Strukturen und Funktionsweisen des bundesrepublikanischen Gesellschaftssystems. Damit können Irritationen und Missverständnisse, die leicht zu einer Distanz zur Aufnahmegesellschaft führen können, vermieden werden.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Vermeintliche Drogenfunde bei Routinekontrollen, durch Folter erpresste Geständnisse und öffentliche Videos mit Schuldeingeständnissen – Ilja Roshdestwenski hat für Republic die ungewöhnlichen Methoden in Tschetscheniens Anti-Drogen-Kampf recherchiert.
Oft wird er als Russlands Unruheregion, als „inneres Ausland“ bezeichnet: der Nordkaukasus. Soziologe Denis Sokolow macht im Interview aber viele Gemeinsamkeiten mit anderen russischen Regionen aus. Unterschiede gebe es vor allem innerhalb der Region selbst, die von Dagestan über Tschetschenien bis Karatschai-Tscherkessien reicht.
Gesellschaft – von Irina Gordienko , Elena Milashina
Die Novaya Gazeta berichtet im Januar 2019 von erneuten Übergriffen gegen LGBT in Tschetschenien. Bereits im April 2017 hatte die Zeitung auf Massenfestnahmen Homosexueller hingewiesen und Zeugen-Protokolle veröffentlicht.
Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig?
Warum es keinen interessiert, wenn im Kaukasus ein Bus mit Menschenrechtlern und Journalisten überfallen und abgefackelt wird und warum es aber alle angeht, beschreibt Oleg Kaschin auf Slon.ru
Im Laufe der Geschichte war das Gebiet des heutigen Tschetscheniens von verschiedenen Imperien beherrscht und unterlag dabei wechselnden kulturellen, religiösen und politischen Einflüssen.1Die Wainachen, eine ethnologische Gruppe, zu der Tschetschenen und Inguschen gehören, brachten keine eigene Geschichtsschreibung hervor. Daher beruht die Quellenlage vor dem 19. Jahrhundert vor allem auf der Rekonstruktion der Geschichte anhand archäologischer Funde. Vom 11. bis zum 13. Jahrhundert christianisierte Georgien einen Teil der wainachischen Bevölkerung, die bis dahin einer Naturreligion anhing.2 Nach der mongolischen Eroberung Ende des 14. Jahrhunderts begann der allmähliche Übertritt zum Islam, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog.
Kolonialisierung
Die Beziehungen zwischen Russen und Tschetschenen sind geprägt von Kolonialisierung und reichen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Damals trafen die Kosaken Iwans des Schrecklichen mit der Bevölkerung der Siedlung Tschetschen-Aul zusammen. Nach dem Namen dieser Siedlung wurden die Bewohner der Region in der Folgezeit Tschetschenen genannt. Selbst nennen sie sich Nochtschi. Während der Smuta zog sich Russland zunächst weitgehend aus dem Kaukasus zurück, bevor es 1739 den Kampf gegen die Bergvölker eröffnete. Die eigentliche Kolonialisierung begann aber 1817 mit dem Kaukasuskrieg. Russland gründete 1818 die Festung Grosnaja (dt. die Furchtgebietende, 1870 ging daraus die heutige Hauptstadt Grosny hervor) und stellte sich den Truppen von Imam Schamil – ein Dagestaner, der von 1834 bis 1859 den militärischen Widerstand anführte und dabei auch brutal gegen Stämme vorging, die ihm ihre Loyalität verweigerten. Er wurde später deshalb zur nicht unumstrittenen legendären Identifikationsfigur für Tschetschenen. Der Krieg dauerte bis 1864, viele Historiker beschreiben den Widerstand als den vehementesten in der russischen Kolonialgeschichte. Hunderttausende Menschen starben, schätzungsweise über eine halbe Million Menschen wurden vertrieben.
In dieser Zeit ging Tschetschenien in die russische Literatur ein – etwa bei Alexander Puschkin, Michail Lermontow oder Lew Tolstoi. Ähnlich wie im Westeuropa dieser Zeit entstanden dabei orientalistische Narrative, die zwischen Romantizismus und Überlegenheitsgefühl schwankten: Kaukasier galten darin einerseits als eine Art „edle Wilde“, andererseits aber auch als solche „Wilden“, die es zu „zivilisieren“ gilt. Dieser Orientalismus führte bei vielen in Russland zur Herausbildung einer Distinktion: Kaukasier wurden zu den „Anderen“.3
Verfolgung und Diskriminierung
Im Ersten Weltkrieg kämpften tschetschenische und inguschische Heere schon zusammen auf der Seite Russlands. Doch nach der Oktoberrevolution proklamierte die Bergrepublik im Mai 1918 ihre Unabhängigkeit. Im März 1920 eroberte die Rote Armee Grosny. Tschetschenien wurde sowjetisch und zusammen mit Inguschetien in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert – Gorskaja ASSR. In den folgenden Jahrzehnten gab es vereinzelt Aufstände gegen die Besatzungsmacht, die stets niedergeschlagen wurden. Wie auch in der übrigen Sowjetunion wurde zudem die religiöse Infrastruktur weitgehend zerstört, auch der Klerus wurde verfolgt.
Während des Großen Vaterländischen Krieges war ein Teil des Kaukasus von deutschen Truppen besetzt. Stalin diente dieser Umstand als Vorwand, mehrere kaukasische Völker wegen ihrer teilweisen Kollaboration mit den Faschisten kollektiv zu bestrafen. Am 23. Februar 1944 begann die nahezu vollständige Deportation von fast 500.000 Tschetschenen und Inguschen in Viehwaggons nach Zentralasien. Zehntausende überlebten die Deportation und die folgenden Jahre der Verbannung nicht. Die Republik wurde am 7. März 1944 aufgelöst, ihre Geschichte umgeschrieben, nationale Denkmale und Archive vernichtet und das entvölkerte Land mit Menschen aus anderen Regionen besiedelt. Diese Verfolgung trug letztendlich aber „zur Schärfung eines ‚ethnischen‘ Bewußtseins der Tschetschenen bei. Die Gewalt, die ihnen angetan worden war, wurde unter dem Schlagwort des ‚Genozids‘ zum Kristallisationspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses.“4
Obwohl der Oberste Sowjet der UdSSR 1957 die Verbannung aufhob und die Rückkehr der Deportierten erlaubte, wurden Tschetschenen auch in der wiederhergestellten Tschetschenisch-Inguschischen Sowjetrepublik diskriminiert. Dies betraf auch die Bereiche Bildung und Arbeit, so waren die wichtigsten Ämter wesentlich von Vertretern der slawischen Elite dominiert. Wegen mangelnder Verdienstmöglichkeiten nahm in den 1980er Jahren die Arbeitsmigration nach Südrussland, die beiden Hauptstädte und in die Erdölgebiete Sibiriens zu. Dadurch entstand in der Russischen Sowjetrepublik eine große tschetschenische Diaspora.
Erster Tschetschenienkrieg
Nach dem gescheiterten Augustputsch gegen Gorbatschow nutzte der tschetschenische General Dschochar Dudajew das Machtvakuum der Perestroika und stürzte die lokale Führung in Grosny. Im November 1991 erklärte er die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Dudajews Unterstützung in der Gesellschaft war gering, um so mehr, als er die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen konnte. Verschiedene Lager stritten um die Macht, Moskau unterstützte die Opposition mit dem Ziel, Dudajew zu stürzen und Tschetschenien wieder in den russischen Einflussbereich zu bringen. Es begann ein Propagandakrieg, der auf der einen Seite die Erinnerung an die traumatischen Kolonisationserfahrungen reaktivierte und auf der anderen Seite auf die territoriale Einheit Russlands, die Menschenrechtsverletzungen des Dudajew-Regimes und die drohende Gefahr für die innere Sicherheit Russlands setzte. Dies war eine der Ursachen für den Ausbruch des Konflikts: Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, der Erste Tschetschenienkrieg begann. Aus dem geplant schnellen Sieg und der Absetzung Dudajews wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten bei Straßenkämpfen. Grosny wurde in Schutt und Asche gebombt, zehntausende Zivilisten, darunter ein hoher Anteil an russischer Bevölkerung, verloren ihr Leben. Die tschetschenischen Kämpfer verließen erst am 23. Februar 1995, dem Jahrestag der Deportation von 1944, die Hauptstadt und stellten sich so symbolisch in die Tradition des Widerstandes gegen die Kolonialmacht Russland. Bis März 1995 gelang es den Moskauer Streitkräften, die Kontrolle über Grosny und den nördlichen Landesteil zu gewinnen. Im April 1996 wurde Dudajew durch einen gezielten Raketenangriff von russischer Seite getötet. Doch der Vormarsch stockte, und schon im August 1996 mussten russische Truppen Grosny aufgeben. Russland war gezwungen, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen und die Truppen zurückzuziehen. Der Erste Tschetschenienkrieg endete.
Zweiter Tschetschenienkrieg
Im Januar 1997 wurde Aslan Maschadow in den ersten freien Wahlen zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Russland erkannte die Wahl an, und im Mai unterzeichneten Jelzin und Maschadow einen Friedensvertrag. Maschadows Machtposition im kriegszerstörten Land war schwach, zeitweise gab es mehr als 300 Kampfeinheiten, die nicht seinem Befehl unterstanden. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen religiös-extremistischen Kräften und Maschadows Anhängern. Die Ende der 1980er Jahre begonnene Auswanderung der nicht-tschetschenischen Bevölkerung verstärkte sich nun wegen der labilen Sicherheitslage in der Republik zu einem Massenexodus. Im August/September 1999 drangen Rebellen unter Schamil Bassajew und Emir Ibn al-Chattab nach Dagestan ein, überfielen mehrere Bergdörfer und riefen eine Islamische Republik aus. Kurze Zeit später verübten Unbekannte mehrere Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten, denen hunderte Zivilisten zum Opfer fielen. Viele russische Medien legten die Anschläge sofort Tschetschenen zur Last. Daraufhin folgte eine beispiellose antitschetschenische Hetzkampagne. Von Anfang an gab es jedoch Hinweise auf eine Verwicklung des FSB in die Anschläge.
Im Oktober 1999 marschierten rund 100.000 Soldaten in Tschetschenien ein, der Zweite Tschetschenienkrieg begann. Grosny lag bis Februar 2000 unter schwerem Beschuss, die tschetschenischen Kämpfer verließen die Stadt wieder am symbolträchtigen 23. Februar und zogen sich in die Berge zurück. Die russischen Streitkräfte bombardierten vor allem die Dörfer im Westen der Republik, zu einer besonderen Zielscheibe wurden dabei die Familien der Kämpfer aus dem ersten Krieg. Im März endete die russische Großoffensive. Moskau setzte den ehemaligen Mufti Tschetscheniens, Achmat Kadyrow, als Chef der Verwaltung ein. Dieser hatte sich zuvor auf die Seite Russlands gestellt. Im Sommer 2000 änderten die Separatisten ihre Kriegsstrategie, sie setzten nun vor allem auf Terroranschläge gegen die Besatzer und ihre Strukturen. Die russische Streitkraft führte Säuberungsaktionen in den Dörfern durch, verhaftete und verschleppte Menschen. Das Verschwindenlassen von Menschen entwickelte sich dabei zu einer verbreiteten Methode russischer Armeeangehöriger, Lösegeld bei den Angehörigen zu erpressen.5
Im Oktober 2003 hielt Moskau Wahlen in Tschetschenien ab, bei denen Achmat Kadyrow zum Präsidenten gewählt wurde. Zahlreiche russische und internationale Wahlbeobachter wiesen dabei auf massive Verstöße gegen das Wahlrecht hin. Während der Siegesfeier am 9. Mai 2004 wurde Kadyrow bei einem Anschlag getötet. Sein Sohn Ramsan übernahm das Amt des Vizepräsidenten. Neuer Präsident Tschetscheniens wurde zunächst Alu Alchanow, bis er 2007 von Ramsan Kadyrow abgelöst wurde. Der Präsident der tschetschenischen Exilregierung, Maschadow, wurde im Untergrund aufgespürt und im März 2005 von einem russischen Spezialkommando getötet. Die meisten Mitglieder seiner Regierung leben heute im europäischen Ausland und sind zum Teil als politische Flüchtlinge anerkannt. Der Zweite Tschetschenienkrieg endete offiziell 2009. Insgesamt haben die Kriege seit 1994 mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet. Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg sind Zehntausende nach Europa geflohen. In Deutschland leben heute rund 40.000 tschetschenische Geflüchtete, von denen nur ein Teil über den Status eines anerkannten Flüchtlings verfügt.
Kadyrow-Regime
Bei zahlreichen Veranstaltungen gedenkt heute die tschetschenische Diaspora am 23. Februar der Deportation. In Tschetschenien selbst wird der Gedenktag seit 2011 dagegen am 10. Mai begangen, dem Tag der Beerdigung von Achmat Kadyrow. Als der bekannte Oppositionspolitiker Ruslan Kutajew 2014 öffentlich das Trauerverbot am 23. Februar kritisierte, wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet und zu vier Jahren Haft verurteilt. Zahlreiche unabhängige Beobachter stuften den Prozess gegen Kutajew genauso als politisch-motiviert ein, wie auch viele andere Prozesse gegen tschetschenische Oppositionelle. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2007 hat Ramsan Kadyrow mit Hilfe seiner paramilitärischen Sicherheitstruppe Kadyrowzy ein hochrepressives Regime errichtet. Internationale Organisationen berichten regelmäßig über massive Verletzungen der Menschenrechte, darunter auch über die weit verbreitete Anwendung von Folter, das Verschwindenlassen unliebsamer Personen und außergerichtliche Exekutionen. Korruption in Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft ist ebenso allgegenwärtig.6 Zudem greift das Regime systematisch in die Privatsphäre der Tschetschenen ein: beispielsweise werden geschiedene Paare unter Druck gesetzt, sich zu versöhnen und wieder zusammenzuleben, mit der Begründung, dass Kinder Geschiedener sich radikalisieren und zu Terroristen würden.7 Im Frühjahr 2017 gab es erstmals Berichte über eine Welle der Verfolgung und Ermordung von LGBT, die zum Jahresbeginn 2019 erneut ausbrach.8 Kadyrow selbst behauptet, es gäbe keine LGBT in Tschetschenien und somit auch keine Verfolgung.
Entsprechend gibt es in Tschetschenien kaum Pressefreiheit: Während Russland auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen den Rang 148 von insgesamt 180 einnimmt, dürfte Tschetschenien für sich genommen noch weiter unten stehen. Unabhängige Medien gibt es in der Republik faktisch nicht, zahlreiche JournalistInnen wurden wegen ihrer kritischen Artikel ermordet, darunter 2006 die Journalistin der Novaya GazetaAnna Politkowskaja. Ebenso gefährdet sind Menschen, die sich für Frauenrechte einsetzen. Frauen werden im vorchristlichen Gewohnheitsrecht Adat und in der Scharia als sogenannte „Trägerinnen der Ehre“ verstanden und sind einer permanenten sozialen Kontrolle durch Familienangehörige und Männer ausgesetzt. Die Dunkelziffer für Femizide schätzen Menschenrechtler als hoch ein, nicht selten gelten sie als sogenannte Ehrenmorde.9 Die Verfolgung von Gesetzesverstößen, insbesondere im familienrechtlichen Bereich, wird von den staatlichen Ermittlungsbehörden häufig zurückgewiesen mit der Begründung, es handele sich dabei um Regeln des Adat oder der Scharia. Hingegen werden Gerichte dann aktiv, wenn es darum geht, unliebsame Oppositionelle rechtskräftig zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen. So gab es schon mehrere Prozesse gegen Menschenrechtler; der wohl bekannteste unter ihnen ist der gleichfalls als politisch motiviert eingestufte Prozess10 gegen den Leiter des Memorial-Büros Tschetschenien, Ojub Titijew. Im Januar 2018 wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet, inzwischen läuft ein kafkaesker Prozess gegen ihn. Titijews Vorgängerin bei Memorial, Natalja Estemirowa, wurde 2009 von Unbekannten entführt und ermordet.
Staat im Staat
Vor dem Hintergrund der von Putin aufgebauten Machtvertikale stufen zahlreiche Beobachter Tschetschenien als eine Art Staat im Staat ein. Nicht nur das Moskauer Gewaltmonopol gilt hier in vielen Bereichen als unwirksam, auch die Gesetze, die im restlichen Russland noch umgesetzt werden, wurden in Tschetschenien teilweise durch traditionelle Rechtssysteme ersetzt: das vorchristliche Gewohnheitsrecht Adat und die Scharia.
Die Mischung aus Traditionalismus und Nationalismus schafft laut Beobachtern eine Illusion von Selbstbestimmung11, also eine Art imaginierte Emanzipation von der Kolonialmacht Russland. Damit bedient Kadyrow moderate separatistische Erwartungen und untermauert seinen Legitimitätsanspruch. Gleichzeitig laviert er ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin. Während er sich nach Innen also als Garant der Selbstbestimmung darstellt, zeigt er nach Außen, dass gerade dieser populistische Separatismus nötig sei, um Tschetschenien nicht wieder zu einem Pulverfass werden zu lassen. Manche Beobachter meinen, dass Kadyrow für den Kreml damit als Garant der Stabilität erscheine: Als jemand, der einerseits dafür sorgt, dass Tschetschenien formal Teil Russlands bleibt und andererseits Terroranschläge in Russlands Großstädten verhindert. Vermutlich ist das der Grund, weshalb der Kreml diejenigen Silowiki im Zaum hält, die auch in Tschetschenien die Machtvertikale durchsetzen wollen.12Die Kehrseite davon, so kritisieren Beobachter, sei faktisch eine Carte blanche für das Kadyrow-Regime, an der russischen Verfassung vorbei Adat und Scharia zu etablieren. Wobei allen Rechtssystemen in Tschetschenien gemein ist, dass ihnen weitestgehend die Erzwingungsmacht fehlt: Es gilt somit häufig das Recht des Stärkeren oder reine Willkür.13
Zum Weiterlesen:
Cremer, Marit (2017): Angekommen und integriert? Bewältigungsstrategien im Migrationsprozess, Frankfurt am Main/New York
Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, S. 197-212
Cremer, Marit (2007): Fremdbestimmtes Leben: Eine biographische Studie über Frauen in Tschetschenien, Bielefeld
1.ausführlich dazu: Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, 197-212 ↑
2.Sarkisyanz, Emmanuel (1961): Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917: eine Ergänzung zur ostslawischen Geschichte Russlands, München, S. 114-140 ↑
Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig?
In Grosny und in Moskau folgten Tausende dem Aufruf von Tschetschenien-Chef Kadyrow und demonstrierten gegen die Verfolgung von Muslimen in Myanmar. Was hat die Situation in dem südostasiatischen Land mit dem russischen Nordkaukasus zu tun? Was will Kadyrow erreichen? Und welche innenpolitische Lehre sollte Moskau aus den Protesten ziehen? Eine Analyse des Nordkaukasus-Experten Sergei Markedonov.
Vermeintliche Drogenfunde bei Routinekontrollen, durch Folter erpresste Geständnisse und öffentliche Videos mit Schuldeingeständnissen – Ilja Roshdestwenski hat für Republic die ungewöhnlichen Methoden in Tschetscheniens Anti-Drogen-Kampf recherchiert.
Am 27. Februar 2015 wurde Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet. Bis heute bleiben viele Fragen offen. Die Novaya Gazeta legte ein Jahr nach der Ermordung einen detaillierten Bericht zu den Tätern und Hintergründen der Tat vor. (Archiv-Text)
Warum es keinen interessiert, wenn im Kaukasus ein Bus mit Menschenrechtlern und Journalisten überfallen und abgefackelt wird und warum es aber alle angeht, beschreibt Oleg Kaschin auf Slon.ru
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